Gabriele Plate

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge


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ansehe. Und außerdem, was wäre er in seinem Beruf ohne Worte!

      Sie dächte eher an das tägliche Geschwätz, das immer und überall geführt würde, um die Einsamkeit zu überwinden, was aber nicht funktionieren würde, weil es nur oberflächlich wirken könne. Darin habe sie Erfahrung. Gesprochene Worte könnten außerdem zu unsichtbaren Waffen werden, die sich gerne verselbständigten und nachträglich, unerwartet wirken könnten, selbst wenn sie noch so unbedarft ausgesprochen worden seien. Die Reflexion eines negativen Wortes sei immer stärker als ihr Ursprung, einmal ausgesprochen, seien sie unberechenbar, hätten ihr Eigenleben. Auch wenn sie vorübergehend in Vergessenheit gerieten, könnten sie jederzeit auferstehen. Und süße Worte könnten wie bitterstes Gift wirken, außerdem entpuppten sie sich meist als Lügen. Gelogene Blicke schmerzen nicht, Worte könnten das aber, hatte Aisha eifrig behauptet.

      Paul hatte ihr dann doch noch sachte zugestimmt, ihr in gewissem Sinne recht gegeben. Ja, Buchstaben konnten töten, sie konnten auch wichtige, direkte Erfahrung rauben, den Geist lähmen, wenn man zu sehr auf sie achtete. Konnte er seine Gefühle in Worten ausdrücken?

      Er hatte sie lieber umarmt als geredet, aber seine süßen Worte waren keine Lügen gewesen. Ach Aisha, wie würde sie jetzt darüber denken, wie würde sie seine Worte nun vermissen! Seine Stimme!

      Der Hauptsitz seiner Geschmacksdrüsen war ebenfalls der Ersatzkastration zum Opfer gefallen, somit vermisste er wichtigste Geschmacksgenüsse. Kleine Nebenblitze, die in sein großes Leid fegten.

      Kann eine Katze ohne Zunge überleben, fragte sich Paul. Ein Chamäleon oder eine Eidechse? Sogar ein Fisch hat eine Zunge. Obwohl, stumm wie ein Fisch, hieß es. Und der Kolibri? Die Nachtigall?

      Nein, eine Welt ohne Zungen, undenkbar! Und genau in dieser Welt sollte er nun leben? Überleben? Konnte man ohne Zunge riechen, schmecken, pfeifen. Konnte man Querflöte spielen oder ein Pferd antreiben?

      Warum dachte Paul an eine Querflöte, er hatte sich nie für dieses Instrument interessiert, warum jetzt? Und der Reitsport war ihm zuwider.

      Ein Kuss war kein Kuss mehr, wenn man dieses, stets von Schleimhaut überzogene muskulöse Organ, das zum Kauen, Saugen oder zur Artikulation der Laute diente, nicht mehr besaß. Hatte man diesen hässlichen Lappen in seinem Mund vorzuweisen, konnte ein Kuss selbstverständlich auch ohne dieses Ding hoch bewertet werden.

      Er würde nie wieder küssen! Natürlich nicht, denn Aisha war tot. Würde er eine Blindheit der Zungenlosigkeit vorziehen? Auch das fragte sich Paul

      In früheren, noch nicht allzu fernen Zeiten, hätte man den dreisten Gesetzesbrecher in einem Fall wie dem seinen, noch zusätzlich geblendet. Man hätte ihm glühende Eisen in die Augen gebohrt, um somit, außer der Strafe der Erblindung, jedem weiteren Blick auf die Angebetete ein zuverlässiges Ende zu bereiten. Darauf hatte man bei Paul verzichtet. Sollte er dankbar sein?

      Die Welt hatte sich für Paul gefährlich abgekühlt, es gab diese Momente, in welchen er den Akt seiner gestohlenen Zunge beinahe als gerechte Strafe empfand. Wie ein Geschoss von außen, erlegte dieser wirre Gedanke dann für Sekunden seinen Willen. Dann konnte er sogar die Schande erkennen, die er über Aishas Familie gebracht hatte. Eine Schande, die er mit beleidigenden Worten, an die er sich nicht mehr genau erinnerte, lautstark unterstrichen hatte. War es vielleicht doch gerechtfertigt, dass man ihm jedes künftige Wort gestohlen hatte?

      So stand es um Paul, und die zusätzliche Tragik an seinen grundverschiedenen Gedankengängen war, dass er den einen Zustand herbeisehnte, während er nach seinem Gegenteil äugte, es ebenso wünschte oder vertrat. Als könne man das Leben und den Tod gleichzeitig wahrnehmen, sich beidem gleichzeitig hingeben, oder sich von beidem zurückziehen. Als sei alles nur ein gelungener oder verpatzter Schachzug auf dem Brett des Daseins.

      Seine Sinne tänzelten schwebend zwischen den Welten. Wie ein Seiltänzer bewegten sie sich, ein Seiltänzer, der auf seinem zum Zerreißen gespannten Seil eine unschätzbare Tiefe zu überqueren versucht, um ein vom dichten Nebel der Unmöglichkeit versunkenes Gegenüber zu erreichen.

