Gabriele Plate

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge


Скачать книгу

Belästigung seines akuten Schlafmangels gedeutet. Sein Herz sei unverwüstlich, hatte er immer behauptet. Nun hatte diese Unverwüstlichkeit versagt. Er war nicht leichtfüßig in die Arme des Hades gestolpert, sondern mit Furcht und Zweifel und wütendem Unverständnis über die verratene Loyalität seines Sohnes.

      Pauls Vater war auf seine Weise vernarrt in seinen Sohn gewesen, niemandem sonst hatte er sogar kleine Unaufmerksamkeiten in der Klinik verziehen. Man hatte den Eindruck gehabt, als wollte er durch seinen Sohn eine doppelte Identifikation seines Selbst züchten. Sich daran weiden, wie an einem noch besseren Selbst. Dieser Streich wäre ihm beinahe gelungen. Beinahe, denn Paul war aus der Bevormundung, die angeblich aus Liebe und Sorge um ihn geschah, erwacht. Plötzlich wollte er frei von väterlichen Anordnungen sein, wollte sein Leben nicht im Kielwasser seines Vaters gestalten. Er wollte mit Aisha leben und war bereit gewesen mit ihr bis an das Ende der Welt zu ziehen, sogar in das Land ihrer Väter, um dort als Arzt tätig zu sein. Diesen Meinungsumschwung und seine neue Berufsabsicht, einer seiner Meinung nach würdigeren Arbeit, hatte er seinem Vater nicht mehr mitteilen können. Mit dieser Idee hätte er bei ihm noch größeres Entsetzen ausgelöst und möglicherweise seine Enterbung.

      Paul hatte Aisha in seine Überlegungen eingeweiht und war auf wenig Begeisterung gestoßen. Sie hatte ihn lieblich angelächelt und gemeint, sie bliebe immer bei ihm, doch vorzugsweise hier im Land seiner Väter! Er solle diese Klinik ruhig eines Tages übernehmen und sich ansonsten den Themen seiner eigenen Interessen und ihren künftigen Kindern widmen. Das alles und vieles mehr, könne er in ihrem Ursprungsland nicht in Frieden ausführen, oder auch nur annähernd erreichen.

      Die Beerdigung dieses, mit Hilfe eines beachtlichen Privatvermögens einflussreichen Mannes, Koryphäe seines Berufes, Ehrenbürger seiner Stadt, eisern bis zur Halskrause mit Prinzipien bewaffnet, diese Beerdigung war allen erdenklichen Ritualen gerecht geworden.

      Er war Haupteigner einer Privatklinik gewesen und hatte zusätzlich in einem Seitenflügel des Klinikgebäudes eine Praxis für Schönheitschirurgie übernommen und erweitert. Sein Vermögen war außerdem, durch den fachmännisch geleiteten Erwerb und Verkauf von Aktien aus der Pharmaindustrie, ohne Risiko vermehrt worden. Er hatte sich öffentlich, jahrelang für die Krebsforschung im Bereich der Leukämie eingesetzt, horrende Gelder gespendet, die ihm inoffiziell für kleine Dienste und Bereitschaften von genau jener Industrie zugeschoben worden waren.

      Europaweit galt Pauls Vater, nicht nur unter Kollegen, als ausgezeichneter Chirurg und Retter unzähliger Unfall- Kriegs- oder Krebsbeschädigten, die durch seinen geschickten chirurgischen Einsatz und spezielle Methoden zu neuem Selbstbewusstsein gefunden hatten. Es waren nicht nur notwendige Nasen-, Kinn- oder Brustoperationen, die er erfolgreich durchgeführt hatte, es waren auch unzählig eitle Menschen unter seinem Messer wie neu auferstanden. Viele dieser ehemaligen Patienten kondolierten Paul, er kannte die wenigsten.

      Sein Vater hatte einen Namen, man hatte diesem vertraut und ihn verehrt. Konnte man diesem Sohn, mit seinem terrorverdächtigen Gerede, nun eine würdige Nachfolge zutrauen? Paul las diesen Zweifel in allen Gesichtern. Ein Skandal wegen seines Interviews wäre nicht aufzuhalten gewesen, wenn nicht der Tod des Vaters davon abgelenkt hätte. Man hatte sich erst einmal auf eine würdige Beisetzung konzentriert, um Pauls Widerspruch, mit glaubhafter Entschuldigung, wollte und müsste man sich später kümmern. Der ganze Stadtrat, die Bruderschaft, eine erhebliche Anzahl von Berechtigten und weniger Berechtigten unterstützten diese Beisetzung mit Annoncen, Nekrologen und aufwendigen Beileidskundgebungen. Würdig sollte es zugehen und von niemandem übersehen werden. Nein, man übersah den langen Leichenzug nicht.

      Paul war traurig, der Tod seines Vaters hatte ihn nicht unberührt gelassen, er bescherte ihm zwar ein Quäntchen mehr Schuld, doch er hatte auch sofort erkannt, dass eine Eheschließung mit Aisha, zumindest auf dieser Seite, nun mit weniger Auseinandersetzung zu regeln wäre. Er konnte sich außerdem des Gedankens einer lächerlichen Parallelaktion, zu all dem Treiben um das Geschehen in Paris, nicht erwehren. Als sei man auf einen fahrenden Zug aufgesprungen. Sein Vater war mit hineingerutscht, in die Trauerkundgebungen um die Journalisten, als wäre er einer von ihnen gewesen. Das hätte ihm gefallen!

