Gabriele Plate

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge


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er je wieder genießen können, ausgiebig genießen, bevor er in der Erde verrottete?

      Paul war jung, er hatte um wenige Jahre die Dreißig überschritten und schon stand sein Verrotten vor der Tür. Sein Körper sei stark, hatte man ihm immer wieder bestätigt. Zu stark zum Sterben? Er hatte Angst und Ekel, Schmerz und Wut, er war sterbenskrank und fühlte sich in manchen Momenten trotzdem widersinnig, lächerlich lebendig. Abseits seines Körpers, fühlte er ein starkes intaktes Ich. Ein Sein, für das ein ewiger Untergang einfach undenkbar war, als berührte ihn seine Krankheit nur peripher, als sei er nur ein Zuschauer dessen, was mit ihm geschah. Das verlieh ihm sogar die Arroganz, Mitleid mit den Schneeflocken zu empfinden. Kurze Momente, die von ihm selbst ablenkten.

      In Gedanken versuchte er den Schnee aus dem ewigen Verfall herauszuheben, einige noch tanzende Flocken verfolgend und in seinen Blick saugend, als wollte er jedem einzelnen Schneekristall Mut zusprechen.

      Es sei doch, genau besehen, nur ein kurzer Moment des Schmerzes, nur ein Wechsel des Aggregatzustandes. Kein Grund zur Traurigkeit, kein Grund zur Panik. Wenn man dieses kleine und doch so enorme Nur, als solches erkennen könnte, es in sein innerstes Verständnis aufnähme, wäre das Geschehen leichter zu ertragen und vielleicht, irgendwann, auch zu verstehen.

      Er starrte durch das schlierige Glas der Busscheiben in das sanfte Schneegestöber hinaus und lächelte. Wieder ein wenig irre. Einige Geschmacksdrüsen waren ihm geblieben, zusammen mit einem kleinen Seitenlappen seiner Zunge. Außerdem die bestürzende Ziffer, Null Komma Null zwei auf der Tabelle der Leukozyten. Wobei vier Komma Null, das Minimum gewesen wäre, welches ein Mensch an Abwehrkräften benötigt, um dem Untergang durch Ansteckung jeglicher Art halbwegs zu widerstehen. Mit den Thrombozyten sah es ebenfalls recht bedenklich aus. Er war übersät mit kleinen Blutergüssen. An allen Ecken und Enden seines Körpers blühten sie auf, ohne dass er sich erwähnenswert gestoßen hätte, doch als sei er gründlich und zielbewusst mit einem Knüppel verprügelt worden. Allerdings wies sein Gesicht diese blauen Flecken nicht auf, dort konnte man nur die dunklen Ringe um seine Augen bewundern. Ein erstaunlich stumpfes, tief dunkles Blauviolett, von mattem Gelb umrandet. Man hatte ihm eine ordentliche Portion Spenderblut einverleiben müssen, das mischte sich nun hilfreich zwischen die überhand genommenen weißen Blutkörperchen. Er hatte danach, der angeordnet stationären Obhut für die nächsten drei Tage widersprochen und auf eigene Verantwortung das Hospital verlassen.

      Paul blickte aus dem Fenster in die spritzend graue Pampe am Straßenrand und zerrte seine Wollmütze zum hundertsten Mal über die Ohren. Einige Menschen husteten. Irgendjemand hustete immer, egal wo man sich befand. Eine Gewohnheit, als sei das Husten wie das Atemholen, wie das Pinkeln, Essen und Schlafen, immerzu nötig. Paul wandte seinen Kopf aus der Hustenrichtung. Sein Mundschutz war draußen an der Bushaltestelle nass geworden, er hatte ihn zusammengeknüllt in der Jackentasche kleben. Nun konnten Viren und ihre gierigen winzigen Helfer sein desolates Abwehrsystem belächeln, zusätzlich an ihm nagen und ihn vollends zu Fall bringen.

      Die inneren Enden der Wölbungen, seiner zu besseren Zeiten stark und perfekt geformten Brauen, verstärkten nun gemeinsam ihren Knick des Zweifels nach oben. Eine nackte, winzige Parallele entstand. Sein Mund war weich, er drückte beim ersten Hinsehen Verletzlichkeit, Enttäuschung und Trotz aus. Der feuchte Mundschutz blieb in der Tasche. Er hatte den Hustenden den Rücken zugewandt, als könnte ihn das mitten in dem dampfenden Businhalt schützen. Das untere Drittel der Fensterscheiben war beschlagen, nur die Stehenden sahen das leichte Schneetreiben und vielleicht auch sein Spiel in der winterlich grauen Helligkeit.

      Pauls weicher Mund wirkte erstaunlich zugehörig zu seinem kantigen Kinn, seinem schmalen langen Gesicht, dem Blick und seiner ganzen Haltung, die eine deutliche Unnahbarkeit zeigte. Während seiner Verdunklung, im stark fröstelnden Zustand, war die kleine Zahnecke eifrig am Werk.

      Und dann war die besorgte Taschentuchdame in Aktion getreten. Sie hatte dem leuchtenden Blutstropfen ihres Busnachbarn offensichtlich nicht mehr widerstehen können, hatte seine zitternde Unterlippe mit der Aufmerksamkeit eines Diamantenschleifers berührt und erst beim wiederholten Tupfen sein Kinn energisch in ihre Hand genommen, und losgeplappert.

