Eckhard Lange

Von Gott erzählen


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antwortete der Mann, "wir haben alles, was wir brauchen zum Leben. Und wir haben uns gegenseitig. Es ist wunderbar. ER hat alles wunderbar gemacht." Die Frau nickte: "Er hat uns alles gemacht, was wir brauchen. Er ist uns gut."

      Es schien, als ob die beiden von Gott sprachen. Aber sie nannten ihn nicht so, sie nannten ihn einfach mit seinem Namen: "Jahwe" sagten sie, und sie redeten ganz ohne Furcht von ihm, ganz ohne Abstand - wie von einem guten Freund. Sie kannten ihn ja. Er hatte ihnen dieses blühende Land überlassen, und sie hatten sich dort eingerichtet. Sie hatten sich ein Dach gegen den Regen gebaut, sie hatten die Bäume und Büsche gepflegt und ihre Früchte geerntet. Sie schöpften das klare Wasser aus der Quelle gegen ihren Durst; und abends, wenn die Dämmerung den Himmel buntfärbte, gingen sie Hand in Hand durch den lichten Wald, der ihnen gehörte: lachten, sangen, tanzten, bis die Sonne unterging. Sie hatten keine Angst, wenn sie sich zur Ruhe legten - ER war ja ihr Freund. Sie empfanden keine Sorge, wenn sie an die kommenden Tage dachten: Das Land brachte ja reichlich Früchte hervor.

      Sie hatten auch keine Angst voreinander: Sie sprachen miteinander über alles, was sie bewegte. Sie brauchten keine Geheimnisse zu haben voreinander. Sie freuten sich gemeinsam an dem, was sie miteinander geschaffen hatten. Sie berühren sich ohne Erschrecken, denn sie waren sich vertraut - ganz und gar.

      Die Frau hatte die Blätter zu ihrer Hütte getragen. Nun ging sie zum Bach hinunter. Ihre Finger glitten zärtlich über die Rinden der Bäume, dann streifte sie ein paar Beeren von dem Zweig, der sich ihr entgegenstreckte. Die Frau sang leise, erfand eine eigene Melodie. Plötzlich blieb sie stehen. Dort, am Ufer, stand ein Baum. An seinen Ästen hingen gelbbraune Früchte. "Das ist Jahwes Baum," sagte die Frau zu den Vögeln, die sich auf den Zweigen sonnten. Es klang fast ein wenig vorwurfsvoll. Die Vögel rührten sich nicht. Die Frau trat näher heran. Zum ersten Mal betrachtete sie den Baum. Wie oft war sie hier schon vorübergegangen, ohne ihn zu beachten. Merkwürdig, dachte sie, ich habe ihn noch nie richtig angesehen. Aber es war ja auch Jahwes Baum.

      "Ihr habt überall Nahrung genug," hatte Jahwe zu ihnen gesagt, damals. "Diesen einen Baum laßt unberührt. Es ist nicht gut für euch, von seinen Früchten zu essen. Laßt sie hängen. Es ist mein Baum." So hatte er geredet, freundlich wie immer. Die Frau erinnerte sich ganz deutlich an jenen Tag, an dem sie mitten in diesem Garten erwachte. Kein Zaun umgab den Baum, kein Schild war aufgestellt. Wozu auch? Er hatte es ihnen ja gesagt.

      Nur sein Wort stand zwischen der Frau und den Früchten. Nur sein Vertrauen. War das nicht genug? Warum sollte er den beiden ein Stück ihrer Freiheit nehmen, wenn er es ihnen doch sagen konnte: "Das ist mein Baum." Nein, Jahwe hegte kein Mißtrauen gegenüber den beiden Menschen - er war ihr Freund, er war für sie da, all die vielen Bäume und Büsche in dem großen Garten hatte er ihnen geschenkt, warum sollt ein einziger davon nicht auch für ihn sein?

      Die Frau strich vorsichtig mit der Hand über den Stamm: Glatt und fest fühlte er sich an. "Das ist Jahwes Baum," sagte sie noch einmal. Dachte sie dabei an die Vögel, oder sagte sie es nur so? Ein Sonnenstrahl fiel auf eine der Früchte, ganz dicht vor ihren Augen. Schön sieht sie aus, dachte die Frau. Ganz leicht berührte sie die gelbe Schale. Dann umspannten ihre Finger die Frucht. Warum hat er gerade diesen Baum für sich behalten, dachte sie. "Er ist doch unser Freund, er hat uns doch so viel geschenkt!" Sie sagte es so laut, als wollte sie es selber hören, wie sie ihm vertraute. Aber sie ließ die Frucht nicht los.

      "Warum soll dieses kleine Ding nicht gut für uns sein? Wir haben ja noch garnicht davon probiert. Wir können es ja garnicht wissen." Die Frau blickte sich erschrocken um: Es war, als ob eine andere Stimme neben ihr so sprach. Aber da war niemand, nur ein Tier raschelte im Gras. Plötzlich zuckte ihr Arm ein wenig, und die Frucht lag leicht und frei in ihrer Hand. Da lief sie den Weg zurück, dorthin, wo der Mann vor der Hütte saß. "Schau, was ich habe," rief sie schon von weitem. "Ist das nicht von Jahwes Baum?" fragte er erstaunt. "Hat er es dir geschenkt?"

