Volker Schmitz

MITTELSCHICHT FÜR ALLE


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mehr hat und der Rest hochbezahlte Tätigkeiten in der digitalisierten Wirtschaft ausübt? Der Sozialstaat wird weitgehend durch die Mittelschicht finanziert, ihre Beiträge und Steuerzahlungen sorgen für Sozialhilfe, Arbeitslosenunterstützung, Krankenversicherung und Rente. Dieses Modell wird nicht mehr funktionieren, wenn die Mittelschicht schrumpft und in immer mehr Unterstützungsberechtigte und weniger Zahlende zerfällt.

      Doch die aktuelle Agenda der Sozialpolitik bewegen diese Fragen kaum, sie wird dominiert von der alten analogen Ökonomie. Die sozialpolitische Debatte läuft, mit verschiedenen Nebengleisen, in etwa auf folgender, inzwischen allseits bekannter Argumentationsschiene ab: Die Bevölkerung der Industrieländer schrumpft, der jährliche Produktivitätszuwachs ist in den vergangenen Jahrzehnten gesunken. Das zukünftige Ergebnis ist mit Glück ein geringes Wachstum, mit Pech eine stagnierende Wirtschaft. Die europäischen Länder beschäftigt diese Thematik seit Jahren. Staatsverschuldung, Rentenhöhe, Krankenversicherungskosten – in den meisten Industrieländern wird die Diskussion des Sozialsystems von Demografie und Produktivitätswachstum bestimmt. Fast jeden Monat erscheinen Studien und Vorausberechnungen mit Warnhinweisen. Durch dieses Framing sind inzwischen alle europäischen Bürger auf die Alternativlosigkeit von Leistungskürzungen und Beitragserhöhungen eingestimmt, wenn das Problem nicht durch noch mehr Staatsschulden vor sich her geschoben werden soll. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Lawrence Summers hat bereits die „säkulare Stagnation“ ausgerufen. Er ist der Meinung, dass uns ein geringes Wirtschaftswachstum noch lange begleiten kann, wenn die Politik nicht gegensteuert.22

      Doch kann sie überhaupt etwas gegen die anhaltende Wachstumsschwäche tun? Politiker, Unternehmensverbände, Gewerkschaften, Forschungsinstitute und Unternehmensberater schlagen immer wieder die gleichen Lösungen vor. Es sind die Klassiker aus dem neoliberalen und keynesianischen Politikbaukasten. Sie laufen auf kleine Drehungen an vielen Stellschrauben hinaus, die wir alle schon gehört haben: mehr in Infrastruktur investieren, zum Beispiel Straßen erneuern, Schulen moderner ausstatten, Breitbandnetze verlegen. Die Studierenden dazu bringen, öfter MINT-Fächer zu belegen. Natürlich weiter deregulieren, damit die Unternehmen besser investieren können. Auch der Arbeitsmarkt muss noch flexibler werden. Alle sollen länger arbeiten, mehr Frauen berufstätig werden und die Einwanderung steigen, damit wir zusätzliche Arbeitskräfte bekommen. Die Globalisierung ist selbstverständlich fortzusetzen und schließlich sollten wir, also der Staat, die Innovation stärker fördern.

      Die Digitalisierung erscheint in diesem Rahmen meist nur als Hinweis auf die Zukunft, als zusätzliches Problem, als „Herausforderung“. Auseinandergesetzt hat sich mit ihr auch das deutsche Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Es hat die Arbeit weiter gedacht und verkündet in seinem „Weissbuch Arbeiten 4.0“: „Infolge des technologischen und wirtschaftlichen Wandels wird es keine massenhafte Automatisierung von Arbeitsplätzen geben.“23 Sind die größten Ängste also unbegründet? Oder werden besorgte Bürgerinnen und Bürger vermuten, bei den politischen Erklärungen zur Digitalisierung handele es sich um einen ehrenwerten Versuch der Beruhigung, gerade weil die sozialen Risiken der Digitalisierung so bedrängend sind und die Bevölkerung ihnen weitgehend hilflos ausgeliefert ist? „Wo…Abwehr und Vermeidungshandeln so gut wie ausgeschlossen sind, bleibt als (scheinbar) einzige Aktivität: ein Beruhigen, das Angst macht …“ konstatierte der Soziologe Ulrich Beck für die moderne Risikogesellschaft.24 Nach dieser Logik werden pauschale Beruhigungen nichts nutzen, im Gegenteil, die Angst noch vergrößern. Sie schaffen keine Ruhe, sondern verstören mehr durch die Hilflosigkeit der Politik. Sie sind die Offenbarung, dass sie zwar beste Vorsätze, aber wenig Mittel hat, mit den kommenden Problemen sicher umzugehen. Auch nicht mit deren Geschwindigkeit. Der neue deutsche Bundestag, gewählt 2017, hat zu einem bewährten Mittel der politischen Konsensbildung gegriffen und eine Enquete-Kommission zum Thema künstliche Intelligenz gebildet. Der Abschlussbericht soll nach dem Sommer 2020 vorliegen. Spätestens ein Jahr danach wird bereits der nächste Bundestag gewählt. Vielleicht machen dann die Fakten, die die IT-Konzerne in der Zwischenzeit geschaffen haben, eine nächste Enquete-Kommission erforderlich.

