ein. Um grundsätzliche Auskünfte gebeten, die als Modell für die eigene Praxis dienen konnten, wurden die unterschiedlichen Beobachtungen zusammen-gefaßt zu abstrakten Erkenntnissen, zu theoretischen Überlegungen.
Dabei wäre es wohl geblieben, hätte nicht ein Verlag mich aufgefordert, für einen Berichtsband einen kurzen Beitrag zu schreiben, der möglichst anschaulich meine Erkenntnisse über "die" lutherische Gemeinde in den USA wiedergibt. So entstand eine Geschichte, ein in Ich-Form geschildertes Wochenende in St. Anna: eine Geschichte, die ich nie erlebt hatte, verdichtet aus vielen Einzelzügen unterschiedlicher Gemeinden - eine erfundene Handlung mit erfundenen Personen, in denen sich an verschiedenen Stellen Erlebtes widerspiegelte und konzentrierte. Und doch glaube ich: Diese erdachte Geschichte ist "wahrer" als all die vielen, die ich zunächst erzählt hatte.
Erzählen bedeutet, Erfahrungen zu komprimieren
Ganz ähnliches gilt vom Mythos: Was Menschen jeweils neu und doch oft vergleichbar erlebt haben in der Begegnung mit den Ur- gründen des Seins, mit dem Jenseitigen, was sie aber eben auch bedacht und gedeutet und verarbeitet haben, das wird in der Bildersprache einer Erzählung zur Grundlage dessen, worauf man vertrauen, wodurch man Leben deuten und begründen kann. Mythen sind erzählte Transzendenz - oder umgekehrt: Erst die Erzählung macht das religiöse Erlebnis tradierbar, eröffnet dem Einzelnen die Möglichkeit, seine eigenen, begrenzten Lebenserfahrungen zu hinterfragen und zu überschreiten:
Erzählen bedeutet, Erfahrungen zu transzendieren
Erzählen als Predigt
Ich erzähle eine Geschichte nicht deshalb, weil sie in der Bibel steht, obwohl es seinen Grund hat, daß die Bibel voll von Geschichten ist. Ich erzähle sie auch nicht, weil ich damit etwas von Gott erklären möchte. Ich erzähle sie,
weil Gott mir begegnet ist in dieser Geschichte,
weil ich darum anderen Menschen ebenso von Gott erzählen möchte, damit er auch ihnen begegnet in meiner Geschichte.
Darum erzähle ich in meiner Geschichte von mir und von dem anderen, der mir zuhört, und er wird in meiner Geschichte ebenso drin sein wie ich selbst. Und darum wird am Ende diese Geschichte seine Geschichte sein, seine ganz eigene Geschichte - so, wie meine Geschichte einmal die eines anderen gewesen ist: die von Jesus und danach die von Markus und dann die von Lukas oder Matthäus. Immer aber ist es eine Geschichte, in der Gott den Menschen begegnen will.
Ich predige ja nicht über eine Geschichte, sondern ich predige, indem ich eine Geschichte erzähle. Es läßt sich auch umgekehrt sagen: Wenn ich erzähle, dann "illustriere" ich damit nicht meine Predigt, sondern dann predige ich.
Erzählen ist also eine Form von Verkündigung, nicht die einzige, aber sie steht zumindest gleichberechtigt neben den anderen. Und es ist, wie wir sahen, eine sehr elementare Form, weil sie Erfahrungen - auch und gerade Erfahrungen mit Gott - weitervermittelt.
Eine "narrative" Predigt hat in meinen Augen darum ganz wesentliche Vorteile:
• Sie gibt ganz unmittelbar solche Erfahrungen weiter und ermöglichst es dem Zuhörenden, ebenso unmittelbar eigene Erfahrungen zu machen. Erzählung zieht ihn gleichsam hinein in das Leben und in die Deutung des Lebens. Darum ist Erzählung auch eine sachgemäße Form, Glauben zu wecken: weil Glaube auf Erfahrungen beruht und neue Erfahrungen ermöglichen will.
• Die narrative Predigt bietet so dem Zuhörer Möglichkeiten der Identifikation. Sie ist eindringlicher als jede Argumentation, aber sie läßt ihm die Freiheit, ob er sich diese fremden Erfahrungen zueigen machen will oder nicht. Sie will seine Zustimmung nicht erzwingen wie eine logische Beweiskette. Wo dagegen erzählt wird, ist der Hörer eingeladen, sich seinen eigenen Ort in der Geschichte zu suchen. Geschichten erlauben Distanz, aber sie überwinden zugleich Distanz.
