Andreas Zenner

Heiße Tage - liebestolle Nächte


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in den Köpfen einiger unbelehrbarer Optimisten. Trotz meiner zwei Ehen weiß ich rein gar nichts über diese ungeheure Macht, die in unseren Herzen eine so tiefe Begierde zu wecken vermag. Wahrscheinlich, hatte ich mich noch nicht satt getrunken am goldenen Becher, gefüllt mit dem Nektar der Götter. Was sonst zum Teufel tat ich hier? Warum lief ich fast zwanghaft jedem Rock nach und sprang aus meinem Karton wie ein Schachtelteufel, sobald mir ein weibliches Wesen schöne Augen machte. War mir das Leben etwas schuldig geblieben, dass ich gedachte jetzt einzufordern? Ich ahnte, ich saß in derselben Mausefalle wie in meiner Jugend. Ein Hänfling im Käfig seiner Lust. Der einzige Unterschied, im Jahre 2012 fliege ich sehenden Auges in den Vogelbauer und ich zähle keine achtzehn Jahre mehr.

      Was machst du hier, du alter Tor, fuhr es mir durch den Kopf. Wie groß ist deine Chance diesem Traumengel zu begegnen und auf welches Hirngespinst gründet sich deine Hoffnung, außer auf eine flüchtige Fata Morgana deiner lüsternen Phantasie? Was wusste ich von ihr? Sie hatte ein paar freundliche Worte mit mir gewechselt, mehr nicht. Wie kam ich nur auf die absurde Idee, sie könnte etwas für mich empfinden, sie die Namenlose. Klammerte ich mich vielleicht an das erneute Auflodern eines längst verschüttet geglaubten Gefühls, von dem ich fürchtete, es unwiederbringlich verloren zu haben? War dieses Sehnen mit meiner Rolle als Großvater und Witwer vereinbar? War dieses Begehren meiner nicht unwürdig? Eine kaum zu tolerierende Alterstorheit, für die ich mich in meinem Herzen schämen sollte, kaum dass ich sie erdachte. Leidenschaft für eine blutjunge Frau schickt sich nicht im Herbst des Lebens. Ich bin nicht Charlie Chaplin oder Johann Wolfgang von Goethe, die sich über diese Skrupel hinwegsetzten. Ich sollte wie meine Altersgenossen Golf spielen und mich auf meinen Ruhestand vorbereiten, was für mich nichts anderes ist, als ein Sterben auf Raten. Ich seufzte. Mein Sehnen scherte sich einen Dreck darum, dass ich zweiundsechzig bin.

      Waren es die Straßen, die Ecken mit den vertrauten Namen meiner Jugend, die überraschend dieses schwärmerische Gefühl in mir weckten? Ich staunte, wie ich mit der Wucht einer Kanonenkugel um Jahrzehnte zurück katapultiert wurde.

      Versonnen hockte ich auf einer grünen Bank auf dem Elisabethplatz, den Kopf in die Hand gestützt.

      Um mich herum tobten ein paar Fünftklässler aus dem Giselagymnasium gegenüber. Sie genossen wohl eine nachmittägliche Freistunde. Die halbwüchsigen Mädchen jagten die Buben über den Platz, bewaffnet mit Plastikflaschen voller Wasser. War das ein Gejohle, wenn sie einen der Gejagten mit Wasser vollspritzen konnten. Außer Atem füllten sie ihre Flaschen am Rinnsal des Bärenbrunnens wieder auf. Seit meiner Kindheit balanciert hier ein steinerner Bär auf einer Kugel. Auf dem Sockel verwitterte Sinnsprüche. „Wasser macht die Augen hell“, konnte ich entziffern.

      „Die Realität sieht anders aus“, schimpfte ich mich laut. Betreten schlich ich durch die Georgenstraße zur U-Bahnstation unter dem rosafarbenen Schweinchenbau der Universität. Was wusste ich von ihr? Ich hatte nichts außer ein paar bierseligen Erinnerungen. Natürlich könnte ich in die Kneipe gehen, würde sie vielleicht dort treffen, nachts. Doch ich wagte es nicht. Was, wenn sie mich brüsk zurückwies? Ich wollte meinen Traum wie ein kümmerliches Fünkchen Glut am Leben halten. Dabei kannte ich nicht einmal ihren Vornamen, hatte nichts woran ich meine Gefühle festzurren konnte, außer dem heißen Kribbeln in meinem Bauch, das ich aus meiner Jugend kannte und das ich einer flüchtigen Romanze zuordnen konnte. So blieb mir nichts als eine allmählich verblassende Erinnerung an einen Abend in einer Bar mit ein paar Bierchen zu viel.

      Zu allem Überfluss raunte in meinem Hinterkopf unablässig die heimlich mahnende Stimme, die mich aufforderte meine eisernen Regeln einzuhalten.

      Doch nichts ist schwerer als eine liebgewordene Fantasie zu begraben.

      ...und Finden

      Meine Hoffnung die Kindfrau im Gewirr der Straßen und Häuser Schwabings wiederzufinden wurde von Tag zu Tag geringer. Trotzdem konnte ich nicht aufhören nach ihr zu suchen. Die Gründe hierfür waren mir ebenso unklar wie meine widerstreitenden Gefühle. Für ein schnelles, folgenloses Abenteuer war der Aufwand, den ich betrieb schon viel zu groß. Dass mehr dahinterstecken könnte, wollte ich mir nicht eingestehen. Vielleicht eine Art Torschlusspanik. Soll es ja auch bei Männern geben. Wie oft würde es sich noch zutragen, dass ich mich von einer Frau derart angezogen fühlte? Nichts ist schwerer als sich von unerfüllten Träumen zu verabschieden.

