Gabriele Plate

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge


Скачать книгу

ihn auch durchzusetzen. Sie steckte in einem verwirrenden Ungleichgewicht der Gemüter und Lebensauffassungen. Begründet durch die tief verwurzelte religiöse Überzeugung ihrer Familie zu Hause und die Andersheit ihres Alltags dort draußen, mit Paul. Einem Draußen, das sie nun sehnlichst zu ihrem Drinnen zu verwandeln wünschte.

      Ihrer Basis Schulausbildung hatte man wegen der bestehenden Schulpflicht zustimmen müssen, ihre weitere Ausbildung, in einer Schneiderei, hatte Aisha gegen den anfänglichen Willen ihrer Eltern durchgesetzt und mit Bravur absolviert. Eine Frau braucht keinen Beruf, hieß es in ihrem Elternhaus, eine Frau braucht nur einen Mann und dieser wird weniger nach ihrem jugendlichen Bedürfnis erwählt, als nach den Überzeugungen und Ansprüchen der Familie.

      Dieser Wunsch, einen Beruf zu erlernen, war das äußerste Zugeständnis, das Aisha ihrem Clan mit viel Geduld und Tränen hatte abringen können. Ihr Monatsgehalt war höchst willkommen gewesen, man erwartete selbstverständlich, dass es in der Familienkasse verschwand. Ein Grund, warum sie noch nicht verheiratet worden war.

      Aisha hatte sich an Fernkursen für die Hochschulreife eingeschrieben, zu diesem Schritt hatte Paul sie ermuntert. Niemand sonst wusste davon. Weitere Lügen, Schuldgefühle und Nervenkraft. Ihre Begegnungen mit Paul, die aus der Sicht ihrer Religion eine private Hölle der Leidenschaft war, hatten immer vor Sonnenuntergang und fast ausschließlich in seiner Wohnung, die im Haus der Schneiderwerkstatt lag, stattgefunden. Dort konnte sie auch in Ruhe lernen. Offiziell war sie beinahe eine gehorsame Tochter gewesen, man hätte für ihre Treue zur Familie sogar die Großmutter und ein kleines Stück der Mutter verpfändet, bis ihr Doppelleben aufgeflogen war.

      Einer ihrer Brüder wollte sie von der Arbeit abholen, das war noch nie vorgekommen. Er musste dringend mit Aisha reden, allein, sie um einen Gefallen bitten. Er kam um die Ecke geeilt, sah ein verliebtes Paar im Hauseingang stehen und bremste seine Schritte ab. Dort wurde inniglich geküsst. Die Frau hatte ihre Haarpracht mit einem Kopftuch verdeckt, diese Tatsache hatte seine Aufmerksamkeit besonders erregt. Keine keusche Muslima küsst in der Öffentlichkeit einen Mann, und sei die Öffentlichkeit noch so versteckt wie dieser Hauseingang. Der Bruder verachtete solche Geschöpfe, ohne beim ersten Blick seine Schwester von hinten erkannt zu haben. Doch dann erstarrte er und rief ihren Namen. Erschrocken drehte Aisha sich um. Sein Blick traf sie wie ein Dolchstich und erinnerte sie daran, dass das, was sie dort tat, dieser kleine Kuss, dem Begriff der Unzucht unterlag, und dass sie mit dieser Liebe vielerlei unverzeihliche Vergehen auf sich zog.

      Nach einer sehr kurzen Anhörung vor den fassungslosen Eltern, war die unerhört ungehorsame Tochter zunächst einmal eingesperrt worden. Sie hatte sich ohne die Zustimmung ihrer Familie verlobt! Heimlich verlobt! Ein Ungläubiger hatte sich ihr zwischen die Schenkel geschoben und die Familie befleckt. So drückten es die Brüder aus. Und das Schlimmste des Schlimmen erfuhren sie von Paul, diesem Verächter des wahren Glaubens, als er seine Braut aus den Fängen der Familie zurückforderte.

      Aisha war nicht zu dem verabredeten Treff in seine Wohnung gekommen, Paul war besorgt gewesen. Als sie am nächsten Tag, ohne Nachricht, wieder nicht erschienen war, hatte er den Sprung in die Höhle des Löwen gewagt. Er schritt wie selbstverständlich in die Gemüter ein, stellte sich als Aishas Verlobter vor und sprach, als hätte er einen alleinigen Anspruch auf die Tochter des Hauses.

      Er hatte die Familie bestohlen und wagte sich frech in deren Nähe? Man ließ ihn allerdings eintreten. Wie er sich das vorstelle, hatte der Vater ihn zuerst scheinheilig, doch unübersehbar feindselig gefragt.

      „Undenkbar für unsere Familie“, hörte Paul ihn auf die simple Rechtfertigung der Liebe antworten.

      Aisha war die Erstgeborene. Drei ihrer wenig jüngeren Brüder konnten ihre Aggressionen kaum zügeln, sie schrien sich gegenseitig in ihrer Muttersprache an. Paul verstand kein Wort. Ein paar kleinere Kinder heulten. Die Mutter putzte sich alle fünf Sekunden die feuchte, lange Nase und gab fortwährende Schluchzer von sich. Ihre Leibesfülle, die Nasenlänge und gerötete dunkle Vogelaugen, war alles was Paul an diesem Gesicht in Erinnerung blieb.

