Gabriele Plate

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge


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an, sondern wie einen geisteskranken Fremden. Er hatte noch niemals zuvor diese oder ähnliche Worte von seinem Sohn vernommen, und er machte eine Bewegung, als müsse er sich vor ihm schützen.

      Paul war nicht sehr diplomatisch vorgegangen. Es war schwerlich zu erkennen, dass dieser Vater nur gehört hatte, was er hören wollte. Pauls Versuch, ihm die eingeschlossene Gewalt der Ganzheit, in der übergeordneten, von der Natur gegebenen unausweichlichen Gemeinsamkeit auseinandersetzen zu wollen, war fehlgeschlagen. Trotzdem, Paul setzte noch einmal an.

      „Diesen Marsch weltweit, mit seinem Charlie Slogan vor jeder Brust, sehe ich nicht als reine Anteilnahme, nicht als Mitgefühl. Ich behaupte sogar, dass die Menschen dieses Spektakel brauchten, um diesen jüngsten Terrorakt verarbeiten und um damit abschließen zu können, um ihre individuelle Angst nicht mit in den Alltag zu schleppen und um sich in der Masse bestärkt oder beschützt zu fühlen, um aus dem sicheren Nest heraus zurück zur Tagesschau pendeln zu können, zum anschließenden „Brennpunkt“ beim Abendessen und danach zu „Tatort“. Die Guten! Denn schließlich haben sie ja ein Exemplar erstanden, ein so begehrtes Exemplar der ersten Auflage nach dem Terrorakt in Paris. Hast du das gehört? Fünf Millionen Sonderauflage, anstatt der normalerweise dreißig- oder vierzigtausend Hefte der Charlie Hebdo Redaktion. Und ich kann dir versichern, die Auflage wird sich noch erhöhen. Was ist das? Wie nennst du das? Anteilnahme an den getöteten Journalisten etwa?“

      „Das spielt doch keine Rolle, wenigstens haben Trauer und Furcht ein konstruktives Ventil gehabt,“ meinte Pauls Vater sichtlich erschöpft, als sei er durch die Flut der ketzerischen Worte seines Sprösslings in die Flucht geschlagen worden.

      „Konstruktiv? Das wird sich noch zeigen“, konterte Paul angriffslustig.

      Die aufgekommene Lust seinem Vater ungewohnt Paroli zu bieten, wirkte in ihm wie ein Steppenbrand. Er wusste selbst nicht warum ihn das plötzlich so reizte, warum er es für so wichtig befand zu widersprechen. Er hatte doch sonst meist nur sein Ja und Amen gemurmelt, oder geschwiegen. Von Pauls Seite hatte es niemals, in keinem Bereich, seinem Vater gegenüber einen nennenswerten Widerstand gegeben. Eine verbale Abnabelung schien ihn ergriffen zu haben, war in dieses letzte Gespräch gestürzt.

      Genau besehen war ihm all dieses Geschehen, von welchem er redete, gar nicht so sehr ans Herz gewachsen wie es den Anschein hatte. Die Mitteilung, Aisha zu ehelichen und sie mit dem Vater bekanntzumachen, war ihm zu diesem Zeitpunkt wichtiger gewesen als alles andere. Dafür war er eigentlich in diesen Raum getreten. Stattdessen plapperte es weiter aus ihm heraus, als sei er ein Verfechter einer „Ich bin nicht Charlie“ Bewegung. Er stocherte, schlug mit seinen Worten um sich, wie mit einem imaginären Schwert, direkt in das Gemüt seines Vaters hinein. Dieser Vater berief sich immer wieder auf die Gefahr eines Untergangs des Abendlandes, auf die erfolgreichen Hiebe des zerstörerischen Terrorismus von Seiten des Islam.

      „Diese Moslems haben keinen Respekt vor unseren Werten, vor dem Leben, wie können sie dann von uns Respekt verlangen.“

      Er warf sie alle in einen Topf, duldete keinen Unterschied zwischen einem Islamisten und einem Moslem. Und immer wieder hörte Paul von ihm den Begriff “Islamischer Staat“. In einer speichelbildenden Tonlage, so wie sich Paul die Stimmen der Inquisitoren aus dem Mittelalter vorstellte, wenn sie über Hexen debattiert hatten. Es war erstaunlich, dass diese Unterhaltung überhaupt noch atmete.

      „Ich kann dir in einem Punkt zustimmen. Niemand kennt die Zukunft, wohin und wie intensiv sich der Islam, den du als Bedrohung empfindest, auszubreiten in der Lage sein wird,“ sagte Paul. „Jede Kraft, die sich zu einer Macht formiert, wird irgendwann Unheil hervorbringen, das ist kein Geheimnis. Doch die Macht des Islam hat in ihrer Vergangenheit aus historischer Sicht, bei weitem nicht so großes Unheil angerichtet, wie das Christentum. Das dürfte auch dir bekannt sein! Doch zu einem Vergleich brauche ich nicht einmal zurückzublicken, es reicht, auf den legalen Terror unserer Zeit zu verweisen, den von christlichem Militär und Polizeikräften „legal“ Ermordeten rund um die Welt. Was würde wohl mit den Trauernden dieser Seite passieren, wenn sie zu Millionen ebenfalls um ihre Toten öffentliche Trauermärsche und Mahnwachen veranstalten würden? Diese Trauernden würden auch zu Terroristen deklariert, nicht wahr! Denn ihre Toten sind legale Tote. Außerdem wissen wir, dass weltweit, etwa eins Komma fünf Milliarden Moslems durch diese Karikaturen beleidigt wurden. Der größte Teil davon nicht nur oberflächlich, so, als hätte man sie persönlich nur mal kurz als Arschloch bezeichnet, sondern tief im Innersten ihres Glaubens und ihrer Seele getroffen. Und da fällt man wie aus allen Wolken und ist höchst bestürzt über diesen, relativ gesehen, begrenzten Gegenzug? Trotzdem, alle wissen es, Gewalt mit Gewalt zu beantworten führt erfahrungsgemäß ins Chaos.“