      Bei ihrer Berührung waren die silbergrün lackierten Fingernägel mit einem fühlbar sanften Geräusch über sein Kinn geknirscht. Doch eigentlich war es kein Knirschen gewesen, er hatte sich dieses kleine Geräusch nur eingebildet, da er es vermisste. Es gab keine Bartstoppeln, die dieses feine Knirschen der Erinnerung hätten hervorzaubern können, und es hatte lange keine Frau gegeben, die mit ihren Fingernägeln an ihm entlang geschlendert war. Bis jetzt, bis zu diesem Moment.

      Paul hatte in schnellen, unhörbar kurzen Stößen die Luft eingesogen und langsam wieder ausgeatmet. Dieser unerhörte Duft hatte seine Übelkeit vertrieben, hatte Paul, den dürren Ritter ohne Orden gestreift und ein Gefühl von Ankunft hervorgerufen. Ihr besorgter Blick auf ihn, hatte sogar den Ansatz eines spöttischen Lächelns in seine abweisende Grimasse zaubern können.

      Wie lächerlich unnötig war diese kleine Besorgnis einer Unbekannten um seine Lippe, um einen kleinen vergifteten Blutstropfen, oder zwei. In Relation zu der Situation, in der er feststeckte, war es wirklich absurd. Sein Geruchssinn schlich um diesen besonderen Duft. Paul schnupperte wie an einen Notbremshebel, der seine flüssigen Gedankengänge über das Verderben ins Stocken gebracht hatte und ihm einen Hauch von Frühling schenkte. Der Duft war es und ihr Blick, auf den Rest konnte er verzichten.

      Das war ein äußerst unsinniger Gedanke, eine Frau konnte man nicht wie durch ein Sieb pressen und sich die Rosinen herauspicken. Paul forschte, wie er trotzdem diese beiden Annehmlichkeiten in Anspruch nehmen könnte, ohne die ganze schillernde Person ertragen zu müssen. Annehmlichkeiten, die sein Leid einige Momente lang verdrängt und ihn so ungewohnt und unerwartet erwärmt hatten.

      Seine Libido war durch die gelobten Errungenschaften der medizinisch pharmazeutischen Wissenschaft und durch seine erlebte Liebestragödie in den Tiefschlaf versetzt worden. Wobei Paul nicht zu sagen wusste, was erstrangig zuständig war für dieses Schlafbedürfnis. Doch sein Geruchssinn hatte nun einen winzigen Zipfel dieser Libido ergriffen und sanft an ihr gerüttelt. Was sollte es sonst gewesen sein? Woran sonst konnte sein Geruchssinn gerüttelt haben? Wonach roch diese Frau so ungewohnt und wohltuend? Es war nicht einmal ein nennenswert guter Geruch, es war einfach „ihr“ Geruch. Vielleicht war es nur dieser lächerliche, von Spitzen umsäumte Lappen in ihrer behandschuhten Hand. Wie und woher zauberte sie außerdem, hier in dem trüben Busgetümmel, diese Glut in ihren Blick. Glut vermischt mit unerwarteter Güte.

      Sie hatte nun ihren fein gelöcherten Lederhandschuh mit den Zähnen abgestreift und wenige Millimeter dieses Leders immer noch lässig, zwischen höchstens drei ihrer gepflegten Zähne eingeklemmt. Der Handschuh hing seitlich an ihrem Kinn, während sie ihn betupfte! Paul ließ sie gewähren.

      Der zweite Handschuh, der mit dem Taschentuch, war an ihrer Hand geblieben. Was Paul zu ungläubigem und gleichzeitig spöttischem Grinsen veranlasst hatte, war nicht nur der Handschuh, der wie apportiert an ihrem Kinn hing oder die alberne Mühe um seine aufgesprungene Lippe, sondern auch ihre plötzlich veränderte Sprechweise mit diesem Stückchen Leder zwischen den Eckzähnen. Sie brachte zwar noch verständliche Worte hervor, trotzdem hatten diese Worte eine unbestreitbare Ähnlichkeit mit Pauls Sprechversuchen. Das rief eine weit greifbarere, eine verständlichere Zugehörigkeit in Paul hervor als diese Art gemeinsamer Zeitstillstand des Momentes zuvor.

      Der Busfahrer lenkte seine hustende Fracht durch einen Stadttunnel. In diesem gedämpften Licht schätzte Paul sie auf etwa Mitte oder Ende Dreißig.

      Was sollte das? Warum strebte sein Gehirn zu einer Altersschätzung. Flink und unkontrollierbar forschte es nach dem Alter dieser Frau. An der Tunnelausfahrt, etwa Mitte Vierzig, und als sie zurück in das Licht des späten Schneevormittages tauchten, hätte diese Dame, nach Pauls Schätzung, auch die Fünfzig schon erreicht haben können. Das änderte nichts an ihrem Duft, dem Hauch von Etwas, das in Paul hineingestürmt war und ihn belebte.

      Im Koordinatensystem seiner Wahrnehmung gab es offensichtlich einen Schnittpunkt, an dem sich das äußere Geschehen mit seinem Inneren, seinem Unbewussten spürbar traf. Der geheimnisvolle Duft hatte diesen Punkt ergriffen. Zahlreiche Töne beider Welten trafen in Paul