Zeithorizont, sondern ist in fünf Phasen unterteilt. Für Deutschland wird die Rechnung konkreter. Ein Zahlenbeispiel am Ende des Kapitels zeigt die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen, die das Zusammenspiel von digitalem Wachstum und dem Verschwinden der Arbeit in Deutschland herbeiführen kann.
Phase 1: Die Vorboten des Umbruchs
Zunächst scheint alles so weiterzugehen wie bisher. In den meisten europäischen Industrieländern mit liberaler Demokratie und Marktwirtschaft dominiert der technokratische Mainstream. Von Existenzkrise keine Spur, dafür deutliche Zeichen einer Orientierungs- und Legitimationskrise. Sein Wirtschaftswachstum: umstritten. Seine Verteilungsgerechtigkeit: unbefriedigend. Sein Umweltschutz: mangelhaft. Seine Demokratie: nicht mehr selbstverständlich. Immer offensichtlicher werden die seit langem prognostizierten weltwirtschaftlichen und geopolitischen Gewichtsverlagerungen am Beispiel Chinas, das seine ökonomische Bedeutung inzwischen auch politisch geltend macht. Außer der Einsicht, dass die, vom Westen für gut befundenen, Zeiten der europäischen Hegemonie unwiderruflich vorbei sind, zeichnet sich für die Stellung Europas innerhalb einer zukünftigen Weltgesellschaft keine zukunftsorientierte Strategie ab.
Für die kommenden Jahrzehnte, die nächsten Generationen haben die wirtschaftlichen und politischen Eliten keine Vision. Anstatt strategische Ziele zu entwickeln und zu verfolgen, dominiert „Muddling Through“ das wirtschaftliche und politische Tagesgeschäft. Den Denkhorizont bestimmt der nächste Jahresbericht, die kommende Wahl, ein aufflammender politischer Krisenherd. Als Benchmark dienen quantitative Kurzfristziele, man vergleicht sich mit Vorperioden, Nachbarländern und dem Durchschnitt der EU oder OECD. Konjunktur zählt mehr als Struktur, das schnelle Zehntelprozent Bruttosozialprodukt mehr als eine langfristige Weichenstellung. Die ökonomische und politische Ereignisdichte lässt den Akteuren kaum noch Zeit zum Atemholen. Die Gegenwart der westlichen Mittelschicht steht so sehr im Vordergrund, dass wenig Raum bleibt systematisch ihre Zukunft zu sichern. Diese Aufgabe wird bestenfalls an Kommissionen zur Begutachtung delegiert.
Dem Tempo der Digitalisierung tut dieses Kurzfristdenken keinen Abbruch. Sie breitet sich unaufhaltsam in allen wirtschaftlichen, öffentlichen und privaten Bereichen aus. Und zwar in ihrer gesamten Bandbreite, die zusätzlich Biotechnologie, Nanotechnologie und Umwelttechnik mit all ihren Untergruppen und Querverbindungen umfasst. Das erhöht die Produktivität, beschleunigt das Wirtschaftswachstum, bringt innovative Produkte auf den Markt und verbessert bestehende technische Verfahren. Und schafft neue Arbeitsplätze um den Preis vieler alter. Diese Entwicklung verstärkt einen Trend, der schon seit Jahrzehnten kritisch beobachtet wird: das Absinken des „labour shares“, des Anteils der Löhne und Gehälter am Sozialprodukt. Unaufhaltsam zeigt seine Entwicklung nach unten. Im Gegenzug steigen die Gewinne der Unternehmen, die Börsenhöchststände eilen von Rekord zu Rekord, die Ungleichheit der Einkommensverteilung ebenfalls.
Innerhalb des Westens tobt der Verteilungskampf. Die Globalisierung, die noch etwas Wachstum und Einkommensverbesserungen für die Spitzenverdiener versprach und Stagnation und Arbeitsplatzverluste für die Mittelschicht, wird rückabgewickelt – angeführt von den USA. Europa versucht sich zu wehren und schmiedet neue Handelsallianzen. Viele Arbeitslose in Europa finden keine neue Beschäftigung mehr. Einige Regierungen suchen einen Kompromiss zwischen Innovation und dem Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, indem sie den Arbeitsmarkt mit Transformationsgarantien regulieren, die den Kündigungsschutz bei Einsatz von Robotern und künstlicher Intelligenz verlängern. Eine von Wissenschaft und NGOs angeregte internationale Einigung über die Steuerung und Kontrolle der Digitalisierung bleibt unrealisiert. Die Politik hat zwar keine Strategie, um die sozialen Konsequenzen der Digitalisierung abzudämpfen, dafür aber ihr wirtschaftliches und militärisches Potenzial komplett in den internationalen Wettbewerb integriert. Die Digitalisierung soll nicht nur den Menschen nützen, sondern auch der Macht der Staaten. Es ist von Aufholjagd, Konvergenz, Überholen oder Zurückfallen die Rede.
Doch die steigenden Arbeitslosenzahlen, die wirtschaftliche Ungleichheit und die Umweltbelastung haben ihren Preis: Unruhe und Kritik innerhalb der europäischen Bevölkerung. Sie glaubt nicht mehr an den herrschenden technokratischen Mainstream, der sich weiterhin am Status quo orientiert, und sucht nach neuer Orientierung.