      Das Erstaunliche an dieser Haltung zur Digitalisierung ist die Tatsache, dass der massenhafte Arbeitsplatzverlust in offiziellen politischen Verlautbarungen kaum vorkommt. Das Gesellschaftsmodell basiert weiter auf Arbeit, Vollzeitarbeit bleibt das Leitmotiv. Nach Ansicht des deutschen Politikers Thorsten Schäfer-Gümbel geht es darum, „…in der zersplitterten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts das digitale Synonym des Achtstundentags herauszuarbeiten und diesen Kern in zukunftsfähige Politik zu übertragen.“25 Daher müssen auch die gegenwärtigen Grundprinzipien des Sozialstaats nicht in Frage gestellt werden. Der Sozialstaat soll „linear“ weiterentwickelt werden, als „Fortführung des Bewährten…mit digitalen Mitteln“.26

      Was passiert, wenn die Digitalisierung keinen Achtstundentag für alle mehr hergibt, vielleicht nicht einmal mehr für viele, auch nicht sein Synonym? Dieser Fall steht im aktuellen Denken des politischen Mainstreams meist nicht im Vordergrund. Es beschäftigt sich weiter mit der Verteilung der sozialen Kosten, die durch die Alterung der Gesellschaft und das geringe Wachstum entstehen. Verursacht hat diese Kosten die Babyboom-Generation der 1950er- und 1960er-Jahre. Sie hat die größte wirtschaftliche Expansionsparty aller Zeiten gefeiert, den Massenkonsum zelebriert, weniger Kinder bekommen als ihre Eltern und das Ganze mit einem stetig wachsenden Raubbau an der Umwelt sowie einem gigantischen Schuldenberg finanziert. Bekommen ihre Kinder nun die Quittung dafür? Muss die nächste Generation froh sein, wenn sie mit Mühe das Einkommensniveau ihrer Eltern halten kann, während sie deren Alter finanziert?

      Das neue Denken

      Eine kleine, aber wachsende Schar von Unternehmern, Unternehmerinnen und Forschenden ist anderer Meinung. Sie entzieht sich dem offiziellen Denkmodell, setzt ihre eigene Agenda und treibt sie mit höchstem Tempo voran. Ihre Hoffnung sind die zukünftigen Chancen einer hochdigitalisierten innovativen Wirtschaft. Technologische Fortschritte stellen für sie kein Problem dar, sondern die Lösung. Diese Techno-Optimisten sind davon überzeugt, dass Roboter und künstliche Intelligenz zunehmend die Menschen bei der Arbeit unterstützen und ersetzen werden, aber beides positiv ist. Die Entwicklung soll sich sogar beschleunigen, weil irgendwann die künstliche Intelligenz der menschlichen überlegen sein und sich selbst immer weiter optimieren wird. Ihr Prophet ist der US-amerikanische Erfinder, Zukunftsforscher und Autor Ray Kurzweil. Sein Endziel ist die Singularität, der Zustand, in dem wir die Grenzen unserer menschlichen Biologie überwinden und mit der Technologie verschmelzen. „Es wird keinen Unterschied geben, nach der Singularität, zwischen Mensch und Maschine oder zwischen physischer und virtueller Realität“, so Kurzweil.27

      Auch wenn die Singularität noch in weiter Ferne liegt, ermöglicht dieses neue Denken immer wieder ganz andere Lösungen als das alte. Wenn das Endziel die autonome Produktion ist, mit so wenig Menschen wie möglich, welchen Unterschied macht es dann, ob die Arbeitsbevölkerung in Europa zukünftig um 30, 40 oder 50 Millionen Menschen zurückgeht? Das Kernproblem des alten Denkens, die Demografie, begrenzt nicht mehr das Wirtschaftswachstum. Vorbei die Zeiten, in denen das Wachstum des Bruttosozialprodukts mit der Bevölkerungsentwicklung verbunden war. Der Input an Arbeitskräften ist kein begrenzender Faktor mehr für den Output an Gütern und Dienstleistungen. Im Gegenteil: Wenn Roboter produzieren, steigert der Bevölkerungsrückgang den Wohlstand pro Kopf. Der Traum der Techno-Optimisten sind selbstlernende Systeme, die irgendwann ohne viel menschliche Hilfe immer schneller neue Roboter, Abläufe und Verfahren entwickeln und herstellen. Damit verliert auch die zweite Wachstumsgrenze, die Arbeitsproduktivität, ihre Bedeutung.

      Das alte Denken sieht in Europa Demografie und Produktivitätszuwachs als Engpässe für die wirtschaftliche Entwicklung. Das neue Denken der Techno-Optimisten beseitigt dieses Nadelöhr. Doch ihre Fantasien konzentrieren sich meist nur auf die technischen Aspekte. Die gesellschaftlichen Konsequenzen bleiben nebulös. Die kurze Geschichte des Internetzeitalters veranschaulicht, wie die weitere Zukunft aussehen könnte. Das Internet hat seine Breitenwirkung über innovative Unternehmen entfaltet, die in historisch ungekannter Schnelligkeit weltweit dominierende Marktstellungen erlangt haben. Online-Händler, Suchmaschinen und soziale Medien waren vor 15 Jahren noch eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Randerscheinung. Heute bewegen