Gabriele Plate

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge


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ein plötzliches Verstummen, ein Wimpernschlag lang noch bebten die Töne in ihm nach, dann fielen sie in sich zusammen, wie ein feinster Aschehügel über einem kleineren Erdloch. Und es schien Paul, als polterten sie in ihrer Lautlosigkeit. Und schon hatte er sich von einer frühesten, unbewussten Erinnerung abgewandt und sich für die gegenwärtige Außenwelt entschieden.

      Der Bus stoppte. Paul entdeckte winzige Fältchen am mittleren Ohransatz, haarfeine Hautrillen die ihm entgegen lächelten. Sie hatten sich mit Hilfe der Zeit genau dort gebildet, wo der äußere Teil des Gehörorgans, der kleine muschelförmige Knorpel, seinen konkaven Bogen ansetzte. Die zugehörig berühmten Läppchen wurden von schwerem Ohrschmuck ein wenig heruntergezogen. Kein silbriges Haar ließ sich blicken. Dann bemerkte Paul, auf seiner kurzen Entdeckungsreise über dieses Gesicht, feine, strahlenförmige Linien über der stark geschminkten Oberlippe.

      Sie lachte, und Pauls Aufmerksamkeit erheischte eine Lippenstiftspur auf einem ihrer Vorderzähne. Er zog seinen zerknitterten feuchten Mundschutz aus der Tasche, suchte einen trockenen Zipfel und beugte sich ein wenig zu ihr hinab. Dann bleckte er unmissverständlich seine Zähne vor ihr und näherte sich mit dem Mundschutz umwickelten Zeigefinger ihrem Gesicht. Sie hatte verstanden, gehorchte wie ein folgsames Kind, dem man die Nase putzen will, reckte ihm ihr Gesicht entgegen und zeigte ebenfalls ihre Zahnreihe. Paul entfernte das leuchtend fettige Rot von ihrem Zahnschmelz und zeigte ihr den kleinen Fleck wie eine Trophäe.

      „Jetzt sind wir quitt“, meinte sie lachend. Es kam keine Peinlichkeit auf, als hätten sie sich seit Ewigkeiten unpassende Tropfen gegenseitig aus dem Weg gewischt.

      Endstation Flughafen, Paul hatte seine Station verpasst, schon längst. Er nahm ihre Einladung zu einem Kaffee mit Mittagessen an, obwohl er befürchtete keinen Bissen schlucken zu können, ohne dass er kotzen müsse. Außerdem wäre es nicht einfach, etwas Geeignetes für ihn auf der Speisekarte zu finden, denn seine Mundschleimhaut lag in Fetzen. Sie war durch einen hartnäckigen Pilzbefall an ihre Grenzen gelangt. Ein weiteres Übel der vielfältigen Nebenwirkungen seiner Chemotherapie.

      Alternd, dieser Begriff kam Paul noch kurz durch den Sinn, bevor er ihr beim Aussteigen spöttisch galant behilflich war. Schwindelerregend hohe Absätze zierten ihr gebrechlich zart wirkendes Schuhwerk, das ein wenig bis über ihre Fußgelenke reichte und im salzigen Schneematsch zu versinken drohte.

      Alternd? Wie abwegig dieser Gedanke, alles ist alternd, nicht nur eine Frau, die versucht durch ihre Aufmachung davon abzulenken. Und dann bemerkte Paul, dass er sie um dieses Alter beneidete. Ein Alter, das er wahrscheinlich, so wie es im Moment aussah, nicht erreichen würde. Wie lebendig sie wirkte, sie verkörperte beneidenswerte Gesundheit. Sie gingen nebeneinander her. Paul fühlte sich plötzlich hilflos, er hatte schnell beide Hände tief in seine Jackentaschen geschoben und wusste nicht, was ihn an ihre Seite fesselte. Seine Schultern waren hochgezogen, bis zum Ansatz seiner Mütze. Seine zierliche Begleiterin hakte sich bei ihm ein und tänzelte neben ihm her. Dabei hing sie fast an ihm, und Paul sah sich gezwungen seinen Schritt zu drosseln.

      Was machte er plötzlich am Flughafen? Was wollte er von dieser Frau? Er sollte schleunigst nach Hause, sich in seinem Bett verkriechen, bevor ihn die heutige Verabreichung seiner Chemoinfusion umhauen würde. Er fror immer noch erbärmlich, aber er blieb und beugte sich statt-dessen ein wenig zu ihr hinunter und schnüffelte an ihrem Haar. Und wieder dieser Duft! Er sog tief und gierig dieses Sonderbare ein, etwas, das nach Leben und gleichzeitig nach Geborgenheit duftete.

