Eckhard Lange

Von Gott erzählen


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Folgen auch für das menschliche Miteinander sind die eigentlichen Themen der Erzählung.

      Von daher stellt sich die Frage: Darf man eine so meisterhaft hintergründige Geschichte zerreden durch Erklärungen oder Ermahnungen? Zugleich aber: Kann man diese Geschichte überhaupt neu und entfaltend nacherzählen, ohne daß ihre wunderbare Ver-Dichtung zerstört wird?

      Ich habe deshalb versucht, sie in ihrer zeitlos-schwebenden Gültigkeit zu belassen und das vorhandene Material behutsam zu deuten für den heutigen Menschen: Das Paradies soll nicht zu einem unvorstellbaren Dasein werden, zu einem jenseits der Wirklichkeit liegenden Land: Es ist unsere Welt unter dem Aspekt der Gottesnähe und des Gottvertrauens. Vertreibung aus dem Paradies ist Verwandlung und Zerstörung unserer Welt durch unseren Verzicht auf Gott. Dafür bedarf es keines Engels, der das Tor mit dem Schwert bewacht.

      Daß meine Geschichte "psychologisiert", etwa indem das Wort der Schlange zum denkbaren Gedanken des Menschen wird, folgt der Tendenz des Jahwisten. Damit wird der eigentliche "Sündenfall" zu einem inneren Ereignis ebenso wie seine Folgen ebendort - im Selbstverständnis des Menschen, und dann erst auch in seinem Verhältnis zu Mitmensch und Natur.

       Das wollte ich erzählen: als "Mythos" - als bildhaft erlebbares Ur-Bild menschlicher Existenz unter Aufnahme der Bildelemente von Gen. 3, als Geschichte von Gottesnähe und Gottesferne: Das "Paradiesische" am Garten Eden sollte so geschildert werden, daß seine Grundlage - das ungestörte Vertrauen in den Schöpfer - erkennbar wird. Die - falschverstandene, weil gegen Gott gerichtete - "Selbstverwirklichung" des Menschen wollte ich nachvollziehbar aufzeigen als Anfrage an uns heute, indem ich den inneren Prozeß der Entfremdung von sich selbst und voneinander behutsam nachmale, aber auch das dadurch veränderte Verhältnis zur uns umgebenden Natur - ohne die "mythische" Form der Geschichte zu zerstören. Daß Gott nicht zürnt, sondern trauert - und damit auf unsere Umkehr wartet, aus der selbstherrlichen zurück in die vertrauensvolle Freiheit - sollte als Botschaft weitergegeben werden.

       Beispiel 3: Lukas 17, 11 - 19

       Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch das Gebiet zwischen Samarien und Galiläa zog. Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! Und da er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

      "Mutter, Mutter, komm rasch!" Der kleine Daniel stürzt aufgeregt ins Haus. Atemlos stößt er hervor: "Vater ist im Dorf! Er kommt nach Hause!" Kopfschüttelnd blickt die Frau den aufgeregten Jungen an, ein trauriges Lächeln steht auf ihren Lippen: "Ach, Dan, du träumst mal wieder! Vater darf nicht ins Dorf. Wie oft habe ich dir das schon erklärt: Er ist krank. Niemand darf ihn berühren."

      "Aber er kommt wirklich; ich habs doch gesehen! Er ist nicht mehr krank!" Die Mutter will etwas erwidern, da wird es plötzlich laut auf der Straße. Stimmengewirr kommt näher, freudige Rufe. Und immer wieder klingt ein Name hindurch: "Jona," rufen sie, "willkommen! Hallo Jona! Jona ist gesund!

      Die Frau ist an die Tür getreten, zitternd lehnt sie sich gegen die Wand. Es ist nicht wahr, denkt sie. Ich habe ihn doch gesehen, oft genug - von weitem, wenn ich ihm Essen hinaustrug und an den Wegrand stellte. Ich habe seine Hände gesehen, sein Gesicht. Nein, das geht nicht fort - nicht von heute auf morgen. Vielleicht nie mehr.

      Aber da steht er plötzlich vor ihr, ihr Mann, faßt sie zärtlich mit beiden Händen an den Schultern, drückt sie an sich. Ja: Es sind seine Hände, und sie sind gesund. Es ist sein Gesicht, das sie strahlend anlacht - ohne diese aufgequollenen Stellen. Tränen treten ihr in die Augen. "Jona!" Sie flüstert es nur. "Ja, ich bins wirklich! Gesund und munter, Gott sein Dank! Ich bin so froh, wieder bei euch zu sein - froh und dankbar. Jetzt kann ich es ja sagen, wie sehr ich euch vermißt habe: dich und den Jungen. Aber nun bin ich gesund. Nun ist alles vorbei - dieses Leben da draußen, ausgestoßen wie ein Tier." Seine Hand fährt durch die Luft, als wollte sie etwas beiseite schieben: "Vergessen wirs!"

