Gabriele Plate

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge


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Verneinung oder einem Hmhm teil. Ein Hmhm, mit dem fragenden Sound nach oben, reichte ihnen. Dann waren nicht einmal seine mühsam einstudierten Silben ohne Zungenlaute nötig.

      Diesen Menschen galt er als besonders angenehmer Gesprächspartner. Die willkommene Wichtigkeit, eines weniger aufmerksamen als stummen Zuhörers, offenbarte sich ihm erstaunlich oft. Paul gab keine missionarisch gefärbten Ratschläge, nie protestierte er lauthals oder behauptete hartnäckig das Gegenteil, und niemals unterbrach er einen Redeschwall. Etwas, was ihn so ungeheuer köstlich für ein redefreudiges Gegenüber erscheinen ließ. Jene Wenigen, die wussten, dass er nicht sprach, brachten ihn erst gar nicht in die vermeintliche Verlegenheit einer erwartenden verbalen Antwort. Und Jene, die es weder wussten noch bemerkten, ereiferten sich genügend an ihren eigenen Worten.

      Der auffallend attraktive und einst so sprachgewandte Paul entschied, meist schon nach den ersten Sekunden einer Begegnung, sein Lächeln aufzusetzen, während er in eine gedankliche Abgeschiedenheit floh. Diese Situationen, die er versuchte zu vermeiden wo immer es ihm möglich war, strengten ihn ungeheuer an. Er war sehr müde geworden, nur Laute, wie diese Ahs und Ohs oder auch Hms, mit oder ohne Fragezeichen, waren ihm im Notfall noch zu entlocken. Er isolierte sich vollends. Es sei denn, sein behandelnder Arzt saß ihm gegenüber.

      Paul, der Schönheitschirurg, hatte keine Zunge mehr, sie war ihm gestohlen worden. Abgeschnitten und verschwunden! Er war ein junger, gutaussehender Mann gewesen, ein wenig leidenschaftlich engagierender Chirurg und ein flügelloser Vogel nun.

      Paul hatte am späten Morgen, in der Nähe des Klinikgeländes, an einer Bus Haltestelle gestanden. Er hatte zuvor jede hilfreiche Begleitung energisch abgewiesen.

      Es zeigte sich keine Richtung. Er drehte sich langsam ruckweise nach links, ohne bewussten Bedacht in dieser Bewegung, willenlos von seinem Körper vollzogen, wie in völliger Abwesenheit. Seine Füße begleiteten sich im Gleichruck und gaben zentimeterweise diesem abwesenden Wunsch der Drehung nach. Ohne seinen Standpunkt zu verändern drehte Paul sich langsam um sich selbst. Das symbolisierte seinen derzeitigen Lebenszustand. Einmal links herum und einmal rechts herum. Dreihundert zweiundsechzig Grad, zurück und im Kreis.

      Er schloss die Augen nicht, die Arme hatte er weit von sich gestreckt, es schien, als suche er Empfang, und er bohrte sich dabei unmerklich langsam in die Tiefe. Ein oberflächlicher Beobachter hätte ihn, seiner Bewegung und seinem glasigen Blick nach zu urteilen, für einen Geisteskranken halten können. Nur ein Geisteskranker verhielt sich so, oder ein Kind, ein abwesend spielendes Kind.

      Unter seinen Füßen hatte sich ein perfekter Kreis in den Sand gescharrt, sich hinein geschraubt. Sandhäufchen, die sich wie längliche Dünen seitlich der Schuhsohlen gebildet hatten, wurden langsam fast unmerklich aus dem runden kleinen Feld hinauf geschoben. Sie verstärkten den äußeren Rand des Kreises, es entstand ein kleiner, runder Damm.

      Das Unbekannte existiert überall, rundherum, in jedem Millimeter, undefiniert aber vorhanden verbirgt es sich in dem Bekannten. Paul roch es deutlich. Ein Schwarz, unendlich und doch ersehnt, und manchmal schnellte es hervor. Es gab Tage, da wurde er schon beim ersten Zeichen des Erwachens von diesem Schwarz und seinem Angstnebel geknebelt. Das Unbekannte lauerte dann wie ein Abgrund des Endes, als Unvorstellbarkeit, als Gewinner des Hohns. Sein Tagesablauf, seine Schritte, Atmung oder Hungergefühle, besonders die voluminöse Medikamenteneinnahme, all das erschien ihm dann völlig absurd. Dieser Zustand verwandelte ihn in einen Regenwurm, der versucht einen Schmetterling zu fangen.

      An anderen Tagen konnte das Schwarz in ihm die Stimmung der Bewegung erzeugen, des Abenteuers, der unbedingten Aufforderung, dieses Schwarz mit Licht und Farben bekannt zu machen. Dann schien es alles beinhalten zu können und in seinem Dunkel sogar zu glänzen, ebenso wie in seinem erfundenen Duft des Lichtes. Dann war die Angst wie ein Freund, der zum Leben aufrief, zum Kampf. Gegensätze im allgemeinen Inhalt, der Hoffnung und des Abgrundes.