      Einige Tage vor dem Tod des Vaters hatte sich ein kleiner Zwischenfall ereignet.

      Paul war kein Fernsehfan. Er mochte keine Krimis, hasste Quizsendungen und Unterhaltungskram mit viel Spektakel. Amerikanische Action Filme beurteilte er als völlig überflüssig auf dieser Welt, und er interessierte sich nicht im geringsten für Satire, für Politik auch nicht. Da blieb nicht viel für ihn übrig, außer einigen Reportagen oder Dokumentarfilmen, die sich allerdings für seinen Geschmack zu häufig wiederholten. Den Rest erfuhr er wie nebenbei in der Klinik oder aus der Zeitung. Doch manchmal, wenn er in der Kantine seinen Kaffee trank, ließ es sich nicht umgehen den Blick auf einen ständig eingeschalteten Fernsehapparat zu werfen. Bei einem dieser geistesabwesenden Zufallsblicke erschrak er und verschluckte sich heftig. Das Gesicht eines Mannes auf dem Bildschirm hatte diesen Schreck ausgelöst. Paul stellte hastig seine Tasse ab und starrte auf diese Person.

      Die Einstellung wechselte, er glaubte sich getäuscht zu haben. Doch dann tauchte dieser Mann wieder auf, er sah Paul zum Verwechseln ähnlich, obwohl er eine Melone trug und einen offensichtlich mit Absicht falsch herum angeklebten Charlie Chaplin Schnauzbart. Dazu trug er eine grellgelbe, übergroße Brille mit auffälligem Tigermuster. Trotz dieser Aufmachung, die Paul idiotisch lächerlich fand, konnte er sich in diesem Mann erkennen. Er war etwa in seinem Alter. Was Paul nicht bemerkte war, dass dieser Mensch ihm nicht nur physisch glich, sondern dass er auch mit seiner Stimme parodierte, obwohl ein englischer Akzent herausrollte. Eine besonders raue, Pauls aufgeraute tiefe Stimme! Eine Krankenschwester, die sich interessiert, Käsebrötchen kauend neben ihn gestellt hatte, machte ihn darauf aufmerksam.

      „Verehrter Herr Doktor von Schwanstein, haben Sie ein Doppelleben und ziehen gelegentlich als Kabarettist durch die Häuser?“ Sie lächelte frech. „Dieser Mann hier, das könnten doch zweifellos Sie sein.“

      „Könnte“, sagte Paul, „aber ich bin es nicht. Ich finde es nicht besonders originell, sich als verwirrter Charlie Chaplin zu präsentieren und Hetzsprüche von sich zu geben.“

      Ein Kollege gesellte sich zu ihnen. „Dieser Kabarettist ist in England sehr beliebt, er tritt niemals ohne diese Verkleidung auf, sein Markenzeichen sozusagen. Er hat einige Auftritte in unserer Stadt, in dem kleinen Theater in der Schumannstraße, das sollten Sie sich unbedingt ansehen. Ich habe gestern eine Übertragung im Fernsehen gesehen. Eine Koryphäe, dieser Kai Bitterstone, ziemlich gewagt zwar, aber ich habe mich köstlich amüsiert, meine Frau weniger. Dies hier, scheint die Wiederholung von gestern zu sein.“

      Diesem Kollegen war die Ähnlichkeit mit Paul nicht aufgefallen. Er war ein Jemand, der sich von Hut und Brille blenden ließ.

      „Danke für die Information, aber ich interessiere mich nicht für Kabarett.“

      „Das hätte ich mir denken können, genauso humorlos wie der Herr Papa? Na ja, der Apfel und sein Stamm, und so weiter.“

      Paul lächelte mitleidig und drehte sich auf dem Absatz um. Dieser Zwischenfall hatte ihn nur kurz beschäftigt. Er hatte also einen Doppelgänger, es wäre doch interessant diesen kennenzulernen. Vielleicht war der Mann ein naher Verwandter, von dem er nichts wusste? Hatte er vielleicht sogar einen Bruder? War das seinem Vater zuzutrauen, eine heimliche Affäre mit Folgen? Paul hatte unbestreitbar äußere Ähnlichkeit mit seinem Vater, somit hatte sie dieser Fernsehclown auch. Er wollte unbedingt seinen Vater darauf ansprechen, doch dann wurde er von seiner Arbeit abgelenkt, es hatte Probleme bei der letzten Operation gegeben, er hatte danach ganz andere Dinge im Kopf. Direkt nach Dienstschluss hatte er eine Verabredung mit seiner Aisha gehabt, das war wichtiger gewesen als an einen Doppelgänger zu denken oder sich bei seinem Vater nach einen möglichen Bruder zu erkundigen. So vergaß er den Fernsehauftritt, zumindest für einige Zeit.

      Dann kam die unglückliche Unterredung mit seinem Vater dazwischen, die Frage nach einem möglichen Bruder hätte dort keinen Platz gefunden. Auch der Tod des Vaters, der Beerdigungskram und die ihn fordernde Organisation der Hinterlassenschaft besetzten Pauls Gedanken und seinen Tagesablauf erheblich. Wollte er wirklich die Klinik übernehmen? Oder sollte er den