Britta Bley

Sommer, Sonne, Strand und Er


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musste schmunzeln. Zum einen, weil sie seine Frage so treffend vorhergesehen hatte und zum anderen, weil sie an ihre geglückte Skizze denken musste, die oben auf ihrem Schreibtisch lag.

      „Ja, ich habe einige ganz gute Studien von meiner Hand angefertigt, entsprechend musst du meinen Papierkorb heute nicht mehr leeren.“

      „Du meinst, du musst deinen Papierkorb heute nicht mehr leeren“, korrigierte er sie neckend.

      „Sei nicht so übergenau! Ich hatte damit eigentlich nur zum Ausdruck bringen wollen, dass ich heute ganz zufrieden mit meinen Ergebnissen bin“, forderte Leni und zog die Nase ein wenig kraus.

      Erneut dachte sie darüber nach, ob es vielleicht doch ein Fehler gewesen sein könnte, ihre Bilder nicht mit nach unten genommen zu haben. Aber abgesehen davon, dass das Klingeln der Küchenuhr und damit die Aussicht auf den baldigen Verzehr ihrer absoluten Leibspeise alles andere in den Hintergrund rücken ließ, war sie sich sicher, dass er nicht einmal einen Qualitätsunterschied erkennen würde zu Skizzen mit ähnlichem Motiv, von vor einem Jahr. Gedanklich legte sie noch einen drauf: Vermutlich würde sie ihn selbst mit Bildern, die sie zu Grundschulzeiten angefertigt hatte, beeindrucken können und sie ihm als ihre Neusten verkaufen können.

      Lenis Vater war aufgestanden, um den dampfenden Auflauf aus dem Backofen zu holen. Mit seinen geblümten Topfhandschuhen, ihre Leibspeise zum Tisch tragend, hätte sie ihn am liebsten direkt ein weiteres Mal geküsst. Stets hatte er versucht ihr Vater und Mutter in einer Person zu sein und sie hatte nie ernsthaft das Gefühl gehabt, dass ihr etwas gefehlt hätte. Und es war nicht zu übersehen, dass er all das, was er für sie tat, gerne machte, auch wenn er es allein tun musste und sie es ihm gewiss nicht immer leicht gemacht hatte. Ein gutes Gefühl, bedingungslos geliebt zu werden. Und das war für Leni das Wichtigste. Deswegen verlangte es Leni auch nicht danach, mehr über ihre Mutter im Allgemeinen oder deren Tod zu erfahren. Sie wollte ihren Vater nicht drängen über Dinge zu sprechen, die einen tiefen Schmerz in ihm auslösten. Nicht umsonst gab es im ganzen Haus keine Fotografie von ihr und auch sonst nichts, was an sie erinnern würde. Und nie hatte es eine andere Frau im Leben ihres Vaters gegeben.

      Leni lief bereits das Wasser im Mund zusammen, als ihr Vater das Essen auf den Tisch stellte. Er drückte ihr den Löffel in die Hand und forderte sie mit einer schwungvollen Armbewegung auf sich zu bedienen, was sie sich nicht zweimal sagen ließ. Nachdem sie sich eine ordentliche Portion genommen hatte, reichte sie den Löffel an ihn zurück. Es fiel ihr schwer die Höflichkeit zu wahren und mit dem ersten Bissen zumindest so lange zu warten, bis ihr Vater sich ebenfalls aufgetan hatte.

      „Lass es dir schmecken, mein Schatz!“, gab dieser schließlich das ersehnte Startzeichen.

      „Hmm-mmm, das mache ich!“, schmatzte Leni bereits mit vollem Mund.

      Im Kopf ergänzte sie die Liste der Dinge, die ihr fehlen würden um den Quarkauflauf.

      „Hast du heute oder morgen mal Zeit und Lust mit mir zu Scholz zu fahren? Ich will meinen Urlaub nutzen, um mein Büro zu streichen und einige andere Veränderungen dort vorzunehmen. Ich könnte jemanden mit Geschmack und einem Gefühl für Farben gebrauchen. Anschließend könnten wir noch einen Kaffee trinken gehen.“

      „Klar, gern! Wenn es für dich okay ist, würde ich morgen vorschlagen. Heute hatte ich geplant, noch einmal zum Strand zu gehen.“

      „Prima, morgen ist ebenso gut! Hab’ ich heute noch einen Tag Zwangspause und kann die Beine ohne schlechtes Gewissen ein wenig hochlegen“, freute er sich mit einem Augenzwinkern.

      Während Leni sich einen nicht zu verachtenden Nachschlag auftat überlegte sie, wann sie diesen Entschluss gefasst hatte. Es war, als hätten ihre eigenen Worte sie soeben überrascht.

      Leni und ihr Vater schafften es die gesamte Auflaufform zu leeren. Mit runden Bäuchen und ausgestreckten Beinen saßen sie noch eine ganze Weile am Tisch und dödelten miteinander rum.