      Er sieht ihren fragenden Blick: "Denk dir nur, der Rabbi aus Nazareth hat uns geholfen. Ein großer Rabbi! Ein guter Rabbi! Gott möge es ihm lohnen." Er sieht sich um: "Mein Gott, wie lange war ich fort! Wieviel ist hier in Ordnung zu bringen! Aber nun kann ich wieder für euch sorgen, für dich - und für unseren Dan. Das ist das schönste!"

      Ein Mann ist heimgekommen, von schwerer Krankheit genesen. Glücklich kehrt er zu seiner Familie zurück, glücklich, wieder unter Freunden und Nachbarn zu sein. Voller Tatendrang macht er sich daran, das Liegengebliebene in Angriff zu nehmen, dieses neugeschenkte Leben sinnvoll auszunutzen, seine Pflichten zu erfüllen in seiner kleinen Welt. Er will nicht bestaunt werden, er will wieder leben wie früher. Er weiß, was Gesundheit wert ist.

      Ist er undankbar? Denkt er nur an sich? Nimmt er das Geschenk, wieder gesund zu sein, ungerührt entgegen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß so etwas geschehen könnte, daß auch nur einer von den zehn Aussätzigen nicht dankbar und fröhlich heimgegangen ist. War es nicht ganz natürlich, was sie wohl alle getan haben, nachdem sie gesund geworden waren - alle neun?

      Aber es gab da noch einen, der tat etwas anderes: Er war mit ihnen fortgegangen, den Gefährten seines Elends. Voller Hoffnung, voller Erwartung hat er sich auf den Weg gemacht, weil der Rabbi aus Nazareth es gesagt hatte - genau wie sie alle. Und dann entdeckten sie plötzlich, daß sie gesund waren. Glücklich fielen sie sich in die Arme, lachten und weinten. Sie begannen zu laufen, hastig und atemlos, um ihre Haut dem Priester zu zeigen nach den Vorschriften, um endlich dieses Leben abzuschütteln, das doch kein Leben war.

      Zuerst ist er mitgelaufen. Aber dann werden seine Schritte langsamer. Nun ist er stehengeblieben. Die freudige Aufregung der anderen verklingt in der Ferne. Er hat es nicht mehr eilig. Er muß plötzlich nachdenken. Er betrachtet seine Hände, seinen Körper: Es ist wie - ja, wie ein neues Wesen, denkt er. Seltsam: Was die Menschen sonst nur in den uralten Bildern vom Werden und Entstehen der Welt weitererzählen über das Leben, was sie erzählen vom Grund und Ziel dieser Welt - man kann es selbst erfahren. Ich bin ihm doch begegnet, diesem Grund der Welt, den wir Gott nennen. Ich bin ihm begegnet - jetzt, hier: auf jenem Acker dort am Weg.

      Erschrocken hält er inne. Was ist schon geschehen, sagt die Stimme des Zweifels in ihm. Du bist gesund geworden von einer schlimmen Krankheit - das ist schön; das ist überraschend und wunderbar. Du kannst froh sein, sicher. Aber es kann doch geschehen. Allen ist es geschehen, allen zehn - und anderen vorher auch. Doch er schüttelt seine Zweifel ab. Seine Gedanken kommen nicht davon los, von diesem einen: Ich bin gesund geworden, ja. Es war nichts, was andere nicht auch erleben können, ja. Aber - es ist doch ein Zeichen des Lebens, des wirklichen Lebens, das hinter allem steht. Es erfüllt ihn auf einmal mit grenzenlosem Staunen.

      Mit zitternder Freude steht er da, irgendwo auf dem Weg ins Dorf. Ich bin dieser unendlichen Güte begegnet, die alles trägt, was ist, der wir alles verdanken. Ich habe erfahren, daß sie Wirklichkeit ist! Mein Leben - es ist nicht leer, nicht sinnlos, nicht trostlos, nicht ziellos. Es hat einen Grund.

      Er fühlt sich plötzlich wie ein Kind, das in der kalten, einsamen Dunkelheit auf einmal von den warmen, schützenden Armen der Mutter umfangen wird: ganz ohne Angst, ganz geborgen, ganz zuhause. Nun hat dieser Gedanke für den Mann nichts Erschreckendes mehr. Er erfüllt ihn mit Freude. Nicht mit dem lauten Jubel von eben, als er merkte, daß er gesund ist. Es ist die alles durchströmende Freude, das eigentliche Leben entdeckt zu haben, hineingezogen zu sein. Diese Freude hat ihn verändert - mehr als es seine kranke Haut verwandelt hat.

      Er blickt den Weg entlang, den seine Gefährten gelaufen sind, aber er folgt ihnen nicht. Was soll er zum Priester gehen? Was kann der ihm jetzt noch sagen? Er hat erfahren, wie Gott ist - mitten in dieser Welt