Volker Schmitz

MITTELSCHICHT FÜR ALLE


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Währungsfonds, der OECD und der EU eines Besseren belehren lassen.

      Hayek, gestorben 1992, hat den beginnenden Siegeszug des Neoliberalismus gerade noch miterlebt. Dessen Vertrauenskrise nicht mehr. 2008 brach die US-Bank Lehman Brothers zusammen, der symbolische Startschuss für die weltweite Finanzkrise. Bald darauf folgte die Eurokrise, Griechenland hing jahrelang am Tropf der westlichen Geldgeber. 2013 veröffentlichte der französische Ökonom Thomas Piketty sein Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ und brachte die seit Jahren steigende Einkommensungleichheit auf die politische Agenda.

      Über dreißig Jahre hatte der Neoliberalismus seine historische Chance. Doch die Erwartungen der westlichen Mittelschicht hat er nicht erfüllt. Nach Jahrzehnten mit Deregulierung, Privatisierung und Sozialstaatsabbau wissen wir es besser. Die Kosten der Finanzkrise bezahlte die Mittelschicht mit Arbeitsplatzabbau, Zinsverlusten und ihren Steuergeldern. Privatisierungen ehemals öffentlicher Leistungen führten nicht immer zu niedrigeren Preisen und besserem Service, sondern oft zum Gegenteil. Dafür fast immer zu guten Gewinnen für die Investoren. Die Drosselung des sozialen Wohnungsbaus in vielen europäischen Städten ist ein warnendes Beispiel. Den Umbau der Wohlfahrtsstaaten zu „aktivierenden Sozialstaaten“ betrachten viele Betroffene nicht als einen Gewinn an Menschenwürde und Teilhabe, sondern als unwürdige Gängelung und Überwachung durch Jobcenter und kleinteilige Vorschriften.

      Vom Neoliberalismus profitiert haben vor allem die Bevölkerungskreise, die über sehr gute Ausbildungen verfügen, Vermögen besitzen und in den richtigen Branchen beschäftigt sind. Der Oxford-Professor Jan Zielonka, ein überzeugter Liberaler, kommt zu dem Schluss: „Im Liberalismus sagen Minderheiten – professionelle Politiker, Journalisten, Banker und Jetset-Experten – Mehrheiten, was das Beste für sie ist.“9 Der Neoliberalismus hat sich als Elitenprojekt herausgestellt. Für weite Teile der westlichen Mittelschicht hat er seine Versprechungen nicht gehalten. Sie wurden wirtschaftlich abgehängt, die Ungleichheit ist massiv gestiegen. „Es gibt keine ernst zu nehmende Chance für Gleichheit ohne von der neoliberalen Wirtschaft Abstand zu nehmen“10, so Zielonka.

      Gesteigert wurde die Wirkungsmacht des Neoliberalismus durch die Globalisierung. Sie hat die soziale Schieflage in den westlichen Ländern weiter verschärft. Als 1991 die Sowjetunion zerfiel und mit ihr die zentrale planwirtschaftliche Gegenmacht des Westens, trat der Neoliberalismus seinen globalen Siegeszug an. Die gesamte Weltwirtschaft wurde zum Experimentierfeld. Das Ziel: die Marktwirtschaft international verbreiten und die ganze Welt in einen freien Markt verwandeln. Zunächst halfen neoliberale westliche Ökonomen in den zersplitterten Resten der ehemaligen Sowjetunion, ganze Volkswirtschaften nach ihren marktwirtschaftlichen Lehrbuchmeinungen umzugestalten. Ohne ausreichende Vorbereitung und ohne viel Rücksicht auf deren historische, kulturelle und soziale Besonderheiten. Um die Globalisierung voranzubringen, gründete man 1995 die Welthandelsorganisation, der inzwischen 164 Länder angehören.11 2001 folgte der entscheidende Durchbruch, China wurde in das Welthandelssystem aufgenommen.

      Um den westlichen Bevölkerungen die Sorgen vor dem internationalen Wettbewerb zu nehmen, wurde überall der Schlachtruf der Freihändler propagiert: Internationaler Handel nützt allen. „Keine Angst vor der Globalisierung“ lautete der Titel eines Buchs von Christa Müller und Oskar Lafontaine, dem früheren deutschen Finanzminister. Sie glaubten nicht, dass eine Milliarde Chinesen nur darauf warteten, den deutschen Beschäftigten die Arbeit wegzunehmen.12