      Schließlich machte Leni sich erneut auf den Weg zum Strand. Ohne weiter darüber nachzudenken, legte sie dieselbe Strecke zurück, wie sie es bereits tags zuvor getan hatte. Irgendwie schien klar zu sein, dass es der gleiche Strandabschnitt sein müsste. Ja, er war ihr liebster Ort und doch gehörte er nur zu einem von vielen, die sie regelmäßig aufsuchte. Und sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals den gleichen Platz an zwei aufeinanderfolgenden Tagen aufgesucht zu haben. Und doch zog diese kleine Bucht sie nun fast schon magisch an.

      Wieder war es ein wunderschöner sonniger Tag, nur deutlich weniger heiß und drückend. Trotzdem trug sie diesmal eine kleine Wasserflasche in einer Umhängetasche bei sich.

      Auf den letzten Metern war Leni dankbar, den Weg zu ihrem Strand nun wieder über die Wasserseite antreten zu können und nicht durch das dichte Gehölz zu müssen, das deutliche Spuren an ihren Beinen hinterlassen hatte. Sie zog ihre zwei unterschiedlich farbenen Chucks aus und blickte für einen kurzen Moment auf die glatte Wasseroberfläche, bevor sie sie mit dem rechten Fuß zuerst durchbrach. Unwillkürlich spürte sie, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Und obwohl sich das Wasser nur im allerersten Augenblick kalt anfühlte, klopfte ihr Herz mit jedem Schritt kräftiger gegen die Brust. Als sie die kleine Bucht schließlich einsehen konnte, hielt sie die Luft an und sie meinte, dass das Schlagen ihres Herzens kurzzeitig aussetzte. Erleichtert stieß sie die gestaute Luft geräuschvoll zwischen die Lippen hindurch. Kein Mensch war zu sehen. Neben der Erleichterung machte sich noch ein weiteres Gefühl in Leni breit, das sie sich jedoch unmittelbar, noch ehe sie es näher hätte definieren können, verbot. Langsam bewegte sie sich auf das Ufer zu, unschlüssig, ob sie sich auf den Felsen oder an anderer Stelle in den Sand setzen sollte. Nachdem sie etwas ziellos über den Strand gelaufen war, ließ sie sich unweit des Felsens, fast schon plötzlich, in den Sand fallen. Wieder war es, als hätte sie den Entschluss nicht selbst gefasst; als hätten sie zwei unsichtbare Hände an den Schultern fassend einfach ungefragt nach unten gedrückt.

      Leni befreite sich von ihrer Umhängetasche und stellte sie neben sich ab. Irgendetwas war anders als sonst. Sie empfand eine innere Unruhe und wusste nicht recht, was sie nun tun sollte, bis sie sich innerlich bestimmt zur Räson rief. Nie hatte sie etwas am Strand getan, hatte nie das Gefühl gehabt etwas tun zu müssen. Sie war lediglich da gewesen, hatte die Eindrücke auf sich wirken lassen, die Ruhe und Abgeschiedenheit genossen, Inspiration gefunden ohne danach suchen zu müssen. Mit fahrigen Bewegungen öffnete sie den Reißverschluss ihrer Umhängetasche und fischte die Wasserflasche heraus. Weniger, weil sie Durst verspürte, sondern vielmehr um ihren Händen eine Aufgabe zu verschaffen. Für einen kurzen Moment fand sie Ablenkung, als sie erfreut feststellte, dass der Weg bis zum Strand nicht ausgereicht hatte, um die Kühlschrankkälte gänzlich zu vertreiben. Sie hielt sich die schwitzende Wasserflasche an die Stirn, bevor sie sie mit mehreren tiefen Schlucken fast bis zur Hälfte leerte und schließlich wieder in ihrer Tasche verschwinden ließ. Ihre Hände begannen, erneut nach Beschäftigung suchend, im warmen Sand zu graben, während sie in die Weite blickte. Auch die Gedanken im Kopf schienen nicht still stehen zu wollen. Von der wohltuenden Leere, die sich sonst immer von ganz alleine binnen Sekunden eingestellt hatte, sobald sie nur auf die wogende Fläche des Meeres geschaut hatte, war sie weit entfernt. Stattdessen streifte sie durch ihre Schulzeit, durchforstete kritisch ihre Kunstwerke und blickte auf ihr Familienleben zurück. Dabei meinte sie stets den Hauch einer Bedrohung wahrzunehmen. Fast hatte sie das Gefühl, als liefe sie durch ein Labyrinth. Ein Labyrinth, in dem es keine Wände gab, sondern tiefe Abgründe. Die Pfade, auf denen sie sich vorwärtsbewegte, wurden zunehmend schmaler und immer wieder geriet sie in Sackgassen, die sie zum Umkehren zwangen. Ihr wurde schwindelig. Sie geriet zu dicht an den Abgrund. Der Boden unter ihrem rechten Fuß brach ins Nichts. Haltsuchend breitete sie ihre Arme aus. Ihr Atem ging stoßartig.

      Erst als Leni ihre Umgebung wieder bewusst wahrnahm, begann sie sich langsam zu beruhigen. Sie drückte ihre Hände ans Herz und atmete tief ein und aus. Schließlich ließ sie ihren Oberkörper erschöpft zurück in den Sand sinken. Was war das eben gewesen?

      Dröhnender Kopfschmerz und eingeschweißte Schokocroissants

      Anne