      "Nein." Sie sagte es jetzt ganz atemlos, und das lag nicht daran, daß sie eben gelaufen war. "Nein. Ich habe sie genommen. Es ist doch unser Garten, nicht wahr? Wie sollen wir hier leben, wenn wir nicht selber entscheiden dürfen, was wir essen können." Der Mann hatte aufmerksam zugehört. Er nahm die Frucht in die Hand und betrachtete sie. "Aber Jahwe ist unser Freund," sagte er. "Er vertraut uns."

      "Mag sein," antwortete sie. "Ich jedenfalls will wissen, ob dieses Ding gut oder schlecht ist. Ich will mich nicht immer nur auf einen andern verlassen. Wir können das auch allein bestimmen. Dazu brauchen wir keinen Freund." Und sie nahm die Frucht und biß hinein, und dann gab sie sie dem Mann, und er machte es ebenso. Während er aß, blickte er die Frau an: Merkwürdig, dachte er, habe ich das vorher denn noch nie bemerkt? Sie schaut mich so kühl an, so abschätzend. Und plötzlich lief ein Frösteln über seinen Körper: Sie hat die Freundschaft Jahwes ausgeschlagen - wie lange wird sie dann noch zu mir halten? Noch nie hatte er so etwas gedacht. Aber jetzt war sie auf einmal so anders - oder war er es selbst? Ich will in die Hütte gehen, dachte er. Ich will mir den besten Platz aussuchen. Ich muß mehr an mich selber denken.

      Die Frau blickte ihm nach: Er hat gar nicht begriffen, was ich wirklich gewollt habe. Früher hatten wir einander doch immer gleich verstanden. Er ist auf einmal anders als sonst. Er ist so fremd - oder bin ich es selbst? Der Mann lag in der Hütte, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Sie hat damit angefangen, dachte er. Eigentlich ist es ihre Schuld. Ja, das werde ich sagen, wenn mich einer danach fragt. Da hörte er Schritte im Garten. Erschrocken sprang er auf und lief auf das Gebüsch zu. Er duckte sich unter die Zweige.

      "Warum versteckst du dich?" Es war Jahwes Stimme, ruhig und freundlich wie immer. "Hast du kein Vertrauen mehr?" - "Ich habe Angst," sagte der Mann. "Angst?" fragte Jahwe. "Was traust du mir zu?" - Auf einmal war Jahwes Stimme ganz traurig. Der Mann spürte es ganz deutlich, auch wenn er ihn nicht sah. "Du hast dich also anders entschieden."

      "Sie war es," sagte der Mann. "Nein. Ihr wart es beide," antwortete die Stimme. "Ihr wollt also ohne mich leben. Ich werde euch nicht daran hindern. Ohne Vertrauen mag ich nicht bei euch sein." Und dann verhallten Jahwes Schritte langsam im Garten.

      Noch nie war ihnen die Nacht so kalt vorgekommen. Wie frierend standen der Mann und die Frau neben der Hütte. "Wir werden es schon schaffen," sagte er zu ihr und griff nach seiner Hacke. Aber der Boden war hart, als wäre er gefroren. Er schlug zu, immer und immer wieder. Angst überkam ihn: Ich muß für Nahrung sorgen, einen Vorrat anlegen, dachte er. Ich muß die Hütte abdichten, damit die Kälte draußen bleibt, dachte er. "Wir werden es schon schaffen," sagte er noch einmal, während der Schweiß von seiner Stirn perlte. Die Frau sagte nichts. Sie hatte die Lippen fest aufeinandergebissen und preßte die Hände gegen den Leib. Auf einmal fühlte sie sich sehr einsam. War das erst heute morgen gewesen, als sie noch singend zum Bach hinunterging

      Ihr habt euch entschieden, hatte Jahwe gesagt. Jetzt waren sie also allein. Und jetzt hatten sie auch Angst - vor den kommenden Tagen, und vor einander. Aber sie hatten ihr Schicksal ganz in die eigene Hand genommen. Jetzt war der Garten erst ganz ihr Eigentum. Aber er war ihr auf einmal fremd geworden - wie Gott, zu dem sie einmal freundschaftlich und vertrauensvoll "Jahwe" gesagt hatte - und wie der Mann neben ihr.

      "Ob er wohl jemals wieder ganz mein Freund wird, dem ich mich anvertrauen kann?" sagte sie leise vor sich hin. Und man wußte nicht recht: Meinte sie nun den anderen Menschen neben sich - oder jenen Gott, den es einmal gab in ihrer Welt, ganz nah und ganz vertraut?

      Ich habe nur eine Geschichte erzählt. Natürlich ist so etwas nie passiert, irgendwann einmal in grauer Vorzeit. Und doch kann diese Geschichte immer wieder wahr werden, denn es ist eine Geschichte über den Menschen und über seine Entscheidung. Und so bleibt die Frage immer wieder offen: Wie mag unsere eigene Geschichte einmal erzählt werden?

       Kommentar

      Genesis 3 ist eine mythische Erzählung. Sie reflektiert in Bildersprache die Herkunft des Bösen in der Welt, die Entstehung von Schuld und Entfremdung. Sie ist zugleich, das hat Gerhard von Rad in seinem Genesiskommentar gezeigt, als Teil des jahwistischen Erzählwerkes eine hochrationale Erzählung, die religiöse Ur-Einsichten mit anthropologischen Kenntnissen verbindet.

      Der Verlust des Vertrauens