Gabriele Plate

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge


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Fragen brauchte er sich sehr bald nicht mehr zu stellen, denn kurze Zeit nach der Beerdigung seines Vaters, hatte er auch Aisha verloren. Die Welt war eingestürzt.

      Paul war vorerst nicht ansprechbar gewesen, er hatte um die Verschiebung der Testamentseröffnung gebeten. Als es dann zu diesem Termin kam, war er immer noch wie betäubt über den Verlust seiner Geliebten. Nun stand er ganz alleine da, er fand keine Richtung.

      Pauls Mutter war vor mehr als fünfundzwanzig Jahren, unter ihn immer noch belastenden, tragischen Umständen ums Leben gekommen. Paul hatte keine Erinnerung an diesen Unfall. Er hatte keine Geschwister und dachte Alleinerbe zu sein. Ein Drittel dieses Erbes wäre immer noch mehr als genug gewesen, um im gehobenen Luxus, ohne finanzielle Einschränkung, bis ans Ende eines langen Lebens zu gelangen. Aber Luxus lag gar nicht in Pauls Sinn, zumindest kein übermäßiger. Natürliche Bescheidenheit, verbunden mit unauffälliger Exklusivität, hatten ihn ebenfalls von seinem Vater unterschieden.

      So war es ihm also nicht wichtig, mit was oder mit wie viel sein Vater ihn bedacht hatte. Was der Verstorbene der Haushälterin, eventuellen Freunden oder Vereinen zugedacht hatte, war Paul gleichgültig, es würde für ihn immer genug übrigbleiben. Er hörte kaum auf die Worte des Notars, seine Gedanken waren bei der toten Aisha und nur bei ihr. Doch als der Notar seinen Namen verließ und angab, dass Paul die Hälfte aller Wertpapiere, des Barvermögens und der zahlreichen Immobilien zu erben hatte, wurde er wach. Er bat um Wiederholung des letzten Absatzes. Darin erfuhr er weiterhin, dass er zwar alleiniger Erbe des Elternhauses und der Besitzanteile der Klinik sei, ihm jedoch die zu erwartenden künftigen Schwanstein Gewinnanteile daraus, nur zur Hälfte zugesprochen wurden. Das war erstaunlich, wer sollte die andere Hälfte bekommen?

      Paul vernahm, dass die verlorene Hälfte, nicht etwa einer heimlichen Liebsten seines Vaters zugesprochen wurde, sondern dessen Sohn, Kai Hauke von Schwanstein, seinem Bruder.

      Paul war zunächst einmal sprachlos, er rührte sich nicht. Er hatte einen Bruder? Bei diesem Gedanken überfiel ihn ein leichtes Rieseln der Freude. Dieses Rieseln kroch langsam über ihn und versuchte sich einen Platz in dem großen Trümmerfeld der Trauer freizuschaufeln.

      „Kai Hauke von Schwanstein, mein Bruder? Können Sie mir sein Alter nennen?“

      Ein Missverständnis schien unwahrscheinlich. Kai war der Vorname seines Vaters, Hauke der des Vaters seiner Mutter, und Paul hatte den Namen seines Großvaters väterlicherseits.

      „Ja, natürlich, das Alter“, sagte der Notar peinlich berührt, er hüstelte verlegen.

      „Er ist Ihr Zwillingsbruder. Ihr Herr Vater hatte mich schon vor Jahren darüber aufgeklärt und um absolute Diskretion gebeten. Er hat auch ausdrücklich darauf bestanden, dass Sie zur Testamentseröffnung zuerst und allein anwesend sein sollten, das ist nicht üblich und hat erhebliche Schwierigkeiten gekostet. Aber er bestand darauf, damit Sie nicht, eventuell unerwünscht oder unangenehm unvorbereitet, mit diesem Bruder konfrontiert werden. Aus Rücksicht, um sich frei entscheiden zu können ob Sie ihn kennenlernen wollen oder nicht.“

      Paul war gerührt, so taktvoll kannte er seinen Vater nicht. Gleich nach diesem kurzen Gerührt-Sein machte sich der Ärger breit. Ärger über diese Heimlichtuerei. Ein Bruder, okay, seinetwegen auch zwei oder drei, das hätte er ja noch verstanden und einordnen können in die Möglichkeiten, Früchte eines heimlichen Liebeslebens seines Erzeugers. Aber wieso ein Zwillingsbruder?

      Seine Mutter hatte ihm von frühester Kindheit an das Gefühl vermittelt, ihr lästig, sogar unerwünscht zu sein. Aber sie würde doch niemals ihr Zwillingskind abgegeben haben. Oder hatte sie nicht davon gewusst? Ist so etwas möglich? Wieso hatte sein Vater davon gewusst, hatte er ihr und ihm dieses Kind heimlich weggenommen? Aber warum?

      Paul erinnerte sich an den Doppelgänger aus der Fernsehsendung und es bestätigte sich tatsächlich, dieser Mann vom Kabarett war sein Bruder, der unter einem Künstlernamen auftrat. „Bitterstone“ erinnerte sich Paul. Das passte zu dem Wenigen was Paul über das Fernsehen von ihm vernommen hatte. Bitter und schwer wie ein Stein. Oder Steinschlag? So, wie seine Worte auf viele Gemüter wirken mussten. Der Name schien von Schwanstein abgeleitet zu sein. War er einen bitteren Weg gegangen?

