Britta Bley

Sommer, Sonne, Strand und Er


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Treppe vermuten, dass ihr Vater auf dem Weg zu ihr war. Sie liebte ihren Vater über alles, aber er verstand es einfach nicht, dass sie gerne für sich war und keine Freunde wollte und brauchte.

      „Leni, bist du hier?“, fragte ihr Vater, während er mehrere Male mit den Knöcheln seiner Hand leicht, fast schon rhythmisch, gegen die Tür klopfte.

      Was das anging, konnte Leni sich wirklich nicht beschweren. Seit sie vierzehn Jahre alt war, hatte er es sich zur festen Angewohnheit gemacht, an ihre Zimmertür zu klopfen und auf ein Zeichen ihrerseits zu warten, bevor er ihr Allerheiligstes betrat. Vielleicht hatte ihm mal irgendeine Freundin geraten, dass er als alleinerziehender Vater einer Tochter besonders auf die Wahrung ihrer Intimsphäre achten sollte, oder er war einfach von alleine darauf gekommen. Auf jeden Fall war sie ihm sehr dankbar dafür.

      „Wo soll ich denn sonst sein, vielleicht in Takatukaland?“, erwiderte sie jetzt trotzdem ein wenig patzig.

      Ihre Antwort großzügig als Eintrittserlaubnis auslegend, öffnete er ihre Zimmertür und lugte vorsichtig um die Ecke.

      „Das nicht, aber vielleicht am Strand, wo die jungen Leute ein Fest feiern, dessen Name mir gerade nicht einfallen will. Dort spielt sogar eine Liveband, soviel ich weiß. Wenn du dich nicht so abgeschottet hättest“, mit einem Arm wies er auf das runtergezogene Rollo, „dann hättest du auch registriert, dass draußen bestes Wetter ist. Bei den Temperaturen in der Bude zu hocken ist fast schon ein Verbrechen.“

      „Wie gut, dass du mich nicht verhaften lassen musst, ich war quasi schon auf dem Sprung“, log Leni ohne rot zu werden, nur um sich ihrem Vater gegenüber nicht weiter rechtfertigen zu müssen oder womöglich eine Grundsatzdiskussion zu starten.

      „Das ist schön!“, antwortete ihr Vater leicht verunsichert, da er mit deutlich mehr Widerstand gerechnet hatte.

      Auch wenn Leni ihrem Vater nun den Rücken zuwandte, um sich wieder ihrem jungfräulichen Blatt zu widmen, statt sich zum Weggehen fertig zu machen, verließ er stirnrunzelnd das Zimmer. Er hoffte, sie würde ihr Wort halten.

      Nachdem Leni zwei weitere Papierkugeln im Eimer versenkt hatte und damit die Hoffnung schwand, etwas Brauchbares aufs Blatt zu zaubern, raffte sie sich schließlich auf. Außerdem befürchtete sie, ihr Vater könne einen weiteren Versuch unternehmen, sie aus dem Haus locken zu wollen. Ganz sicher würde sie kein zweites Mal so glimpflich davonkommen, sondern müsste mindestens einen bereits mehrfach gehörten Vortrag über die Notwendigkeit des Kontaktes zwischen gleichaltrigen Menschen über sich ergehen lassen. Das wollte sie ihrem Vater und sich gleichermaßen ersparen. Zu ihrem Verdruss schienen sich die Bemühungen ihres Vaters in Sachen Mission Leni-wie sie seine ganzen Aktionen heimlich etwas spöttisch getauft hatte-noch verstärkt zu haben, seitdem die verbleibenden Tage in seinem Hause gezählt waren. Sie wollte ihm den vermeintlichen Erfolg gönnen und schließlich musste er ja nichts davon wissen, dass sie sich unter keinen Umständen die Menschenmassen auf der School is out-Party am Strand antun würde und ein bisschen frische Luft um die Nase wehen lassen, konnte der Kreativität nicht schaden.

      Leni setzte sich ein Cap auf ihren fransigen, blonden Pagenkopf und klemmte sich ihre Sonnenbrille mit dem Bügel an den Ausschnitt ihres T-Shirts. Auf der Treppe sitzend zog sie sich einen dunkelblauen Chuck an den rechten Fuß und einen grasgrünen an den linken. Hintergrund hierfür war ein kitschiger Film über eine Frauenfreundschaft, in dem die beiden Hauptdarstellerinnen jeweils einen Schuh zum Zeichen ihrer Verbundenheit miteinander getauscht hatten. In Lenis Leben gab es niemanden, der ihr Schuh-Pendant hätte sein können. Kein Grund, nicht trotzdem zwei verschiedene Schuhe zu tragen. Während ein Psycho-Doc in dieses Gebaren unter Garantie die Sehnsucht nach Freundschaft hineininterpretiert hätte, untermauerte Leni damit eigentlich nur ihre Philosophie ich brauche niemanden für nichts.

      Leni rief ihrem Vater einen Abschiedsgruß durch die angelehnte Tür ins Wohnzimmer, um schnell verschwinden zu können und sich keine weiteren Details, in Bezug auf Zielort und Begleitung, aus den Fingern saugen zu müssen. Sie hasste es, ihrem Vater ständig ins Gesicht lügen zu müssen, auch wenn sie ihm ganz klar eine Mitschuld gab, da dieser mit seinem Verhalten und seiner ganzen Fragerei ihre kleinen und größeren Unwahrheiten überhaupt erst provozierte, wie sie fand.