      Heute wissen wir mehr. Die Globalisierung hat in den asiatischen und südamerikanischen Ländern Hunderte Millionen von Menschen aus der Armut gehoben und eine neue Mittelschicht geschaffen. Der US-Konzern Apple stellte 2007 sein Smartphone vor. Zehn Jahr später beschäftigte er mehr als 120.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sein asiatischer Zulieferer Foxconn über eine Million. Eine ungezählte Masse westlicher Arbeitsplätze ist im Tausch gegen preiswerte Flatscreens, Laptops und Mobiltelefone nach Asien verschwunden. Die Globalisierung hat nicht nur neue, gut bezahlte Arbeit im Westen geschaffen, sondern auch Millionen von Beschäftigten in den westlichen Industrieländern die Jobs gekostet, Einkommen stagnieren lassen und Abstiegsängste geschürt.13 Doch die Befürworter des freien Welthandels wollen noch mehr Globalisierung. Sie argumentieren, dass die Globalisierung einfach noch nicht weit genug gegangen sei. „In Wirklichkeit ist die Globalisierung nicht Schuld“, behauptet die Ökonomin Dambisa Moyo. „Die Politik hat sich mit einer Globalisierung-Lite zufrieden gegeben, statt voller Globalisierung die echte Chance zu geben „alle Boote zu heben“. Globalisierung macht Märkte effizienter, steigert den Wettbewerb und verteilt den Wohlstand gleichmäßiger über die Welt. Das ist das Versprechen der vollen Globalisierung.“14 Doch für die Millionen westlicher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die durch die Globalisierung ihre Arbeitsplätze verloren haben, ist es kein Trost, dass der Wohlstand gleichmäßiger über die Welt verteilt wurde. Sie werden dem Versprechen einer noch weitergehenden Globalisierung keinen Glauben mehr schenken.

      Nach Jahrzehnten von Neoliberalismus und Globalisierung herrscht innerhalb der westlichen Bevölkerung Zukunftsskepsis. Unter der neoliberalen Ägide ist das wirtschaftliche Wachstum im Westen verkümmert. Während nach dem Zweiten Weltkrieg jährliche Wachstumsraten und Einkommenssteigerungen von fünf bis sechs Prozent als selbstverständlich erschienen, ist das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in der Eurozone in den vergangenen zehn Jahren auf weniger als ein Prozent geschrumpft. Der Massenkonsum hat seine schädliche Kehrseite, die Umweltverschmutzung, gezeigt. Irreversible Klimaschäden sind die Folge. Doch die Staaten der Welt, die sie global verschmutzt haben, können sich nicht auf eine tragfähige Lösung einigen, um sie global zu bekämpfen, noch nicht einmal die bisherigen Vereinbarungen einhalten. Nach 1991 schoss die Zahl der demokratischen Staaten in der Welt nach oben. Seit zwölf Jahren befindet sich die Demokratie nach Untersuchungen der US-Organisation Freedom House weltweit im Rückwärtsgang.15 Viele Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, und nicht nur sie, haben sich von der Demokratie wieder abgewandt. Der ehemals solide westliche Block zeigt zunehmende Risse. Die Migrationsfrage spaltet Europa. Der Brexit trennt Großbritannien vom Kontinent. Der amerikanische Schutzschild für Europa wird zweifelhafter, obwohl seine Notwendigkeit gerade wieder steigt. Die Globalisierung ist umstritten. Waren es bis vor kurzem noch engagierte Bürgerinnen und Bürger, die in Europa gegen das geplante transatlantische Handelsabkommen TTIP auf die Straße gingen, ist jetzt die US-Regierung selbst nicht mehr daran interessiert, hält das globale Handelssystem für unfair gegenüber den USA. Gleichzeitig wird die wirtschaftliche und politische Macht Asiens in der Welt immer spürbarer. China verteidigt selbstbewusst seine wirtschaftlichen und politischen Interessen, geopolitisch verschieben sich die Gewichte von West nach Ost. Wer hätte 1991 vorausgesagt, dass im Jahr 2017 ein chinesischer Staatspräsident von den westlichen Topmanagern beim Weltwirtschaftstreffen in Davos dankbar beklatscht wird, weil er sich, anders als die USA, für den Welthandel stark macht? Kein Wunder, dass im Westen der Fortschrittsglaube der Nachkriegszeit verflogen ist.

      Der technokratische Mainstream aus Wirtschaft und Politik, vor 30 Jahren mit großen Versprechungen gestartet, befindet sich in der Krise. Nicht mehr in der wirtschaftlichen, sondern in der Legitimationskrise. Neoliberalismus und Globalisierung haben sich nicht als nutzlos erwiesen, im Westen jedoch vorrangig als Elitenprojekt. Sie haben die westlichen Gesellschaften gespalten, wirtschaftlich, sozial und politisch. Nie war die Einkommensungleichheit seit dem Zweiten Weltkrieg so extrem, nie die Unterschiede zwischen Stadt und Land, nie die politische Landschaft. Die wirtschaftlichen und politischen Eliten befinden sich nicht nur in der Defensive, sie verfügen auch über keine Vision, diese Krise durch ein großes gesellschaftliches Projekt für die Zukunft zu überwinden. Die alten Geschichten haben ausgedient, eine neue ist noch nicht entstanden.

      Mit Digitalisierung zum exponentiellen Neoliberalismus

      Auf diese schwierige wirtschaftliche und politische Konstellation trifft jetzt mit zunehmender Wucht die Digitalisierung. Nach einem langsamen Start über Großrechner, Personal Computer und Internet durchdringt sie nun Wirtschaft und Gesellschaft immer schneller. Mobiltelefone, weltumspannende soziale Netzwerke, Handelsplattformen, Roboter und künstliche Intelligenz schälen sich nicht nur als technologische, sondern auch als gesellschaftliche Revolution heraus. Vorangetrieben von marktbeherrschenden IT-Unternehmen schaffen