      Paul wollte unbedingt über dieses Schicksal informiert werden, doch der Notar konnte ihm keine nähere Auskunft geben. Er überreichte ihm lediglich eine Handy Nummer und eine Londoner Adresse. Paul plante noch am selben Tag diesen Bruder zu sehen und mit ihm zu sprechen. Doch das Schicksal machte ihm einen blutigen Strich durch diesen Wunsch.

      Unter dieser Nummer konnte man nur eine Frau erreichen, angeblich seine Managerin. Paul bekam zu hören, dass er sich gefälligst selbst zum Theater begeben müsste, wenn er den Künstler sehen wolle. Dieser hätte weder Zeit noch Interesse an außerplanmäßigen Treffs mit Unbekannten. Im Moment sei Mister Bitterstone sowieso noch nicht zu erreichen. Es gäbe für seine Fans vor der Abendvorstellung eine Möglichkeit ihn zu sprechen, aber man müsse sich anmelden. Zu späterer Stunde wünsche der Künstler keine Besuche mehr, auf Wiederhören.

      Paul kam nicht zu seiner Erklärung, man ließ ihn nicht zu Worte kommen. Er rief erregt ins Telefon. „Moment mal, hören Sie Verehrteste, es ist sehr wichtig, ich bin kein Fan dieses Clowns, ich bin sein Bruder.“

      Die Dame hatte die Verbindung schon abgebrochen und sich wahrscheinlich mit denselben Worten an den nächsten und übernächsten Anrufer gewandt, denn als Paul noch etwa ein Dutzend Mal die Wiederholungstaste betätigt hatte, war die Leitung permanent besetzt gewesen. Wie Paul in Erfahrung gebracht hatte, war es einer der letzten Abende der Gastvorstellung seines Bruders in dieser Stadt, aber er hatte nicht das geringste Bedürfnis diesem eingebildeten Mann hinterher zu reisen.

      Wieso eingebildet? Das konnte er doch gar nicht wissen. Seine Managerin war eine Ziege, das hieß noch gar nichts. Dann kamen Paul die dummen Sprüche aus dem Fernsehen in Erinnerung. War es nicht ratsamer, sich noch ein paar Tage zu gedulden, zu warten bis der Notar den Mann informiert und in sein Büro bestellt hatte? So gesehen könnte er auch warten, bis dieser Bruder den Kontakt zu ihm anstrebte.

      Am frühen Abend jedoch, gewann seine Neugier. Paul entschied zum Theater zu fahren. Er war mit einem Taxi vorgefahren, hatte die Tür zum Haupteingang noch verschlossen vorgefunden und sich durch den Nebeneingang hineinschleichen wollen, dem Künstlereingang, als sei er ein Mitglied einer Theatertruppe. Vielleicht konnte er ja dieser Zicke am Telefon ein Schnippchen schlagen und ohne Anmeldung seinem unerwarteten Geschenk gegenübertreten. Er nannte dieses Geschenk sein Fleisch- und Bluterbe.

      Doch bevor Paul den seitlich des Hauptgebäudes liegenden, von einer dichten Hainbuchenhecke gesäumten, schmalen Asphaltweg bis zu Ende beschritten hatte, stellten sich ihm vier vermummte Gestalten in den Weg. Das hatte ihn eher erstaunt als ängstlich gestimmt. Die Personen waren nicht groß und sie bewegten sich nicht gerade wie Muskelmänner. Wenige Sekunden später hielten sie ihn zu Viert gleichzeitig fest, und eine fünfte Person beugte sich über ihn. Er lag mit dem Kopf in die Buchenhecke gepresst. An andere Details konnte er sich nicht erinnern, nur an den Einstich einer Betäubungsspritze. Dass es vier Personen waren, hatte Paul noch verwundert, denn er war kein körperlich durchtrainierter Mann mehr, das war leicht zu erkennen, kein starker Mann. Er hatte sich gehenlassen, nicht mehr trainiert seit Aishas Tod. Trotzdem hatte man geglaubt vier Personen zu benötigen um ihn festzuhalten? Er war viele Stunden später in der Intensivstation des Städtischen Krankenhauses aufgewacht. Ohne seine Zunge.

      Als sein Verstand wieder bereit war zu funktionieren, als sein Entsetzen den Schmerz des nächsten Verlustes vertrieben, und seine Fassungslosigkeit, über die Zügellosigkeit der Selbstjustiz dieser Aisha Familie, sich in wilde Rachepläne verwandelt hatte, glaubte er durch die Hölle zu gehen. Doch Paul kannte die wahre Hölle noch nicht. Relativ gesehen, zu dem was noch kommen sollte, balancierte er erst am Eingangsbereich des Höllentores entlang. Sein Bruder war der Priorität, kennengelernt zu werden, erneut enthoben. Diese Mörderbande hatte sich dazwischen gedrängt und einen neuen, absoluten Vorrang in seine Gedankengänge geschlitzt.

      Sie hatten ihn offensichtlich auf Schritt und Tritt überwacht, um ihn in einem geeigneten Moment überfallen zu können. Aber warum hatten sie dieses Attentat auf ihn nicht begangen, als er vor