Phase 2: Der Kampf um einen neuen Gesellschaftsvertrag
So entfaltet sich abseits des Status quo die gesellschaftliche und politische Dynamik. Immer mehr Menschen in Europa sorgen sich um die Umwelt und die Zukunft ihrer Kinder, auch wenn es ihnen im globalen Vergleich materiell noch gut geht. Viele engagieren sich für einen „neuen Gesellschaftsvertrag“: die alternative Wirtschaft, in der Umwelt und Lebensqualität an erster Stelle stehen. Sie verspricht eine breitere Verteilung von Arbeit mit mehr Freizeit für die Erwerbstätigen und geringeren Einkommensunterschieden. Ihr Ziel ist ein entschleunigtes Wirtschaftswachstum. Produzenten und Konsumenten werden in ihrer Freiheit eingeschränkt, das betrifft insbesondere die Biotechnologie-Branche, die stärker nach ethischen Kriterien reguliert werden soll. Ohne Eingriffe in die Marktwirtschaft ist diese Vision schwer zu verwirklichen. Dafür ist aber die Entkoppelung der Sozialsysteme vom Arbeitsmarkt kein Tabu mehr. In der alternativen Wirtschaft stagniert die Mittelschicht, bleibt aber intakt.
Völlig anders sieht die Zukunft in den Augen der Digitalisierungseliten aus, einer neuen gesellschaftlichen Gruppe, die sich in Europa und der restlichen Welt in den vergangenen Jahren herausgebildet hat. Zu ihr zählen in diesem Szenario nicht nur die Topführungskräfte aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, sondern eine breitere Oberschicht von Menschen mit einer hohen technisch-wissenschaftlichen Qualifikation, einem hohem Einkommen, großem Finanzvermögen und erheblichem gesellschaftlichen Einfluss. Dazu gehört ebenfalls die gut verdienende Gruppe von Dienstleistenden, die für sie und die Wirtschaft unentbehrlich sind. Diese Elite umfasst alle Gewinner und Gewinnerinnen der Digitalisierung. Mit starkem Engagement in der öffentlichen Debatte versucht sie der öffentlichen Kritik zu begegnen, die der schnelle technologische Wandel hervorruft. Dabei treten ebenfalls Eckdaten für einen möglichen neuen Gesellschaftsvertrag zu Tage. Das Gegenangebot der technologisch-wirtschaftlichen Eliten an die gefährdete Mittelschicht lautet in etwa folgendermaßen: Die digitale Wirtschaft und Wissenschaft darf frei investieren und forschen, um die Innovation in allen Bereichen voranzutreiben. Damit sorgt sie für Wachstum, Umweltschutz, bessere Gesundheit und längeres Leben. Dass die Mittelschicht an allem beteiligt wird, kann nicht garantiert werden, da die Arbeitsleistung, mit der diese bisher ihr Geld verdient hat, immer weniger benötigt wird. Zum Ausgleich gibt es das bedingungslose Grundeinkommen, das den Sozialstaat revolutionieren soll – weg von der differenzierten Leistungsvielfalt hin zu einer Leistung für alle und alles: Sozialhilfe, Arbeitslosenunterstützung, Einheitsrente inklusive medizinischer Grundversorgung in einem. So ausgestattet kann die für Produktion und Dienstleistung nicht mehr benötigte europäische Bevölkerung zumindest begrenzt an der Fülle der neuen Produkte teilhaben. Und, um etwas hinzuzuverdienen, auch ihre Arbeitskraft auf einem noch freieren und effizienteren Arbeitsmarkt ohne Mindestlöhne anbieten. Ein Anspruch auf Arbeit, der rechtlich noch nie bestand, ist ebenso wenig angedacht wie eine Verpflichtung etwas zu tun.
Der Diskussionspegel innerhalb der Gesellschaft steigt. Einige Gruppen aus der Mittelschicht sehen mit dem Angebot der Digitalisierungseliten ihre Hoffnung auf ein Grundeinkommen steigen, das sie seit langem fordern. So entsteht eine ungewöhnliche Koalition aus politisch linken Gruppierungen, utopischen sozialreformerischen Kreisen, Menschen, die Sozialhilfe beziehen, Studierenden, freiberuflich Tätigen, Älteren mit Niedrigrenten, Teilzeitbeschäftigten sowie von Abstiegsangst verunsicherten Teilen der Mittelschicht. Sie alle befürworten das Grundeinkommen, allerdings bei reguliertem Arbeitsmarkt, in dem weiterhin Mindestlöhne gezahlt werden. Große Teile der Gewerkschaften und Parteien aus dem mittleren politischen Spektrum lehnen das Grundeinkommen dagegen vehement ab, gerade weil es die Arbeitsorientierung als Basis der Gesellschaft in Frage stellt. Ebenso viele ältere Beschäftigte kurz vor dem Ausscheiden aus dem Berufsleben, die ihre Anstellungsverträge durch Transformationsgarantien erhalten konnten.
Der gesellschaftliche Diskurs spitzt sich zu. Gegnerinnen und Gegner der alternativen Wirtschaft machen mobil und starten eine Kommunikationsoffensive gegen das alternative Modell. Ihre Argumentation: Die Digitalisierung macht auch vor der alternativen