Werner Sauter

Kompetenzentwicklung im Netz


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2007

      2. Kompetenz, Kompetenzerfassung und Kompetenzentwicklung

      Ein siedend heißer Sommertag. Mitglieder der „Arbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungsforschung“ debattieren über die Zukunft beruflicher Kompetenzentwicklung und reden sich die Köpfe heiß. „Können wir nicht die Fenster öffnen, trotz des Verkehrslärms draußen?“ fragt jemand und als alle zustimmend nicken, reißt er die Fenster weit auf. Draußen fährt ein riesiger Kühlwagen vorbei. „Unser Job: Frischekompetenz“ ist dort blau auf weißer Plane zu lesen. Alle stürzen zum Fenster, lachen – gequält und befreit. „Diese Kompetenz hat uns noch gefehlt …“

      Vor mehr als dreißig Jahren neu in sozialwissenschaftlichen Diskursen verwendet, vor etwa zwanzig Jahren breiter in die wissenschaftliche Diskussion aufgenommen, vor zirka zehn Jahren intensiv in Bereichen von Psychologie, Pädagogik und Personalwirtschaft genutzt, hat sich der Begriff Kompetenz zum Allerweltswort, zum Schlagwort entwickelt. Keiner, der keine Kompetenz hat, keine Kompetenz, die es nicht gibt. Also ein nutzloser Begriff?

      Keineswegs, so machen Karlheinz Geißler und Frank Michael Orthey klar – es ist „ein Begriff für das verwertbare Ungefähre“: „Kompetenz wurde zur semantischen Projektionsfläche für Zuschreibungen, die etwas mit Fähigkeiten zu tun haben, die im Lebens- und Arbeitsvollzug gebraucht werden und deren Erwerb möglich ist… Alltagssprachlich wird kalkuliert, dass mit Kompetenz bestimmte Fähigkeiten gemeint sind, die ein besseres, hochwertigeres, angemesseneres Handeln zur Erreichung von vorgegebenen Zielen ermöglichen – und dies immer wieder neu. Kompetenz ist nicht aufzubrauchen…[Der Begriff] scheint auch deshalb besonders attraktiv, weil Kompetenz, im Gegensatz zu Qualifikation, an das Subjekt gekoppelt wird. Verstanden wird insofern unter Kompetenz oft eine Kombination von Fähigkeiten, Kenntnissen und Haltungen…[Kompetenzentwicklung bedeutet] Formen zu entwickeln, mit Nichtwissen zurechtzukommen, und dennoch anschlussfähige und problemorientierte Handlungen zu aktualisieren bzw. zu ermöglichen.“ Das setzt biografisch erworbene Selbstorganisationsfähigkeit und Reflexionsfähigkeit voraus.

      Diese kritisch gemeinten Anmerkungen stoßen – vielleicht gerade der kritischen Haltung wegen – zum Kern der Begriffskarriere vor. Tut man sie nicht als bloße Wortmode ab, sondern sucht die materiell-ökonomische Basis des begrifflich-modischen Überbaus, stellt man fest:

       Es bedarf eines besonderen Begriffs,

       um besondere, immer notwendiger werdende Fähigkeiten zu erfassen, angesichts einer zunehmend komplexen, zunehmend problematischen, immer mehr unsicheren Umgebung (Risikogesellschaft), angesichts wachsenden Nichtwissens zurechtzukommen, gleichsam „ins Offene“ zukünftiger Ziele hinein kreativ zu handeln. Das setzt voraus, die eigenen Denk- und Handlungsschritte zu reflektieren und selbstorganisiert immer neue zu entwickeln. Es bedarf also einer Möglichkeit, biografisch entstandene, sich lebenslang weiterentwickelnde Selbstorganisationsfähigkeiten oder Selbstorganisationsdispositionen des gedanklichen und gegenständlichen menschlichen Handelns auf den Begriff zu bringen;

       um diese Selbstorganisationsfähigkeiten als solche zu kennzeichnen, die, anders als die oft sehr stabilen Persönlichkeitseigenschaften, in Lebens- und Arbeitsvollzügen erworben – und damit auch trainiert – werden können, wodurch auch ein immer besseres, angemesseneres Handeln zur Erreichung immer neuer, insbesondere offener Ziele ermöglicht wird;

       um die Abgrenzung zu den Qualifikationen herauszustellen, die nicht an das Subjekt, sondern an objektive Ziele gekoppelt und dadurch leichter objektiv messbar sind; dabei ist aber zu berücksichtigen, dass es sehr wohl Qualifikationen ohne Kompetenzen, aber keine Kompetenzen ohne Qualifikationen gibt;

       um das im komplexen, oft chaotischen Alltags- und Arbeitshandeln untrennbare und unaufhebbare Zusammenspiel von Fertigkeiten, einfachen Fähigkeiten, Kenntnissen und Qualifikationen einerseits mit Haltungen, also zu eigenen Emotionen und Motivationen verinnerlichten Regeln, Werten und Normen, zu erfassen;

       um zu betonen, dass die soeben umrissenen „weichen“ Faktoren, obwohl viel schwerer objektiv messbar, viel entscheidender für das Humankapital eines Unternehmens und damit, thematisiert unter dem Stichwort des Kompetenzkapitals [1], für die Verwertbarkeit kreativer menschlicher Handlungsfähigkeiten viel wichtiger sind, als bloße Fertigkeiten, Kenntnisse oder Qualifikationen.

      Diese fünf Gesichtspunkte spiegeln also objektive Bedingungen der Gesellschaft und Arbeitswelt am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts wieder.

      Abb. 1 Objektive Bedingungen und Anforderungen der Arbeitswelt im 21. Jahrhundert

      Sprachliche Begriffe sind Bezeichnungen für verhaltens- und handlungsrelevante Sachverhalte. Während solche Sachverhalte im Handeln aus der Realität herausgefiltert werden können, wie beispielsweise die genannten fünf Gesichtspunkte, sind die sprachlichen Bezeichnungen selbst in hohem Maße willkürlich, zufällig, „kontingent“, wie der Ausdruck für den kreativen Zufall lautet. Auch wenn wir andere sprachliche Begriffe, etwa Schlüsselqualifikationen, oder Soft Skills, verwenden, stehen doch die gleichen handlungswichtigen Sachverhalte dahinter.

       Aktueller Kompetenzbedarf in Unternehmen und Organisationen – einige Beispiele

       Was sich Unternehmen von Schulabgängern wünschen, haben die IHK in Baden-Württemberg 2005 ermitteln lassen. Dort spielen, neben fachlich-methodischen Kompetenzen, der grundlegenden Beherrschung der deutschen Sprache, einigen Fremdsprachenkenntnissen, der Beherrschung einfacher Rechenmethoden und Grundkenntnissen im IT-Bereich sowie Grundkenntnissen im naturwissenschaftlichen und ökonomischen Bereich, vor allem personale Kompetenzen, wie Zuverlässigkeit, Lern- und Leistungsbereitschaft, Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Selbstständigkeit, Kritik- und Selbstkritikfähigkeit oder Kreativität, aktivitätsbezogene Kompetenzen, wie Ausdauer, Durchhaltevermögen, Belastbarkeit oder Flexibilität, die allerdings nicht gesondert ausgewiesen werden und sozial-kommunikative Kompetenzen, wie Kooperationsbereitschaft,