Gabriele Plate

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge


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gelobte Rüstungsindustrie stellt gerne alles Nötige zur Verfügung, über Umwege, natürlich, und im Namen des Friedens, dem Schutz der Demokratie und für den Kampf gegen den Terrorismus. Man hätte das Potenzial gehabt dieses Dilemma zu verhindern. Nun haben wir zusätzlich zu den Flüchtlingen aus Afrika, deren Hälfte man im Mittelmeer ersaufen lässt wie überflüssige Welpen, eine Völkerwanderung aus Syrien und dem Irak. Aus allen möglichen Ländern und Kontinenten kommen sie hereingeströmt, Schutz und Nahrung suchend und ein wenig Würde. Jene Würde, die einem großen Teil von ihnen und ihren Ahnen in der ausgebeuteten Heimat von den zivilisierten Christen gestohlen worden ist. Aus aller Welt strömen sie nun herbei und fordern unsere Hilfe, benötigen die gepriesene Brüderlichkeit, Freiheit, Gleichheit. Deine Zivilisation reagiert, erstens, als sei es eine große Überraschung, zweitens, als sei sie an dieser Fluchtsituation anderer völlig unschuldig, und drittens, als hätten diese Fliehenden die Pest. Oder was noch viel verwirrender ist, als hätten all diese Menschen, die in Panik ihre Heimat verlassen mussten, unter ihren Hemden Bomben auf eine selbstmörderische Brust geschnallt. Diese, so überaus überraschte christliche Welt zeigt genau so viel Hochmut den Flüchtlingen gegenüber, wie sie es an christlicher Gesinnung hapern lässt. Wer sich erhöht wird erniedrigt, und wer sich erniedrigt wird erhöht werden. Das Wort Jesu, vielleicht erinnerst du dich? Warum diese Überheblichkeit! Aus Angst? Aus Angst an Wohlstand zu verlieren, etwas abzugeben, was auf Jahrhunderte langem Diebstahl basiert. Aus Angst zu teilen und eventuell die verlogene Ordnung zu beunruhigen und festgefahrene Traditionen zu verwässern? Oder aus Angst vor den Gesetzen des Islam, die keiner all der Ängstlichen auch nur annähernd kennt?“

      Paul war nicht sonderlich erregt, er sprach beinahe ruhig und lenkte sich zurück auf den Ausgangspunkt dieser Unterhaltung. Er wies lässig mit seiner Hand auf das Schreiben, das er kurz zuvor noch einmal überflogen hatte, ein Zettel, der in den Augen seines Vaters wie ein blutiges Schwert zwischen ihnen lag.

      „Vater, ich bitte dich, ist es denn wirklich unter dem heutigen, immer noch bedauerlich beschränkten Menschheitsbewusstsein so verwunderlich, wenn sich jemand mit übergroßem Eifer in ein Glashaus setzt, das ihm als Hauptstützpunkt dient, wie in dem Fall Hebdo, um wild von dort heraus um sich zu ballern, und wenn dieser Jemand dann irgendwann mit samt seinem Glashaus in die Luft fliegt?“

      Sein Vater zitterte vor Empörung.

      „Das sind pietätlose Argumente und ein unsinniger Vergleich. Auf einer Seite handelt es sich allenfalls um psychische Verletzung, um verletzte Gefühle, um Worte oder Karikaturen, um journalistische Kugeln die keinen Blutstrom hervorrufen. Beim Gegenangriff aber, um wahre Schüsse und um wahre Tote. Dafür gibt es…, dafür kann man keine Rechtfertigung dulden. Und ausgerechnet mein Sohn bastelt sich eine Rechtfertigung zusammen, die auch noch auf Unwissen und falschen Informationen basiert, und die aus der Narrheit, sich einer Moslemin zu nähern, geboren wurde!“

      „Nur um Gefühle?“, antwortete Paul lahm, den letzten Satz ignorierend. „Nur? Warum ermordet ein Ehepartner den andern? Meist wegen „nur“ verletzter Gefühle. Das ist leider menschlich. Gerade du als Arzt müsstest wissen, dass psychische Kugeln nicht nur wie ein Schwelbrand wirken können, sondern wie eine Bombe. Ich wüsste nebenbei auch gerne, warum diese Journalisten immer wie Heilige behandelt werden. Warum stöhnt die Masse betroffener und empörter auf, wenn ein Journalist ermordet wird, als wenn es einen Normalsterblichen erwischt hat. Womit haben Journalisten ihre Sonderrechte verdient? Damit, dass sie sich angeblich um der Wahrheit Willen, um der Weltinformation Willen, in Lebensgefahr begeben? Welcher Journalist tut das schon? Es gibt eine Handvoll Journalisten und Berichterstatter, die das so sehen und wirklich wagen, der Rest handelt wenig uneigennützig. Genau besehen sind wir alle in ständiger Lebensgefahr. Jeder Autofahrer begibt sich täglich in weitaus größere Gefahr, wenn er morgens in seinen Wagen steigt, als einer dieser weniger an Wahrheit als an Sensation interessierter Schreiberlinge. Es ist doch kein Geheimnis, dass der größte Teil der Leute dieser Berufsgruppe, am allerwenigsten aus dem Bedürfnis heraus die Welt zu unterrichten oder auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen angetrieben wird, sondern eher von der Sensation und dem rücksichtslosen Wunsch der Erste zu sein. Es geht hauptsächlich darum ständig etwas Neues zu bringen. Ja, bringen, nennen sie es. Und für diese wird nun solch ein Spektakel veranstaltet?“

      Sein Vater räusperte sich ungehalten, während seine Gesichtsfarbe von einem gelblich grünen Blass zu einem bläulichen Rot übergesprungen war. Dieses Farbenspiel war Paul nicht entgangen. Völlig emotionslos kreuzte ein Chamäleon seine Gedanken, bevor sein Vater lautstark das Wort ergriff. Das erstaunte Paul, diese Lautstärke kannte er nicht an seinem Vater, er war eher an diese, von Vaters Zeit bestimmten Unterhaltungen in einem freundlich drohenden, stets beherrschten Ton gewöhnt. Nun brüllten seine Worte gegen Paul.