      Paul war politisch nie über ein fast peinliches Minimum hinaus informiert gewesen, das Geschehen da draußen, für ihn war es immer nur ein „Da Draußen“ gewesen, es hatte ihn nicht sonderlich interessiert. Die politischen Parteien in seinem Land waren für ihn keine verschiedenen Lager, zwischen welchen er sich entscheiden musste. Er, der wahlberechtigte Bürger, hatte seine Wählerstimme stets in die Fußstapfen seines Vaters gekreuzt, genau so frag- und gedankenlos, wie er die Wasserspülung einer Toilette betätigte. Nur mit Mühe konnte er die Namen einiger Minister seines Landes nennen und das auch nur, aus der gesellschaftlichen Forderung heraus. Sein Vater kannte solche, für sein Empfinden, radikalen Äußerungen seines Sohnes nicht. Hatte er eine Schlange in seinem Nest großgezogen?

      „Mein Junge, Paul, um Gottes Gnade, was ist nur mit dir passiert,“ sagte er atemlos und selten erschöpft. „Hat dir dieses verdammte Moslem Mädchen den Verstand geraubt? Du bist blind. Ich erkenne mit großer Bestürzung, dass du auf der Seite dieser Wilden stehst. Du wirst es erleben, sie werden sich schnell vermehren, der Terror hat erst angefangen, sie werden keine Ruhe geben, sie werden tief in ihren Herzen von menschenverachtendem Hass geleitet.“ Er kämpfte um Luft.

      „Auch ich, dein Vater, habe ein T-Shirt mit dem Charlie-Appell getragen. Ich bin aus Überzeugung mitmarschiert und habe den Bleistift als Symbol der Pressefreiheit in die Höhe gehalten. Und ich war berührt und mitgerissen von dem Zusammenhalt der Menschen auf diesem Trauermarsch, der sich wie ein Siegeszug durch die Stadt zog“.

      „Ja, ein Siegeszug und im Charlie T-Shirt mit Begeisterung und aus Überzeugung den Bleistift in die Höhe gereckt, so wie mein Großvater vor nicht allzu langer Zeit ein braunes Hemd getragen und dabei die Reichsflagge geschwenkt hat? Diese Anschläge der letzten Woche sind instrumentalisiert worden, Vater, und das liegt fernab der Trauer.“

      Paul streckte seine langen Beine und erhob sich langsam aus dem bequemen Ledersessel im Arbeitszimmer seines Vaters, er bat ihn somit, das Gespräch als beendet anzusehen. „Ich muss zurück in die Klinik, entschuldige bitte“, sagte er bestimmend. „Wir sehen uns später.“

      Das war ebenfalls noch nie zuvor geschehen, wenn jemand das Gespräch zwischen ihnen für beendet erklärt hatte, war es immer, ausschließlich, sein Erzeuger gewesen. Paul nickte diesem bestürzten Vater noch kurz und höflich zu, er unterdrückte ein Grinsen, Triumph glitzerte in seinen Augenwinkeln. So entfernte er sich mit schwingendem Schritt aus dem Gesichtsfeld seines Vaters.

      Ein kurzer Triumph, genau besehen war es sein Vater, der sich entfernte, der noch am selben Tag mit den Flausen seines Sohnes im Kopf starb. Unreif und verblendet, hatte er Pauls ersten und letzten kleinen Aufstand bezeichnet.

      Rachepläne

      Pauls Vater war ein einflussreicher Mann gewesen, mit der Selbstverständlichkeit vertraut, seine Order beachtet und widerspruchslos ausgeführt zu wissen. Beruflich, wie privat. Falls Paul jemals Gegenargumente hatte verlauten lassen, waren sie sehr selten und bedeutungslos gewesen, auf absolute Nebensächlichkeiten beschränkt.

      Während dieses letzten Gesprächs, als Pauls Sanftheit in eine offene Antihaltung umgeschlagen war, als wolle er ein nie gelebtes Pubertätsverhalten nachholen, hatte er sich ungewohnt befreit gefühlt. Ein Gefühl, das ihm nicht bewusst war, er fühlte es nur, ohne es zu analysieren. Ihm war wenig Zeit dafür geblieben, genau siebenundzwanzigeinhalb Minuten. Dann war dieser Vater unangreifbar geworden. Kein Vorwurf konnte ihn mehr treffen, kein Widerspruch empören.

      Dieser Mann