Britta Bley

Sommer, Sonne, Strand und Er


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war für sie schon immer klar gewesen, solange sie nur zurückdenken konnte.

      Ganz anders als von der Schulzeit erhoffte sie sich von ihrem Kunststudium eine glückliche Zeit. Den größten Teil des Tages würde sie mit dem zubringen, was ihr am meisten Spaß im Leben machte; dem Malen. Außerdem erwartete sie schnell besser zu werden und jede Menge neue Techniken zu erlernen. Und nicht zuletzt freute sie sich auf das Studium der alten Künstler, unter denen es viele gab, die sie aus tiefstem Herzen verehrte. Ansonsten würde sie sich überraschen lassen, was auf sie zukäme.

      Das ganze studentische Leben drumherum interessierte sie dagegen wenig bis gar nicht. Bereits das überdrehte Gerede ihrer Mitschüler in den letzten Schulwochen vor den Sommerferien war ihr unheimlich auf die Nerven gegangen. Man hätte den Eindruck gewinnen können, dass für viele von ihnen das Studienfach gänzlich nebensächlich gewesen wäre. Stattdessen hatten sich die zukünftigen Studenten gegenseitig übertrumpft, was sie alles für wilde Partys feiern würden und prophezeit, was für tolle neue Leute sie kennenlernen würden. Leni hegte die Vermutung, dass ihre Mitschüler hinter dem großspurigen Gebaren nur ihre Angst vor dem Neuen und der Furcht möglicherweise alleine dazustehen, verbergen wollten.

      Sie hatte weder vor auf Partys zu gehen, noch legte sie Wert darauf neue Freundschaften zu schließen. Entsprechend hatte sie auch keine Angst vor dem Alleinsein. Ihr Einsiedlertum, wie ihr Vater es nicht ohne Vorwurf nannte, gefiel ihr ausgesprochen gut und sie sah auch keine Veranlassung, in der Zukunft irgendetwas daran zu ändern. Auch die Aussicht, zum ersten Mal in ihrem Leben komplett auf eigenen Beinen zu stehen, verunsicherte sie nicht. Wie man eine Waschmaschine fachgerecht bediente, hatte sie bereits mit zwölf Jahren gewusst. Kochen gehörte dagegen zwar nicht zu ihren Stärken, aber wozu gab es schließlich eine Mensa? Und die wiederum, befand sich nur wenige hundert Meter von ihrer künftigen Studentenbude entfernt.

      Was die Unterbringung anging, hatte sie großes Glück gehabt. Sie hatte eines der wenigen, sehr begehrten Zimmer, in einem der Studentenwohnheime ergattern können und das zu einem unschlagbaren Preis. Für das ihr zur Verfügung stehende Geld hätte sie alternativ höchstens noch ein Zimmer in einer WG bekommen und dann hätte sie sich wieder mit anderen arrangieren müssen. Ihr Wohnheimzimmer hatte sogar ein eigenes Badezimmer direkt angeschlossen, das war zwar winzig und glich in seiner Vollplastikausführung eher einer Flugzeugtoilette, hatte sie bei der damaligen Besichtigung amüsiert festgestellt, aber dafür würde sie es mit niemandem teilen müssen. Dieser Luxus traf zwar auf die Küche, die neben ihr fünf weiteren Studenten zur Benutzung zur Verfügung stehen würde, nicht zu, doch schließlich war da ja noch die Mensa, so dass die Aufenthaltsdauer dort vermutlich überschaubar bleiben würde. Und sollte unter den künftigen Mitbenutzern jemand sein, der besonders redselig war und meinte, ihr bereits beim Frühstück seine Lebensgeschichte erzählen zu müssen, könnte sie notfalls auch auf ihr Zimmer ausweichen. Eigentlich konnte gar nichts schief gehen.

      Obendrein, als Sahnehäubchen, würde auch endlich das ganze Schmierentheater für ihren Vater ein Ende haben oder zumindest auf ein Minimum reduziert werden. Fiktive Treffen mit nicht existenten Freunden, bei denen sie der Glaubwürdigkeit halber für mehrere Stunden das Haus verlassen hatte, würde es von da an jedenfalls nicht mehr geben. In Zukunft hoffte sie ihn am Telefon mit wenigen Informationen abspeisen und so die ganze Lügerei deutlich in Grenzen halten zu können. Zumal ihr ganzes Schauspiel nicht einmal dazu gereicht hatte, dass ihr Vater sie für einen völlig normalen, sozial integrierten Teenager hielt. Ständig machte er sich Sorgen, sie könne sich einsam und unglücklich fühlen.

      Bei ihren ganzen Überlegungen zog sie erst gar nicht in Betracht, dass sie tatsächlich neue Kontakte würde knüpfen können und sie dann einfach nur bei der Wahrheit bleiben konnte.