      Dann war das Geheimnis einer beinahe konvertierten Aisha über Pauls Zunge geglitten und zusätzlich auf die erhitzten Gemüter herabgestürzt. Eine teuflische Zunge, wie er erfuhr.

      Aisha hätte schon vor einigen Monaten ihrem Glauben den Rücken gekehrt, ihm zu Liebe sei sie nun bald eine Christin, hatte Paul heraus trompetet. Sie würde von einem katholischen Priester darauf vorbereitet. Sie sei schließlich zweiundzwanzig Jahre alt und bräuchte für Nichts die Zustimmung ihrer Eltern. Selbstbewusst und ahnungslos hatte Paul diesen gewagten Schlusspunkt gesetzt.

      Eine Verleumdung und doppelte Beleidigung. Man schrie ihm diese Worte entgegen. Obwohl die betroffene Familie ahnte, dass dieser Schmutzfink Paul die Wahrheit verkündet hatte, beschimpften sie ihn als elenden Lügner und drohten ihm mit der ewigen Verdammnis. Man wüsste, wie das zu rächen üblich wäre, man würde sich nicht scheuen, er würde nie wieder stehlen und lügen.

      Paul hatte die jämmerlichen Schreie seiner Braut aus einem Nebenraum gehört. Sie hatte seine Stimme erkannt und verlangte stürmisch nach ihm. Ununterbrochen hatte sie seinen Namen gerufen und gegen eine Tür gehämmert, bis ein Bruder in ihr Zimmer gestürzt war und es danach erschreckend still wurde.

      Paul hatte versucht an diese Zimmertür zu gelangen, was eine vorhersehbare Unmöglichkeit war. Er wurde von drei kraftstrotzenden Jugendlichen unsanft ergriffen und an dem aussichtslosen Befreiungsversuch gehindert. Der Vater war stumm, wie versteinert im Hintergrund geblieben, er hatte verachtend auf den protestierenden Paul gestarrt und es schien erstaunlich, dass er nicht das Feuer eröffnete oder ihn zumindest anspuckte. Dann fand sich Paul draußen im Rinnstein sitzend wieder. Ein Bruder Aishas, der sich ihm als Mehmed vorstellte, hatte ihm die Jacke nachgetragen und ihm, als Paul sich stöhnend aufrichtete, auf die Beine geholfen. Er hatte freundschaftlich gemurmelt, es täte ihm leid, aber das sei so üblich, zuerst einmal Widerstand, später würden die Wogen sich schon noch glätten. Über eine gerechte Strafe für Paul, müsste die Familie sich allerdings noch einigen, die ganze Gemeinde würde nämlich darauf bestehen.

      „Eure alberne Strafe könnt ihr euch an den Hut stecken“, hatte Paul verächtlich geschrien. Er war sofort zur Polizeiwache gefahren. Dort hatte man ihn mitleidig angesehen und ihm versichert, dass es in diesem Land kein Recht gäbe in solch einem Fall einzugreifen. Man hatte ihm ja erstens, wie man sieht, nichts angetan, sondern ihn lediglich aus dem Haus befördert. Und zweitens, hätte er nicht gesehen, dass diese Frau misshandelt worden sei. Es sei nur seine Vermutung! Das seien innerfamiliäre Auseinandersetzungen. Das Problem hätte er wahrlich voraussehen können, er sei schließlich nicht der Erste, dem eine Braut aus diesen Kreisen entzogen würde. Das sei doch allgemein bekannt.

      „Wie naiv sind Sie eigentlich? Sie können doch nicht ohne Zustimmung der Familie, ungeschoren eine Moslem- Frau entjungfern und zusätzlich einen herzlichen Empfang erwarten. Gehen Sie besser in Zukunft dieser Sippe aus dem Weg, sonst kann Ihnen eine Kastration blühen.“

      Die Beamten lachten über diese Drohung, und Paul sah sie erschrocken an.

      „Das ist ein Scherz, Mann, aber seien Sie vorsichtig und vergessen Sie diese Braut.“

      Paul konnte seine Aisha nicht vergessen. Wenige Tage später musste er, durch den verräterischen Bruder, dem Auslöser des Übels, vom Tod seiner Liebsten erfahren. Sie sei angeblich aus dem Fenster gesprungen. Zu dieser grausigen Nachricht bekam er einen Abschiedsbrief überreicht. Dieses Stückchen liniertes Papier zerschnitt seine Trauer in tausend stechende Splitter, welche Tag und Nacht im ganzen Paul aktiv waren. Die tote Aisha erklärte ihm darin, dass sie alles bereue und sich schäme für das, was sie getan habe, dass er sich zum Teufel scheren solle und dass sie den einzigen Ausweg wähle, der in diesem Fall zu wählen ihr übrig bliebe, nämlich ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nur so könne sie vor Allah und ihren Eltern wieder rein werden.

      Wieder rein werden? Sie war das reinste Wesen, das er sich vorstellen konnte. Und „getan“ nannte sie ihre Liebe zueinander? Ist sie etwa gefoltert worden? Warum hatte er das nicht verhindern können! Warum hatte er diesen Tod nicht verhindern können!

      Er hatte den Islam wie eine philosophische Kuriosität angesehen und nun erfahren