Volker Schmitz

MITTELSCHICHT FÜR ALLE


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ausscheiden. Minirenten werden durch das Grundeinkommen aufgebessert. Ein alternativer Lebensstil breitet sich, unterstützt vom Grundeinkommen, innerhalb der Gesellschaft aus. Zwar kann er die globale Umweltbelastung nicht verhindern, aber entlasten. Biotechnische Eingriffe ins menschliche Leben werden national beschränkt. Ein freiwilliger Wechsel aus dem Arbeitsleben ins Grundeinkommen ist, außer bei Älteren, selten. Arbeit ist inzwischen zum Privileg geworden, das man nicht leichtfertig aufgibt. Dadurch fällt die Steuerbelastung für die höchsten Einkommensgruppen, die die Hauptlast der Grundeinkommensfinanzierung tragen müssen, zunächst nicht so groß aus wie befürchtet. Beschäftigte und Arbeitslose drängen in die staatlich geförderten Bildungsangebote in der Hoffnung, ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.

      Doch nach einiger Zeit erkennen viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dass ihre Hoffnungen unbegründet waren, Weiterbildung ihnen beruflich wenig nützt. Trotz Bildung verlieren sie ihre qualifizierte Arbeit an Roboter und künstliche Intelligenz im In- und Ausland. Die Zahl der Menschen, die fast ausschließlich vom Grundeinkommen leben müssen, steigt immer weiter. Zusätzliche Arbeit ist schwer zu finden und, wenn doch, nur schlecht bezahlt. Der Bildungswille lässt nach, insbesondere bei Kindern aus Grundeinkommensfamilien. Viele von ihnen sind überzeugt ohnehin keine Aufstiegschancen zu haben. Die ehemalige Mittelschicht wird wirtschaftlich immer weiter von den weltweiten Digitalisierungseliten abgehängt. Doch auch in dieser Gruppe wächst die Unzufriedenheit. In Staaten mit einem hohen Grundeinkommen steigt die Steuerbelastung auf die Topeinkommen. Angestellte mit hohen Bezügen kämpfen für eine Verbreiterung der Steuerbasis und plädieren dafür, Unternehmensgewinne höher zu besteuern, die bisher zugunsten der internationalen Wettbewerbsfähigkeit weitgehend von der Finanzierung der Grundeinkommen verschont geblieben sind. Die hochqualifizierten Erwerbstätigen haben dabei die Massen, die vom Grundeinkommen leben, auf ihrer Seite. Einige westliche Staaten entscheiden sich dafür die Unternehmenssteuern zu erhöhen. Das entlastet die Beschäftigten mit Topeinkommen, dafür steigt die Unruhe unter den weltweit gestreuten Unternehmensbesitzern.

      Phase 5: Gespaltene Gesellschaft, gespaltene Welt

      Das geopolitische Umfeld hat sich im Lauf der Zeit völlig verändert. Staaten, die die westlichen Kriterien einer liberalen Demokratie erfüllen, koexistieren zwar noch immer mit einer Vielzahl von Staaten mit anderen Regierungsformen. Der Kern des liberal-demokratischen Blocks liegt nach wie vor im Westen. Aber auch viele Staaten im Rest der Welt zählen dazu, einige europäische Staaten nicht mehr. Doch die wirtschaftliche und politische Bedeutung des nicht liberal-demokratischen Teils der Welt ist massiv gestiegen und überwiegt den liberal-demokratischen Block deutlich.

      Der Lebensstandard der Bevölkerungen in diesen Staaten ist sehr unterschiedlich. Manche haben den Westen überflügelt, andere sind auf dem Weg dahin. In einigen Staaten sind weite Teile der Bevölkerung am Wohlstandszuwachs beteiligt, in anderen vorwiegend die Eliten. Eine kleine, aber steigende Zahl von Ländern ist unregierbar und als Failed States auf einem niedrigen wirtschaftlichen Niveau geblieben oder durch Umwelteinwirkungen dazu geworden. Einzelne Nationen stehen an der Spitze der technologischen Entwicklung, sie verfügen über eine hochautomatisierte Wirtschaft sowie über die gesamte Bandbreite modernster Life-Science-Produkte. Ob Gesundheitsverbesserung, Lebensverlängerung oder körperliche und geistige Weiterentwicklung – für ihre Bevölkerung stehen alle technologisch möglichen Maßnahmen bereit. Im internationalen wirtschaftlichen Wettbewerb sind sie sehr gut positioniert, militärisch mit modernster Technologie ausgestattet.

      Der liberal-demokratische Block ist ebenfalls nicht homogen, sondern in zwei Flügel gespalten. Der eine steht in allen technologischen Bereichen mit an der Weltspitze und lässt seinen Digitalisierungseliten und Unternehmen viel Freiraum bei der Entwicklung. Er beschränkt die soziale Absicherung der arbeitslosen Massen auf ein Minimum und bietet dafür seinen Eliten und Unternehmen niedrige Steuersätze. Der andere Flügel, zu dem viele der europäischen Sozialstaaten aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zählen, ist in Sachen Biotechnologie, vor allem der Humangenetik, zurückgefallen, auch in der militärischen Entwicklung kann er nicht mehr mithalten. In ihm haben sich die Menschen ohne Arbeit politisch ein hohes Grundeinkommen erkämpft. Um ihre Sozialsysteme gegen den Druck des internationalen Wettbewerbs zu schützen, haben diese Staaten die Steuersysteme harmonisiert, die regionalen Handelsräume ausgebaut und den wirtschaftliche Austausch mit anderen Ländern reguliert.

