Gabriele Plate

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge


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der Menschheit auf, als sei er nicht ein Teil davon.

      Das kleine Flugzeug wurde von der heftigen Randzone des Unwetters erwischt und geriet außer Kontrolle. Seine Schwärmerei, das Gute oder Schlechte daran, alle Ziele, Anmut und Erotik, wurden im Nu vom Griff des Todesschreckens getilgt.

      Man sah weit und breit keine Fläche. Eine unsanfte Notlandung, in der zerklüfteten Topographie des Gebirges, stand bevor. Oder ein Absturz. Ein kurzer Schreck, wenige Sekunden und dann aus und vorbei?

      Nein, dieser Unfall bestand nicht aus einem plötzlichen Absturz, die Maschine sank zwar unaufhaltsam, aber der Schreck zog sich einige Minuten in die Länge. Der Konzernchef rief nicht in höchster Not nach dem Namen seiner Verehrten, er sehnte sich nicht nach ihrem Kuss, kein letzter Liebesschwur rollte über seine zitternden Lippen, seine Leidenschaft war brutal abgewürgt. Er war einzig, von Angst um sich selbst besetzt und versuchte hektisch in aussichtslosem Bemühen eine Bruchlandung zu vermeiden. Diese erwies sich über der zerklüfteten Gebirgsfront als unumgänglich. Seine schöne Nichte Penélope ging ihm dabei ebenso aussichtslos zur Hand. Beide waren zu wenig Profis, um diese prekäre Situation fachgerecht zu meistern.

      Penélope hatte keine Panik, nur stumme Angst, und sie spürte hautnah die menschliche Einsamkeit. Sie erkannte schnell das sinnlose Bemühen des Piloten und wunderte sich über den lang empfundenen Zeitraum des fallenden Fluges. Sie zwang sich zur Ruhe. Und dann dachte sie noch einmal mit all ihrer Inbrunst an Paul und bat ihn um Verzeihung. Sie drehte sich um, sah nach hinten und versuchte seinem Blick zu begegnen, doch Paul war nicht zu sehen, er lag schlafend in den Sitzen.

      „Es tut mir leid, es tut mir so entsetzlich leid!“ Diesen Satz, wie ein Gebet hervorgestoßen, wiederholte sie laut, unzählige Male. Die letzten Minuten, kein sinnloses Nichts. Sie schienen alles für sie zu sein, alles was ihr blieb und jetzt noch wichtig war.

      Diese Gedanken übertönten ihre Angst, sie flogen an der schönen Penélope vorbei und hindurch, langsam wie ein eiliger Vogelschwarm. Sie empfand jeden flatterigen Flügelschlag, jedes einzelnen imaginären Vogels separat. Jeden einzelnen, wie ihre eigenen hektischen Atemzüge.

      Und dann kam der Aufprall. Bäume flogen durch das Cockpit, Äste schlugen auf sie ein, sie schrie auf und verlor das Bewusstsein. Ihr Onkel war sofort tot. Und Paul? Dem Todkranken, dem so sterbenselend während des Fluges gewesen war? Er hatte sich unterwegs mehrere Male übergeben müssen, und er hatte sich völlig erschöpft auf die beiden hintersten Sitze gelegt.

      Sich Sehnen

      Sich erfolgreich zu sehnen, darin hatte Paul während seiner Krankheit eine spezielle Fähigkeit entwickelt, die er mit viel Mühe ergriffen und zu einer Art Meditation ausgefeilt hatte. Dadurch gelang es ihm manchmal ein Lebensgefühl zurückzufordern, sich darin wiederzufinden, bis hin zum Erleben zwar imaginärer aber trotzdem wahrnehmbarer Glücksmomente. Das Glück fühlte sich dann für ihn real an, es war da, nicht nur in Gedanken, und das konnte einen Sprung der Freude in ihm auslösen. Mitten in einem Chemoschub! Das hieß, besonders ein zwei Tage später, wenn dieser achttägige Schub beendet war und es ihm noch schlechter ging als ohnehin schon. Dann, wenn die Freude am nötigsten war, wenn die Therapie wirkte und ihr Unwesen in ihm trieb. Wenn er an Zweifeln zu ersticken drohte und glaubte, mit den wissenschaftlichen Hochglanzergebnissen der Medizin, auf die er sich hoffnungsvoll eingelassen hatte, in die falsche Richtung zu galoppieren. Wenn er zu spüren glaubte, wie sein Körper innerlich zerrissen wurde. Wenn er befürchtete, niemals die Kraft mobilisieren zu können, diesen geschundenen Leib wieder aufzubauen, aufbauen zu müssen, zur Alternative des Sterbens.

      Dann, genau dann, wenn ebenfalls die Tabletten gegen die physischen Schmerzen versagten, aus unerfindlichen Gründen nicht wirkten, wenn dieser ihn zerreißende Schmerz im tiefsten Knochenmark fast unerträglich wurde, wenn er ein schreiendes Gurgeln von sich gab, ein Gurgeln, das keinem normalen Schmerzensschrei mehr glich, wenn er fühlte, ein winziger Schritt weiter und der Tod hätte gesiegt, dann zerrte er mit dem letzten kleinen Rest des verbliebenen Bewusstseins die Sehnsucht hervor. Ein winziger Strohhalm, der sich als rettende Fähre erwies und ihn in eine Art Hafen schiffte. Ein Hafen, der einer Bewusstlosigkeit zwar ähnelte, es aber nicht war, und der trotzdem den Schmerz draußen ließ.