      Beim Hinaustreten ins Freie bremsten Licht und Wärme für einen kurzen Moment ihren entschlossenen Schritt. Während sie der grelle Sonnenschein blendete und ihr damit die Sicht nahm, fühlte sich die Hitze an, als würde sie gegen eine unsichtbare Wand laufen. Doch nachdem sie sich ihre Sonnenbrille aufgesetzt hatte, trieb sie außerdem die Zuversicht voran, dass sie am Meer eine angenehme Brise umwehen würde.

      Das Meer war ihr zweitliebster Aufenthaltsort, gleich nach dem heimischen Schreibtisch. Der Vorteil des Schreibtisches war eindeutig die Gewissheit, dass sie dort keine störenden Eindringlinge zu erwarten hatte; ließ man ihren Vater da mal raus. Aber auch am Wasser hatte sie mittlerweile ihre Plätze gefunden, an denen ihr mit großer Wahrscheinlichkeit keine Menschenseele begegnete. Heute war sie sich sogar sehr sicher, niemanden dort anzutreffen, da ihr anvisiertes Ziel relativ weit vom Hauptstrand entfernt lag, an dem sich heute jeder, der etwas auf sich hielt, aufhalten musste, denn dort stieg die Party. Ein Garant für viel Raum und Ruhe andernorts.

      Als Leni die Biegung erreicht hatte, an der sich ihr Weg, von dem der Partyhungrigen trennte, atmete sie unwillkürlich tief durch. Die Luft trug das Salz des Meeres und dessen typischen Geruch bereits mit sich. Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte sie ihrem Ziel nun entgegen. Dabei trug sie keine Tasche und nichts bei sich. Denn obwohl viele von Lenis Skizzen und Bildern Strandmotive zeigten, hatte sie dort noch nie gezeichnet. Mit dem Talent gesegnet, die Dinge förmlich in sich aufsaugen zu können, gelang es ihr auch noch Tage später, einmal Gesehenes, detailliert aufs Papier zu bringen. Menschen störten sie dabei in ihrer lauten, unruhigen Art. Dagegen liebte sie die Bewegung in der Natur, etwa die gleichförmigen Bahnen der heranbrausenden Wellen oder die lautlos dahinziehenden Wolkentürme.

      Leni überquerte achtsam die letzte asphaltierte Fahrbahn, bevor ihre Füße samt Schuhwerk, tief im weichen Sand des unmittelbar daran grenzenden Strandes versanken.

      Immer wieder aufs Neue davon fasziniert, was die wenigen Meter von den Straßen der Siedlung bis hin zur Wasserlinie für erhebliche Veränderungen mit sich brachten, blieb sie mit geschlossenen Augen für einen Moment reglos stehen. Die unerträgliche, stehende Hitze war im wahrsten Sinne des Wortes weggeblasen. Sie spürte, wie der Wind an ihrer Kleidung zog und ihre nackten Hautpartien kühlte, während die Sonne sie gleichzeitig erwärmte. Auf den Lippen schmeckte sie die salzige Luft. Einige Möwen kreischten gegen das Tosen der Brandung an. Das Brummen eines Autos erinnerte Leni schließlich daran, ihr endgültiges Ziel noch nicht erreicht zu haben und ließ sie ihren Weg fortsetzen. Die dicken Ufergrasbüschel umrundend und die aus dem Sand ragenden Felsen übersteigend, entfernte sie sich immer weiter von der Straße. Ihr Weg führte sie stets an der Wasserkante entlang. Schließlich wurde der Sandstreifen stetig schmaler und war mehr und mehr von kleinen und großen Steinen durchzogen, bis er ganz endete und stattdessen ein Felsbrocken von beträchtlicher Größe den weiteren Weg versperrte. Der Felsbrocken grenzte wiederum an ein kleines, dichtes Pinienwäldchen. An dieser Stelle war Leni viele Male umgekehrt, bevor sie das erste Mal, wie auch heute, ihre Schuhe ausgezogen hatte, um den Felsen, knietief durchs Wasser watend, zu umrunden. Dahinter verbarg sich ein atemberaubendes Stückchen Strand, in das Leni sich ebenso unmittelbar wie unwiderruflich verliebt hatte. Seit ihrer Entdeckung vereinnahmte sie dieses Fleckchen Erde ganz selbstverständlich für sich. Dabei fiel es ihr schwer zu akzeptieren, dass jeder andere das gleiche Recht hatte wie sie, sich hier aufzuhalten. Glücklicherweise war sie während der vielen Stunden, die sie an ihrem Strand verbracht hatte, nur wenige Male von Fremden überrascht worden, die sich den Weg durch das dichte Wäldchen geschlagen hatten und plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Wären ihr die gleichen Menschen direkt aufs Klo gefolgt, hätte sie das nicht mehr konsternieren können.

      Leni setzte sich auf einen Felsen, von dem aus sie die Zehenspitzen ins Wasser baumeln lassen konnte. Nun war sie froh, dass ihr Vater sie genötigt hatte, das Haus zu verlassen. Dass der sie unter hunderten von Leuten wähnte und diese Art des Ausflugs so gar nicht in seinem Sinne gewesen wäre, scherte sie nur wenig, denn dafür