      Tagelang streifte ich durch Schwabing, gleich einem Elefanten in der afrikanischen Savanne auf der Suche nach dem lebensspendenden Wasser. Ich klapperte die Orte ab, an denen ich sie zu finden hoffte. Umsonst. Die Begegnung mit den Plätzen und den Gefühlen, die ich aus Kindheit und Jugend kannte wurde so ungewollt zu einer Reise in meine eigene Vergangenheit. Einer Reise zu all den Schmerzen meines erwachenden Lebens und all den Freuden. Längst im unergründlichen See der Zeit versunkene Erlebnisse wallten mit der Macht düsterer Wasser auf, mit einer Wucht die ich nicht erwartet hatte. Wie nah, wie farbig und wie bitter meine Jugend nach und nach aus dem Staub der Gassen auferstand. Längst verloren geglaubte Erinnerungen bahnten sich ihren Weg durch das Gestrüpp des Vergessens. War es wirklich die Suche nach dem Mädchen oder trieb mich lediglich ein sentimentales Gefühl zurück in meine Kindheit? Zu all den verpassten Möglichkeiten, den leichtfertig verschenkten Gelegenheiten. Doch wo begannen die Erinnerungen und wo endeten sie? Auf die Abfolge meiner Gedanken hatte ich keinen Einfluss. Sie machten sich an Kleinigkeiten fest, an einer Straßenecke, einem verwaschenen Namen oder einem aufgelassenen Geschäft.

      Wieder spürte ich das verschämte Ahnen meiner ersten Liebe mit sechzehn. Grämte mich aufs Neue wegen lächerlicher Verfehlungen, weinte innerlich bittere Tränen, wenn ich an meine Schulzeit im Gymnasium dachte. Was hatte mich unser Englisch- und Französischlehrer drangsaliert. Er hasste mich und er ließ es mich spüren, damals in der neunten Klasse. Zu Schuljahresbeginn marschierte er durch die Tür und bellte, kaum hatte er mich erkannt, durch den Raum: „Na, hab ich dich wieder. Diesmal erwische ich dich.“ Und genau so kam es. Ich zitterte schon, wenn er im Stechschritt durch die Türe marschierte. Nackte Angst machte sich in meinem Leben breit. Kein Wunder, dass meine Leistungen in den Keller sackten.

      Noch heute rinnt mir ein eiskalter Schauer über den Rücken, wenn ich an meine Selbstmorddrohung denke. Daran, wie ich mich hoch oben im vierten Stock außen an das Balkongeländer klammerte, unter mir in schwindelnder Tiefe der Betonboden und alles nur wegen eines Streites um ein Schälchen Heidelbeeren. Meine Großmutter schaffte diesen Aussetzer beherzt mit einer Ohrfeige aus der Welt.

      „Damit löst du kein Problem“, schrie sie mich an. Reumütig kletterte ich zurück. Jede Verletzung, jede erlittene Bosheit, heute noch so schmerzlich spürbar wie einst und immer noch so peinigend, als wäre eine alte schwärende Wunde erneut aufgebrochen und sonderte stinkenden Eiter in mein Herz ab.

      Ich strich um die Häuser, wie vor vierzig Jahren, damals schon auf der Suche nach einem Rock wie heute, immer mit einem schlechten Gewissen und stets auf dem Sprung davonzuflitzen. Schon als Kind, kaum schulpflichtig schlich ich durch die Neureuther Straße, zur Wohnung der unerreichbar Angebeteten, nur um einen Blick von ihr zu erhaschen. Was hatte ich sie im Ferienlager angehimmelt. Für sie schnitzte ich Rindenschiffchen mit versteckten Botschaften, die ich ihr heimlich in den Koffer schmuggelte. Heute erinnere ich mir nicht einmal mehr an ihren Namen, wohl aber an das mit dieser Liebe verbundene Gefühl. Auch als Kind kann man sich verlieben, tiefer sogar und reiner als in all den Liebschaften meines späteren Lebens.

      Die Intensität der plötzlich hervorquellenden Emotionen überrollte mich, machte mich wehrlos. Ich hatte mich bemüht all die Sehnsüchte, die peinlichen Momente, die Scham sorgsam im dunkelsten Winkel meines Herzens unter einer dicken Schicht schwarzer Erde zu vergraben. Doch ein Herz vergisst nicht. Auf meinen ziellosen Streifzügen erkannte ich, wie mächtig all die gewaltsam verdrängten oder vergessenen Gefühle noch immer waren. Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen, oder vor Trauer heulen sollte. Die Tränen weinen, die ich mir vor vierzig Jahren verkniffen hatte und die noch immer wie eine verklemmte Gräte in meiner Kehle feststeckten, nur darauf warteten mich zum Würgen zu bringen. Hätten die späten Tränen meinen Schmerz, meine Trauer gelindert? Ich gestand mir diese Schwäche nicht zu.

      An einem wolkenlosen Nachmittag, nach einer