      Er hatte am Wendepunkt des Erträglichen den Schalter umgedreht und auf Sehnsucht geklickt, als wäre er von seinem Körper getrennt worden. Eine erwünschte Welt spielte sich nun in seinem Kopf so wahrnehmbar und deutlich ab, als erlebe er sie wahrhaftig. Sie wirkte nicht einfach nur wie eine ordinäre Ablenkung von Trauer, Schmerz und Angst, sie bescherte ihm auch das heilende Erleben der Freude.

      Die gelungene Eigenproduktion des Ausstoßes einer gehörigen Dosis Serotonin, würde sein Arzt gesagt haben. Ähnlich, wie bei einem Unfallopfer, bei dem sich der Schmerz wegen eines verlorenen Körpergliedes erst dann einstellt, wenn die Schutzreaktion des Körpers seine Opiate zu produzieren, nachlässt. Nichts weiter!

      Paul sah das anders. Er schloss dann die Augen, versuchte die kurze, beinahe aussetzende Schmerzatmung zu regulieren, um eine ausgeglichene Tiefenatmung hervorzuzaubern und begab sich in die Welt des Wunsches und des Willens um diesen Wunsch. Dieser Wille konnte ihn so stark erfassen, dass er aus ihm zu bestehen schien. Paul wünschte nicht mehr, er verkörperte den Wunsch. Seine Krankheit hatte etwas in ihm umgekrempelt, hatte etwas entblättert, hatte eine Fähigkeit und Sensibilität erscheinen lassen, die er nie zuvor wahrgenommen hatte.

      Sich nach seiner früheren fabelhaften Gesundheit zu sehnen, war in seinem Wunschprogramm nicht aufgelistet, er wollte nur menschenwürdig überleben, und er wollte seine Zunge zurück. Manchmal wünschte er sich auch in seinem Beruf wieder arbeiten zu können, nicht um die unvergleichliche Kraft des Erfolges aufzusaugen, sondern um endlich anderen Kranken zu helfen. Nun wusste er wie es sich anfühlte krank zu sein. Doch überwiegend sehnte er sich nach dem erregend tröstenden Griff der Liebe, nach ihrem Duft, nach den erhebenden Tönen ihrer verschiedenen Ebenen. Er hatte diesen Griff nur ansatzweise hautnah erlebt und durch den frühen Tod seiner Verlobten verloren. Die Sehnsucht nach ihr war so überwältigend, dass er in seinen weltabgewandten Willens- und Wunschmomenten ihre Anwesenheit im Diesseits nicht nur zu spüren glaubte, sondern wahrhaftig spürte. Ihr Tod war dann nicht nur unvorstellbar, er hatte ganz einfach den Zugang in Pauls innerstes Sein nicht erwirkt. In diesem Zustand war seine Liebste keinesfalls auferstanden, sondern quicklebendig, wie niemals tot gewesen.

      Paul war nicht religiös im allgemein verständlichen Sinn, er war der Taufbescheinigung nach ein katholischer Christ. Seine Liebste hatte darauf bestanden, die gemeinsamen Kinder nach seinem Glauben und seinen Vorstellungen der Erziehung aufwachsen zu sehen. Ihm war das egal gewesen, er hätte niemals darauf bestanden. Er war sogar der Meinung, dass es für seine Kinder nur positiv sein könne, mit beiden Kulturen und somit auch beiden Religionen bekannt gemacht zu werden. Der islamischen und der christlichen Welt. Welcher sie dann angehören würden oder es später wollten, fand er nebensächlich.

      Schon möglich, hatte Aisha behauptet, doch sähe sie es nicht als positiv, wenn ein Mädchen mit moslemischen Wurzeln, als bedauerte Minderheit unter ihren christlich erzogenen Klassenkameradinnen, täglich über unzählige Hürden stolpern müsste. Hürden, die nichts mit dem Lehrstoff zu tun hätten und den Stolz zu untergraben wüssten. Sie gestand ihm sogar den Wunsch, aus diesem Grunde am liebsten nur Söhne zu gebären.

      Wie viele es werden sollten, darüber hatten sie sich noch nicht geeinigt. Zuerst galt es damals, aktuellere Probleme zu lösen.

      Aishas Zweifel waren geweckt. Sie hatte zwar schon als junges Mädchen einiges an ihrer Religion zu hinterfragen versucht, unerlaubterweise, aber erst als sie Paul kennengelernt hatte, versuchte sie ihrem Glauben einen Todesstoß zu versetzen. Das begann recht harmlos, damit, dass sie beschloss, wenn sie erst einmal mit ihm verheiratet wäre, sich auch wie eine Frau dieses Landes zu kleiden. Sie wollte an seiner Seite so denken und lernen so zu leben wie er, der Christ. Das konnte doch nicht so schwierig sein, hier war sie schließlich geboren und aufgewachsen. Sie hatte die Regeln der Religion ihrer Väter zwar eingesogen, als sei sie damit verwachsen, hatte sie aber längst nicht mehr als Schutz, sondern auch als drohende Bürde erlebt. Nicht zuletzt, um ihrem Anpassungsbedürfnis an Paul und seiner Liebe gerecht zu werden.

      Diesen