      Diese entschlossene Unentschlossenheit radierte ihn beinahe aus. Es gab kein Zurück und eine Ankunft war nicht erklärbar. Wo lag das Dazwischen? Wo steckte dieser, stetig von der Zeit verfolgte, winzige Punkt, der eine nicht nennbare Weite beinhaltet, der alle Möglichkeiten der Welt zu einer einzigen Welle des Überlebens über ihn schwappen lassen könnte.

      Und dann hatte ihn dieser Duft ergriffen! Der einzigartige Duft, neben ihm, im Autobus der Linie achtundzwanzig, Richtung Flughafen.

      Das verlorene Gespräch

      Wenige Tage vor Aishas Tod, und wenige Wochen bevor Pauls Zunge einem gezielt und fachgerecht eingesetzten Skalpell zum Opfer gefallen war, ereignete sich der Überfall auf die Redaktion des Satire Magazins, Charlie Hebdo, in Paris.

      Paul war damals ein gefragter Mann, da er der Sohn eines noch gefragteren Mannes seiner Stadt war. Seine Meinung hatte zwar einen geringeren Wert als die seines Vaters, doch man war sicher, dass er sich ähnlich zu den alles dominierenden Vorfällen der letzten Tage äußern würde.

      Sein Vater hatte sich unwohl gefühlt und Paul gebeten, in einem von ihm schon zugesagten Interview, für ihn einzuspringen. Paul stellte sich zunächst murrend als Ersatzmann zur Verfügung. Während der Life-Übertragung ereiferte er sich jedoch ungewohnt und äußerte eine überraschende Meinung zu dem Attentat in Paris und seiner weltweiten Reaktion darauf. Eine Meinung, die auf allgemeine Empörung stieß und zahlreiche seiner Bewunderer vergraulte. Er zeigte sich nicht, wie vom regionalen Sender erwartet, als okzidental geprägter Racheengel, sondern bewertete die allgemeine Reaktion auf diese Tragödie als Hysterie. Die unangebrachte Hysterie einer Gesellschaft, die essentielle Probleme verdränge und die öffentliche Aufmerksamkeit auf Nebenkriegsschauplätze lenke und sich dabei mit peinlichen Plakatsprüchen in Szene setze.

      Pauls Vater, der selbstgefällig der Loyalität seines Sohnes sicher gewesen war, stürzte vom Thron des stolzen Vaters. Er war mehr als empört, er war entsetzt und fühlte sich außerdem von seinem Sohn hintergangen. Dieses Interview lag gedruckt vor ihm, er fieberte danach, Paul zur Rede zu stellen, ihm die Leviten zu lesen.

      „Auf welcher Seite stehst du neuerdings, mein Sohn,“ fragte er sehr ernst in seinem gewohnt überheblichen Ton, der keinen Widerspruch duldete. Das Wort Sohn klang drohend.

      „Wie kannst du nur solch eine katastrophale Meinung öffentlich äußern. Es ist nicht nur völlig absurd, verblendet und idiotisch, pietätlos und fern einer realistischen Einschätzung der Bedrohung des Terrorismus, was du da von dir gegeben hast ist auch höchst verantwortungslos. Du hast schließlich eine wichtige Position, bist zu politischer Korrektheit unserer Gesellschaft gegenüber verpflichtet. Ist dir das schon mal in den Sinn gekommen? Es geht hier nicht um deine persönliche Meinung, die mich sehr erstaunt und die ich verachtenswert finde. Mir ist außerdem längst zu Ohren gekommen, dass du schon eine ungehörige Weile mit einer Moslimin herumziehst, was ich als äußerst unpassend erachte, in deiner gesellschaftlichen Stellung ganz besonders. Wahrscheinlich ist sie scharf auf eine Heirat, auf deine Nationalität, auf deinen Namen, auf unser Geld. Ich hatte gehofft, dieses abscheuliche Verbrechen in Paris würde dir die Augen öffnen und dir nebenbei klar machen, dass eine Muslimin in unserer Familie fehl am Platz ist. Um das hiermit direkt klarzustellen, islamische Gesinnung hat unter meinem Dach nichts zu suchen! Ganz abgesehen davon, dass man wie auf einer Bombe säße. Weißt du, was in den Köpfen ihrer Familie wirklich vorgeht? Und meine Enkel mit Koran verseuchtem Blut in den Adern? Nicht auszudenken! Ohne mich!

      Paul ignorierte nur scheinbar das „Koran verseuchte Blut“. Doch diese Bemerkung war in ihn geprescht, er fühlte sich persönlich angegriffen und hatte ein unverhüllt empfundenes, nie gekanntes Kontra gegen den Vater mobilisiert. „Und du? Auf welcher Seite stehst du, Vater? Demnächst wirst du noch der PEGIDA Beifall klatschen. Du kannst doch wohl nicht leugnen, dass es sich hier um eine Massenhysterie handelt. Eine Verteuflung des Islam auf der Basis haarsträubender Unwissenheit. Den Islam und die Islamisten kann man doch nicht in einem Atemzug nennen.

      Paul hatte den Ausdruck des Interviews, in dem man ihn um seine Meinung zu dem „Je