Volker Schmitz

MITTELSCHICHT FÜR ALLE


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Produktivitätswachstum mit der Weltwirtschaft nicht mithält, verschlechtert sich die internationale Wettbewerbsposition. Das Kapital wird seinen Preis für die Automatisierung fordern, die wirtschaftliche Ungleichheit auch im alternativen Modell steigen oder die Investitionen zurückgehen. Eine ethische Regulierung der Innovation ohne globale Übereinkünfte schneidet inländische Hersteller und Verbraucher von wichtigen technologischen Entwicklungen ab. Im globalen Vergleich fallen die Kompetenzen zurück, die Stellung im Welthandel verschlechtert sich weiter. Importe können schließlich nur noch bezahlt werden, indem man Kredit im Ausland aufnimmt. Irgendwann werden die internationalen Finanzmärkte unruhig. Die Einfuhr zu finanzieren und Kredite zurückzuzahlen lässt sich nur noch bewerkstelligen, indem man Vermögenssubstanz verkauft: Immobilien, Bodenschätze, Unternehmen und Infrastruktur gehen in ausländische Hände über. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik wird von den globalen wirtschaftlichen Notwendigkeiten diktiert, nicht mehr von den Vorstellungen der alternativen Gesellschaft. Die Erinnerung an das „griechische Schicksal“ macht die Runde.

      Die Befürworter des alternativen Modells halten dagegen. Sie plädieren zwar für eine offene Gesellschaft, wollen die alternative Wirtschaft jedoch dem direkten Druck der Weltmärkte entziehen, indem sie den Außenhandel regulieren. Das führt aus ihrer Sicht nicht zu wirtschaftlichen Nachteilen, weil materielles Wirtschaftswachstum nicht gewollt ist. Als Vorteile führen sie neben dem Umweltschutz einen stärkeren sozialen Zusammenhalt und eine geringere wirtschaftliche Ungleichheit an.

      Viele Bürgerinnen und Bürger sind skeptisch und wägen ab. Im globalen Kontext ist eine alternative Nischenwirtschaft immer eine Wette auf die Zukunft der restlichen Welt. Wenn diese durch Digitalisierung und Innovation immer schneller wächst und ihrer Bevölkerung neue, attraktive Lebensformen, Produkte und Dienstleistungen bietet, steigt ihr weltpolitisches Gewicht – und vielleicht auch ihre Attraktivität für nachwachsende Generationen aus der alternativen Wirtschaft. Gleichzeitig ist nicht völlig auszuschließen, dass der digitale Kapitalismus eines Tages in eine finale Krise stürzt, verursacht durch überzogenes Wachstum, ausufernde soziale Ungleichheit und unkontrollierte Innovation. Dann könnte die alternative Wirtschaft zum globalen Vorbild werden. Vorausgesetzt, die weltweite wirtschaftliche Expansion hat zu diesem Zeitpunkt nicht bereits die globale Umwelt und Sicherheit so nachhaltig geschädigt, dass es auch für alternative Gesellschaften keine geschützten Rückzugsorte mehr gibt. Viele befürchten, dass ohne einen globalen Konsens die europäische Mittelschicht in einer alternativen Wirtschaft vom Rest der Welt abhängig wird. Allerdings hat auch das Modell der Digitalisierungseliten seine Nachteile. Auf immer neue Höhen treibt es den Wettstreit um globale Konkurrenzfähigkeit. Und während die europäische Elite um ihren Platz in der Welt kämpft, verliert die Mittelschicht ihre soziale Stellung. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheit verschärft sich massiv. Dafür locken das Angebot des bedingungslosen Grundeinkommens und die Befreiung von der Pflicht, monotone, sinnentleerte und menschenunwürdige Tätigkeiten ausüben zu müssen.

      Phase 3: Die Arbeit wird verteilt

      Die Diskussionen dauern an, die Langzeitarbeitslosigkeit steigt weiter. Einige Staaten beschränken die offizielle wöchentliche Höchstarbeitszeit, um die Arbeit breiter zu verteilen. Je mehr die Arbeitszeit begrenzt wird, desto stärker werden die gesellschaftlichen Kontroversen. Im Niedriglohnbereich erreichen viele Gehälter trotz erhöhter Stundenlöhne kaum das Sozialhilfeniveau. Die Gruppe mit mittleren Einkommen beschwert sich über finanzielle Einbußen, Spitzenkräfte mit Topeinkommen wollen ihre Verdienstchancen nicht opfern. Sie verweisen darauf, dass gesellschaftlich wichtige Aufgaben unerledigt bleiben, weil es nicht ausreichend hochqualifiziertes Personal für die Arbeit gibt, die sie früher mit ihren 50-Stundenwochen abgearbeitet haben. Unternehmen klagen über Arbeitskräftemangel bei Spezialkräften, über Lohnsteigerungen und ihre sinkende internationale Wettbewerbsposition. Alle Angestellten bemängeln die soziale Ungerechtigkeit gegenüber den Selbstständigen, die ihre Berufe zeitlich unbeschränkt ausüben dürfen. Sukzessive wird die Arbeitszeitregulierung von Ausnahmen durchlöchert, am Ende meist aufgegeben. Die Einkommen werden immer ungleicher verteilt. Was nicht in die Unternehmensgewinne fließt, sammelt sich mehr und mehr bei den Erwerbstätigen mit Topeinkommen.