      Nach dem kleinen gedanklichen Exkurs in die Zukunft, richtete Leni ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihre Skizze. Sie schob ihre Unterlippe vor, um eine ihr ins Gesicht gefallene Strähne energisch wegzupusten und so für freie Sicht zu sorgen. Die linke Hand lag noch immer in unveränderter Position mit dem Handrücken auf der Schreibtischplatte, unmittelbar neben ihrem Blatt Papier. Die Vielzahl der auf der Hand verlaufenden Linien und Furchen faszinierte sie immer wieder aufs Neue. Es war für sie ohne Bedeutung, welche die Lebens-, Herz- oder Kopflinie ist. Und erst recht, welche Länge oder Beschaffenheit man welchen Charaktereigenschaften oder gar Zukunftsaussichten zusprach. Leni war es ausschließlich wichtig, eine möglichst detaillierte Abbildung der Wirklichkeit zu schaffen und vielleicht sogar ein bisschen mehr als das. Mit Blick auf ihr Papier stellte sie zufrieden fest, dass ihr dies bereits weitestgehend gelungen war und sie fast fertig war. Es fehlten lediglich noch ein paar Details und einige Schattierungen. Sie begann mit dem größten Schatten in der Handinnenfläche, den die leicht gekrümmten Finger warfen. Schließlich ging sie über zu den Details, wobei sie den kleinen dunklen Rand unter dem Nagel ihres Ringfingers beflissentlich übersah. Mit einem letzten prüfenden Blick verglich sie ihre Hand mit der Abbildung eben dieser. Als diese nach ihr zu greifen schien, legte sie den Bleistift getrost an die Seite. Sie mochte das Bild schon jetzt. Grundsätzlich gefiel ihr die monochrome Darstellung von Bleistiftskizzen.

      Leni reckte ihren Rücken, schüttelte ihre Hände aus und drückte der Reihe nach ihre Finger mit Druck gegen die Handinnenflächen, so dass jedes Mal ein fast schon beängstigend lautes Knacken entstand. Anschließend entschied sie sich nach unten zu gehen, um nach ihrem Vater zu schauen. Lediglich beim Frühstück hatte sie ihn kurz gesehen und seither nicht mehr. Vielleicht könnte sie ihn bei der Zubereitung des Mittagessens unterstützen. Außerdem hatte er eine Woche Urlaub und sie wollte ihm ihre Gesellschaft nicht gänzlich vorenthalten. Sie wusste, dass er bereits jetzt gegen die Zeit ansah, in der sie nicht mehr hier sein würde. Mehrfach hatte er betont, wie sehr sie ihm fehlen würde; nicht jedoch ohne unmittelbar hinzuzufügen, wie sehr er sich für sie freute, dass sie sich einen der wenigen Plätze an der Kunsthochschule hatte sichern können. Tatsächlich würde er ihr auch sehr fehlen, dessen war sie sich gewiss. Keine andere Person war hier je für sie von Bedeutung gewesen. Ansonsten würde sie lediglich noch das Meer vermissen.

      Kurz überlegte Leni, ob sie die fertige Skizze ihrer Hand mit nach unten nehmen sollte, um sie ihrem Vater zu zeigen. Doch sie entschied sich schließlich dagegen. Er zeigte stets ein höfliches Interesse an ihren Bildern und war ehrlich beeindruckt von ihrem Talent, aber irgendwie fehlte ihm, ganz anders als ihr selbst, der Blick fürs Detail und der für die Kunst im Allgemeinen. Also ging sie ohne, auch wenn er sie vermutlich gleich fragen würde, was sie den Vormittag über gemacht hatte. Spätestens mit dem knarzenden Geräusch der viertletzten Treppenstufe, kündigte sie ihre Ankunft im Parterre an. Entsprechend hatte sie noch nicht einmal den ersten Fuß auf den Flurboden gesetzt, als bereits das freundlich lächelnde Gesicht ihres Vaters aus der Küche um die Ecke schaute.

      „Schön, dass du runterkommst, es gibt gleich Essen! Ich habe extra deine Leibspeise gemacht, Quark-Reis-Auflauf mit frischen Erdbeeren.“

      Leni schnupperte den verführerischen Duft und wunderte sich, dass der nicht bereits durch sämtliche Ritzen bis hoch in ihr Zimmer gedrungen war und sie auf den Plan gerufen hatte. Nun ebenfalls lächelnd sprang sie von der letzten Stufe, stürmte auf ihren Vater zu und schloss ihn heftig in die Arme.

      „Danke Paps, du bist der Beste!“, flüsterte sie und hauchte ihm dabei einen flüchtigen Kuss auf die unrasierte Wange.

      Leicht verdutzt von ihrem für ihre Verhältnisse heftigen Gefühlsausbrauch, streichelte er sich über die soeben geküsste Wange. „Wie komme ich denn zu der Ehre?“

      „Weil du es verdient hast und weil mir eben einfach danach war“, säuselte Leni und tänzelte an ihrem Vater vorbei in die Küche. Dabei schloss sie die Augen und atmete voller Vorfreude tief durch die Nase. Bevor sie sich jedoch setzte, holte sie zwei Gläser, füllte sie mit eiskaltem Mineralwasser und fügte einen Spritzer Zitronensaft hinzu. Ansonsten war der Tisch bereits fertig gedeckt, so dass es nichts weiter für sie zu tun gab. Die an der Dunstabzugshaube hängende Küchenuhr offenbarte ihr eine verbleibende Zeit von fünf Minuten, bis das Essen fertig sein würde. Nachdem ihr Vater das über den Griff des Backofens hängende Geschirrhandtuch an die Seite geschoben hatte, um sich so mit einem Blick durch die Scheibe einen Eindruck von dem Bräunungszustand des Auflaufes zu verschaffen, setzte er sich beruhigt ebenfalls zu Leni an den Tisch.