      „Durch diesen Trauer- und Protestmarsch sind für einen ganzen Tag lang alle politischen Probleme in den Hintergrund getreten. Politiker aller Welt und aller Völker und Religionen hatten sich zusammengefunden und daran teilgenommen. Das ist kein Spektakel, wie du es abfällig nennst, das verdient Respekt. Eins Komma fünf Millionen Menschen in Paris, mehr als drei Komma fünf in ganz Frankreich und unzählige in jeder Großstadt Europas und verschiedenen Kontinenten. Sie sind zusammen marschiert, zusammen gegen den „Islamischen Staat“ Es sollte ein Trauermarsch sein, und es wurde zusätzlich ein Marsch gegen den Terror und für die Demokratie, für die Pressefreiheit. Das war eine einmalige Reaktion in der Geschichte, und es war überwältigend. Und diese „Mahnwache“ gestern, ebenso einmalig. Und du meinst nun, all diese Menschen hätten sich geirrt? All diese Menschen seien mit Blindheit geschlagen und einer Schimäre aufgelaufen? Für wen hältst du dich, dass du es wagst so etwas öffentlich kundzutun!“

      „Diese sogenannte Mahnwache ist etwas anderes, das geschah nach meinem Interview, obwohl mich diese Massenaufrufe gegen oder für etwas nie begeistert haben. Du scheinst da etwas grundsätzlich falsch verstanden zu haben. Ich ereifere mich nicht für oder gegen eine Meinung, ich verteidige diesen Terrorakt nicht, und ein demokratisches Gefüge, auf Gleichberechtigung und Toleranz, Wissen und Einsicht aufgebaut, heiße ich ebenso willkommen wie du. Obwohl ich glaube, dass die Umsetzung dieser Werte ins Alltagsleben niemandem leicht von der Hand geht. Es sind Parolen. Aber das ist letztlich nicht der entscheidende Punkt meines leisen Protestes, der dir so missfällt, es ist auch die Mentalität der Hammelherde, die mich besorgt. Meine Abneigung gegen dieses scheinbar nicht auszurottende gemeinsame Blöken, mit dem auch noch erfolgreich der Ausdruck individuellen Empfindens suggeriert wird. Egal, ob für Gut oder Böse im Konvoi geblökt wird. Ist das wirklich nötig? Das Anstreben von Freiheit - Brüderlichkeit - Gleichheit, wenn ich diesen Schund schon höre. Wo gibt es das Verständnis dieser edlen Begriffe denn? Und wer ist an der Umsetzung wirklich interessiert? Sieh dir doch nur die Flüchtlingslager an, wie reagiert die europäische Zivilisation mit diesem weit hergeholten Ideal der Brüderlichkeit darauf? Es ist wie es ist, menschlich, aber christlich ist es mit Sicherheit nicht. Vielleicht sollte ich mich einfach damit trösten, dass es ein Gesetz der Natur zu sein scheint, Extreme irgendwann zu vereinen und sich in Gegensätzlichkeit der Meinungen auflösen. Plötzlich sind sie vereint und bilden das Gleiche. Das kann man politisch sehen, das ist in der Gefühlswelt so, Liebe und Hass oder mit Leben und Tod. Das Extrem von Geboren-Werden ist das Sterben, und was kommt danach? Das Extrem von Tod ist das Leben, und was war davor? Davor und danach bildet die Gemeinsamkeit. Das Dazwischen entfällt dem Geschehen im Ganzen, wenn dieses sich immer wiederholende Endstadium erreicht ist.“

      Paul holte tief Luft, er war vom Thema abgekommen. Sein Vater sah ihn völlig verständnislos an, als sei sein Sohn, dieser junge Mann vor ihm, mit seinem leidenschaftlichen, nie zuvor gesehenen Funkeln in den Augen, ein Fremder.

      „Ich will damit sagen, dass ich mich für den Islam genauso begeistern kann oder auch nicht, wie für das Christentum. Es kommt auf dieser Welt irgendwann, welcher Weg auch gewählt wird, immer auf das Gleiche heraus. Ich sehe nur Fanatismus gegen Fanatismus, das legale große Schlachten der Moral und daraus die Rechtfertigung für noch mehr Polizei, noch mehr Militäreinsätze und noch mehr sogenannte Sicherheitsorgane. Folglich der völlige Untergang einer gefährdeten, sowieso schon zweifelhaften Freiheit. Trotzdem, der Punkt der Gemeinsamkeit, wie auch immer er geartet sein mag, kommt zwangsläufig, er lässt sich durch diese so beliebten menschlichen Umwege nicht irritieren.“

      Paul