      Doch fast überall in der westlichen Welt, auch in Deutschland, gärt die Unzufriedenheit. In Ländern mit niedrigem Grundeinkommen hat die Ungleichheit ein für die deklassierte Mehrheit unerträgliches Maß angenommen. Die wirtschaftlich abgeschlagenen Massen demonstrieren für mehr wirtschaftliche und politische Inklusion. Sie wollen an den Errungenschaften der Innovation beteiligt werden, die sie nicht bezahlen können. Außerdem fordern sie stärker in den politischen Prozess eingebunden zu werden. Die von ihren Eliten propagierte Spitzenposition im Wettkampf der Systeme nützt ihnen nichts, wenn es den Arbeitslosen in anderen liberalen Demokratien besser geht und Milliarden Menschen im Rest der Welt ebenfalls.

      Doch auch in den europäischen Demokratien mit einem hohen Grundeinkommen steigt die Unzufriedenheit – nur auf der anderen Seite. Die Digitalisierungseliten wollen die aus ihrer Sicht hohe staatliche Umverteilung zugunsten der Grundeinkommen nicht länger finanzieren. Sie verlangen mehr politische Rechte mit der Begründung, mit ihrer Expertise und ihrem Kapital die ganze Gesellschaft zu finanzieren. Immer mehr Unternehmen verlegen ihren Sitz in steuerlich günstigere Teile des Westens. Ihren Führungskräften bieten sie an ihren Jobs zu folgen. Viele machen davon Gebrauch. Die Steuerbasis schrumpft, manche Länder senken das Grundeinkommen, andere finanzieren es zunächst durch Umschichtungen im Staatshaushalt und auf Kredit. Gleichzeitig steigt der globale Wettbewerbsdruck. Der Block der westlichen Länder mit niedrigem Grundeinkommen verlangt, dass sie ihre Märkte öffnen sollen. Die technologisch führenden Staaten außerhalb des liberal-demokratischen Lagers unterstützen diese Forderung. Sie haben vom Westen die Führungsrolle bei der Globalisierung übernommen und wollen den Wohlstand ihrer Bevölkerung durch Exportüberschüsse gegenüber dem Rest der Welt steigern.

      An dieser Stelle verlassen wir unser Szenario. Was ist schiefgelaufen? Warum haben die Massen nicht das digitale Äquivalent zum Achtstundentag erhalten? Wieso konnte Bildung sie nicht retten? Warum ist der Sozialstaat umkämpft? Wie konnten die gebildeten, ehemals wohlsituierten Mitglieder einer zahlenmäßig dominierenden europäischen Mittelschicht in diese Situation geraten?

      Um diese Fragen in den nächsten Kapiteln des Buchs besser beantworten zu können und die sozialen Konsequenzen zu veranschaulichen, betrachten wir ein detaillierteres Szenario1 und werfen dabei einen Blick auf die möglichen wirtschaftlichen Größenordnungen. Als Beispiel nehmen wir die deutsche Wirtschaft, die sich heute immer mehr der Vollbeschäftigung nähert. Fast 45 Millionen Menschen sind erwerbstätig, so viele wie nie zuvor.2 Bei genauer Betrachtung sind viele der neu geschaffenen Jobs nur gering produktive Servicetätigkeiten, Teilzeitbeschäftigungen und Niedriglohnarbeitsplätze. Rund neun Millionen Menschen beziehen Einkommen aus der Arbeitslosenversicherung, der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe.3 Diese Leistungen, insgesamt 110 Milliarden Euro, bezahlt schon heute zu 75 Prozent der Staat. Doch der größte Block des Sozialstaats, 516 Milliarden Euro für die Renten und Krankenversicherung, wird zu 80 Prozent über die Arbeit finanziert.4 Dies ist der Kern des arbeitsorientierten Sozialstaats der deutschen Mittelschicht, die rund 60 Prozent der Haushalte umfasst.5

      Stellen wir uns vor, dass, dank Robotern und künstlicher Intelligenz, die Produktivität in Deutschland zukünftig deutlich stärker wächst als in den vergangenen Jahrzehnten. Zwar ist Deutschland in den digitalen Technologien für Endverbraucher nicht stark und verliert möglicherweise zukünftig auch Wertschöpfung im Automobilsektor. Dafür profitiert es von seiner Weltmarktpräsenz im Maschinen- und Anlagenbau. In puncto Digitalisierung materieller Produktionsprozesse steht es sogar technologisch mit an der Weltspitze. Die Produktivität steigt zunächst langsam, dann schneller um bis zu vier Prozent jährlich. Damit erreicht sie im Durchschnitt der nächsten 50 Jahre die 3,5 Prozent-Marke. Im Vergleich zur jüngsten Vergangenheit erscheint dieser Wert hoch, zwischen 1951 und 1970 lag er allerdings sogar bei fünf Prozent.6 Die Wirtschaft wächst insgesamt dagegen nicht annähernd