      Die Umweltbelastung hat inzwischen katastrophale Ausmaße erreicht: Die globale Erwärmung führt regional zu langen Trockenperioden, Wüsten breiten sich aus, der Meeresspiegel steigt und überschwemmt küstennahe Wohn- und Wirtschaftsgebiete. Die westlichen Industrieländer können diese Konsequenzen ohne allzu große wirtschaftliche Belastung auffangen. Wenn technische Sicherungsmaßnahmen nicht helfen, werden die betroffenen Bevölkerungsteile umgesiedelt. In Folge dieser Belastungen steigt die internationale Migration, regionale Konflikte in und zwischen den besonders betroffenen ärmeren Staaten nehmen zu. Dies löst weitere Migrationswellen aus. Die europäischen Sozialstaaten stehen vor einem Dilemma. Ihre humanitäre Hilfsbereitschaft kollidiert mit der Erfahrung, dass ihre gesellschaftlichen Systeme größere Einwanderungswellen nur schwer verarbeiten können. Die Sozialetats sind ohnehin schon extrem belastet. Europa versucht, diesen Konflikt durch verstärkte wirtschaftliche und technische Unterstützung vor Ort zu mildern. Es finanziert Sicherungs- und Umsiedlungsmaßnahmen sowie die Aufnahmebereitschaft von Nachbarstaaten aus betroffenen Regionen. Andere wirtschaftlich erfolgreiche Staaten reagieren ähnlich. Die Migration bleibt vor allem ein Problem der ärmeren Weltregionen.

      Doch auch die Industrienationen spüren die Folgen dieser Entwicklungen. Die Umweltzerstörung, die Natur, Gesellschaften und Politik destabilisiert, kommt so nahe wie nie zuvor. Was zunächst die vorausschauende Warnung einer Avantgarde war, dann zur weitverbreiteten Sorge wurde, ist nun in die kollektive Angst umgeschlagen, dass es zu spät sein könnte. Umweltschädliche Produktionsverfahren und Produkte werden gesetzlich weiter eingeschränkt, verteuert und besteuert, ein Umgehen der Gesetze scharf sanktioniert – mit dem Ergebnis weiterer Arbeitsplatzverluste. Als Ausgleich werden zum wiederholten Mal staatlich geförderte umweltschutzorientierte Forschungs- und Investitionsoffensiven gestartet. Sie sollen Innovationen fördern und die Wirtschaft noch mehr auf alternative Energien und digitale Produkte ausrichten, die nicht die Umwelt belasten.

      Phase 4: Letzter Ausweg Grundeinkommen

      Inzwischen durchziehen Digitalisierung und Innovation auch die letzten gesellschaftlichen Bereiche. Die Arbeitslosenquote wächst ungebremst. Viele europäische Länder haben bereits ihre Einkommenssteuersätze und die Mehrwertsteuer erhöht, um die steigenden Sozialausgaben zu finanzieren. Immer größere gesellschaftliche Gruppen sind mit der herrschenden Politik unzufrieden: die Eliten mit den gestiegenen Steuern, die wirtschaftlich absteigende Mittelschicht mit dem mangelnden Schutz ihrer Arbeitsplätze, die Arbeitslosen mit dem alten Sozialstaat, der sie zwingt eine Arbeit zu suchen, die es nicht mehr gibt. Die umweltbewussten Befürworter einer alternativen Wirtschaft mit der staatlichen Wachstumsorientierung, der mangelnden sozialen Kontrolle der Innovation und der fortschreitenden Umweltzerstörung. Die Bevölkerung ist innovationsmüde. Politische Bewegungen mit unterschiedlichsten Zielen gewinnen weiter an Zulauf. Die Reste der alten, liberal-demokratisch orientierten Volksparteien, die sich inzwischen mehrfach neu gruppiert haben, geraten politisch immer weiter unter Druck. In dieser Situation öffnen sich viele europäische Staaten für sozialpolitische Innovationen. Sie unterstützen die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, einst aus demografischen Gründen eingeführt, wird rückgängig gemacht. Damit die jüngere Generation mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt bekommt und ihr Potenzial für die weitere Digitalisierung und Innovation nutzen kann. Die immer mühsamer aufrechterhaltene Fiktion einer auf Massenarbeit basierenden Gesellschaft wird offiziell aufgegeben. Bildung wird zur zentralen Zukunftsinvestition, alle Bürgerinnen und Bürger erhalten eine lebenslange staatliche Förderung für Bildungszwecke. Als Konzession an die alle gesellschaftlichen Schichten durchziehende Innovationskritik beschließen manche Regierungen, Forschung und Produkteinführungen, vor allem im Bereich der Biotechnologie, speziell das menschliche Enhancement, schärfer öffentlich zu regulieren. Versuche, dies auch auf globaler Ebene durchzusetzen, scheitern am Widerstand einiger in Forschung und Entwicklung weit fortgeschrittener Staaten.

      Die neuen sozialen Maßnahmen lassen die gesellschaftlichen Spannungen in Europa abflauen. Arbeitslose profitieren von einem etwas