• Narrative Predigten können durchaus auch verschiedene Möglichkeiten der Identifikation anbieten, statt in eine dogmatische Engführung zu verfallen: Menschen können im gleichen Geschehen durchaus unterschiedliche Erfahrungen machen. Ihnen bleibt die Freiheit, sich das an Erfahrung anzueignen, was ihrem eigenen Lebensschicksal nahekommt, was auf ihre eigenen Fragen eine Antwort bietet.
• Narrative Predigten müssen also keinen "Skopus" haben, auch wenn sie eine Sache "auf den Punkt" bringen wollen: Es ist ja allzuoft eine intellektuelle Überheblichkeit, von einem normalen (nicht akademisch trainierten) Zuhörer die Konzentration zu verlangen, einem Gedankengang über vielleicht zwanzig Minuten hinweg auf ein einziges Ziel hin zu folgen. Eine Erzählpredigt dagegen bietet viel eher eine Mehrzahl von Einsichten und erlaubt es so dem Gemeindeglied, assoziativ zu hören, das auszuwählen und mitzunehmen, was ihm jeweils bedeutsam ist.
Zu den folgenden Predigten
• Alle diese Beispiele sind nicht nach langer Reflexion und mit Blick auf eine spätere Veröffentlichung entstanden, sondern unter den Alltagsbedingungen des Pfarramtes für den Gottesdienst am kommenden Sonntag geschrieben - also unter dem üblichen Zeitdruck, aber auch unter dem Einfluß bestimmter Geschehnisse in der eigenen Gemeinde. Benutzt wurden dabei die gerade zugänglichen exegetischen Hilfsmittel, vor allem die schnell lesbaren Predigthilfen. Das alles kann im Nachhinein meist nicht mehr dokumentiert werden.
Ich kann hier nur all denen danken, die jeweils exegetische Kenntnisse geliefert und homiletische Hilfestellung gegeben - und manches Mal auch Anregungen zur narrativen Gestaltung der Predigt geboten haben. Und ich muß um Entschuldigung bitten, wenn ich die Urheber vieler übernommener Ideen nicht mehr benennen kann.
• Einige Leserinnen und Leser werden bei diesen Predigten auch kritische Einwände haben. Manches ist sicherlich exegetisch angreifbar, anderes mag theologisch nicht genügen - ganz abgesehen von der jeweils eigenen "theologischen Existenz" des Predigers. Aber darum sind diese Beispiele ja auch nicht veröffentlicht. Sie sollen nur zeigen, wie aus einer Perikope eine narrative Predigt erwachsen kann.
• Die folgende Gliederung in unterschiedliche Formen des Narrativen ist ebenfalls erst der nachträgliche Versuch einer Systematisierung. Ich will damit keine "literarischen Gattungen" einführen, sondern auf - wie ich meine - recht unterschiedliche Möglichkeiten hinweisen, erzählend zu predigen. Die Beispiele belegen selbst, daß sich diese Formen nicht schematisch eingrenzen lassen. Sie gehen immer wieder ineinander über und ergänzen sich. Ich kann zum Beispiel eine "Wirkungsgeschichte" einfach entfaltend, aber auch perspektivisch oder diskursiv erzählen.
• Unterschiedlich ist auch, wie ich mit solchen Erzählpredigten auf die Gemeinde zugehe. Teils habe ich ganz ohne jede Hinführung einfach erzählt - vor allem in der eigenen Gemeinde, die an diese Form gewöhnt war und sie oft regelrecht erwartete. Teils habe ich eine Erklärung vorweggeschickt, warum ich jetzt erzählend predigen möchte, und/oder eine Schlußbemerkung angefügt, die aus der Erzählung wieder herausführte. Das lag auch an der jeweiligen Perikope, oder daran, ob eine Lesung des Textes vorausgegangen war oder nicht.
• Zu jedem Predigtbeispiel möchte ich im Nachtrag - und auch wirklich erst "nachträglich" - Rechenschaft geben über die gewählte Form, über den Zielgedanken und dessen inhaltliche Gestaltung. Ich möchte die Leserin und den Leser dieses Buches teilhaben lassen am Werkstattgeschehen, soweit dies noch möglich ist, und damit Mut machen zu eigenen Versuchen mit dieser besonderen Form des Predigens.
1. DIE ENTFALTENDE ERZÄHLUNG
Zur Form:
Sozusagen die klassische Form des Erzählens ist, daß die Handlung von einem "allwissenden Erzähler" berichtet wird. Jenseits von Raum und Zeit des Geschehens beobachten wir, was sich abspielt, welche Gefühle die Akteure bewegen, welchen Gedanken sie nachhängen. Wir können zurückspringen in die Vergangenheit, Zukunft vorwegnehmen, Orte wechseln, Blickpunkte verändern.
Für die Predigt bedeutet das: Die biblische Geschichte mit ihrem Inhalt, mit Anfang und Ende bleibt vorgegeben.
Wir