      Kein Abgrund kann, konnte und wird jemals unendlich sein. Jede Tiefe erreicht unabänderlich, irgendwann ihren tiefsten Punkt als Ende. So wie jedes Wachstum für immer und ewig, am Ende jeder Höhe oder Schwere, seine Grenzen als Tod erfährt. Und genau dort, an einem dieser verschiedenen, unzähligen Möglichkeiten des Endes, ist ein Irgendetwas. Das wusste Paul, anders konnte es nicht sein. Nichts kann nicht das Ende des Abgrundes sein, keines Abgrundes, auch nicht Pauls. Und wenn es nur ein Sandkorn ist, eine Zelle, eine Spore oder die Hoffnung. Etwas wartet immer dort unten.

      Aber er glaubte ebenfalls, dass es ein Immer nicht gibt. Weder ein Immer, noch ein Immer für Etwas. Diesen Gegensatz, zwischen der immer wartenden Spore und dem fehlenden Immer, spürte Paul ganz deutlich, als hätte er ihn schon durch den Tod seiner Liebsten gelebt. Und genau das gab ihm in diesen Momenten die Kraft, das Nicht-Immer an seinen Platz zu verweisen. Dann gelangte er meist hinaus aus diesem Zustand, zurück in das normale Leid, und die Lippenknabberei.

      Er war schlotternd vor Kälte in den Bus gestiegen. Kein Sitzplatz frei. Seinen Wagen hatte er auf dem Parkplatz der Universitätsklinik zurückgelassen. An diesem Tag hatte er sich unfähig gefühlt, ihn selbst noch zu fahren. Die Muskeln seiner verlorenen Augenbrauen zogen sich leicht über der Nasenwurzel zusammen, die Stirn lag in Falten.

      Menschen, viele Menschen, zu viele Menschen! Wenn er schon mit dem Bus fuhr, dann wollte er wenigstens sitzen können, er wollte das unangenehme Schaukeln lieber im Sitzen über sich ergehen lassen, um sich nicht bei jeder Bremsaktion oder Kurve dagegenstemmen zu müssen. Von der Infusion am frühen Morgen war ihm immer noch speiübel und schwindelig. Er fror erbärmlich und verbot sich das Zähneklappern.

      Schneeregen. Zarte weiße Flocken wurden aus ihrem sanften Fall herausgerissen, wurden unwiderruflich von ihrem spielerischen Tanz abgeschnitten und gegen kaltglatte Busscheiben getrieben. Dort klebten sie in ihrer kristallenen Form fest, einen winzigen letzten Moment, um dann langsam, in Tränen verwandelt, hinabzurutschen. Hinab in den Straßengraben, um das Meer der grauen Tränen zu speisen und der öffentlichen Kanalisation entgegenzuplätschern. So fühle sich Paul, genau das drückte seine Stimmung aus, er war eine Schneeflocke gewesen und nun ein matschiger Tropf.

      Zwei Finger seiner linken Hand waren beinahe zur Hälfte gefühllos und gelblich weiß. Leichenblass, als wollten sie schon bald nicht mehr zu ihm gehören, als wären sie im Abschiedsstadium, um dann für immer zu verschwinden. Wie seine Zunge. Dies und Das und das Nächste, er zerfiel in Stücke und wusste nicht was das nächste und das letzte Stück sein könnte.

      Diese beinahe übersehbar kleine Hässlichkeit seiner bleichen Finger, sie schmerzten nicht einmal, sie waren nur bleich und taub, hatte er bei seinem heutigen Termin vor dem behandelnden Onkologen erwähnt. Der Arzt hatte ihn kurz, bestürzt lächelnd, angesehen und ihm eröffnet, dass sie im Glücksfall nur taub blieben. Und im Falle des Pechs?

      Amputation, hatte der Stationsarzt gemurmelt und die Tastatur seines Computers traktiert. Ein Griff zum Handy.

      „Wir müssen bei Herrn Paul von Schwanstein, Beacop Eskaliert, Patient Nr. 89C, für die nächsten Infusionen die Vinchristin Dosis herabsetzen“.

      Ein zuständiger Kollege am anderen Ende der Leitung schien dagegen zu sein. Bei dem Gespräch konnte Paul verfolgen, dass die Besorgnis nicht seinen Fingern galt, sondern der anzuzweifelnden Statistik in Relation zur befürchteten Überdosis dieser Substanz, die nun in seinem Blut rumorte, die Taubheit und Todesvisionen in ihm hervorrief, ihn aber laut dieser Statistik, am Tod vorbeischrauben und somit letztlich retten sollte.

      Vinchristin, ein romantischer Name für ein Teufelszeug, das dazu beitrug sein Lebensmark zu zersetzten und ihm diese scheußlichen Varianten des Todes in den vorderen Stirnlappen pflanzte.

      Vinchristin könnte eine dieser Schneeflocken heißen, oder es könnte der Name eines edlen Weines sein. Paul schluckte den trockenen Speichel und stemmte sich in die nächste Kurve. Wie lange hatte er schon nicht mehr gemütlich, in angenehm erregender Begleitung, einen guten Tropfen genossen? Wie lange hatte er schon nicht mehr genossen, egal was. Einfach nur genossen!

      Den Wein, das Schlafen, das Wachen, das Lieben, das Leben. Nicht einmal seine Musik brachte ihm den vermissten Frieden. Wie lange schon stocherten die Trauer, der Dorn der Zungenlosigkeit und zusätzlich die Hebel des Vinchristin und