      Sie hatten sich nebeneinander in die Sitzbank eines der Flughafen Bistros geklemmt. Sie plauderte, und Paul erfuhr einiges über ihr Leben. Sie war oft in Marrakesch und besaß dort ein Haus, mitten in einem parkähnlichen Garten von einer hohen Mauer umsäumt. Paul sah sich ein paar Fotos an, hohe Mauern um Irgendetwas gefielen ihm gar nicht. Diese Mauer aber, in ihrem dunklen Rosa, wirkte nicht bedrohlich, sie erweckte in ihm eher das Gefühl etwas Märchenhaftes zu verbergen. Er erkannte Palmen, exotisches Gewächs und ein Gebäude, das ihn überraschte. Kein Pseudopalast wie erwartet, überladen und mit Kitsch verziert. Das Haus war eine architektonische Sonderheit, hochmodern und trotzdem passte es in dieses Märchen. Moderne Architektur interessierte ihn, das gab er zum Ausdruck. Er wurde eingeladen mitzukommen. Mit ihr zu fliegen. Heute, jetzt, sofort!

      Der Flug war ausgebucht. Paul dachte gar nicht nach, er wollte plötzlich nach Marrakesch. Und zwar genauso, wie sie es vorgeschlagen hatte. Heute! Er hatte mehr als eine Stunde lang seine Pein vergessen, er fühlte sich wiederbelebt, und er hatte einen erfüllbaren Wunsch vor Augen. Marrakesch und die Nähe dieser Frau.

      Sie war nicht erstaunt, als er ihrer Aufforderung mitzukommen zustimmte, jedoch hocherfreut. Sie war ebenso wenig erstaunt, als er sie mit einer schriftlichen Zeile auf seinem Smartphone, von der Existenz eines eigenen Privatjets informierte. Ein Spielzeug seines Vaters, mit welchem er hinüberfliegen könnte. Falls ein Pilot, den er im Visier hatte, sich einverstanden erklärte. Paul besaß keine Flugerlaubnis.

      Sie nannte ihm ihre private Handynummer. Paul tippte die Zahlen ein und drückte automatisch auf aktivieren, um zu kontrollieren, ob er die richtigen Ziffern eingegeben hatte. Ihr Smartphone lag vor ihnen auf dem Tisch, der Klingelton ertönte, und im selben Moment erstrahlte auf dem Display Pauls Gesicht. Er hatte dicht neben ihr gesessen und sich erkannt, samt einem Fenster seines Elternhauses im Hintergrund.

      Das war nicht vorgesehen gewesen, sie bedeckte hastig ihr Handy, bis die etwa zehn Jahre alte Aufnahme mit dem Paul Portrait in der Dunkelheit des Displays verschwand. Der letzte Aufruf, Flug nach Marrakesch, die Passagiere sollten sich sofort zum Gate begeben. Sie umarmte ihn kurz und überraschend heftig und eilte durch die Sicherheitskontrolle davon.

      „Wir sehen uns heute Abend in Marrakesch, ich warte auf Sie“, rief sie ihm noch zu.

      Schon war sie aus seinem Blickfeld verschwunden, lange, bevor er seine Fragen hätte schreiben können. Wie kam sie an dieses Foto, wieso, warum und überhaupt, was war hier los? Auch die Frage, ob sie nicht lieber im Privat Jet mit ihm fliegen wolle, blieb in ihm hängen.

      Sie reiste viel und niemals mit Gepäck. Sie besaß alles dreifach, Nötiges und Unnötiges, hier in Deutschland und dort in Marokko. Außerdem hatte sie eine Wohnung in London. Sie war Witwe, erfolgreiche Modedesignerin, war gesund und wirkte, als hätte sie keine Zweifel.

      Erst dann war Paul aufgefallen, dass sie ebenfalls seine Sprachlosigkeit als selbstverständlich hingenommen hatte. Sie hatte nicht mit der Wimper gezuckt, als er für einige Sekunden seine Glatze entblößt hatte. Sie zog ihn an, wie ein Magnet, und gleichzeitig war sie ihm auf eine seltsame Art unheimlich. Und, sie schien ihn zu kennen!

      Dieses Geheimnis brachte Leben in ihn, er wollte es lüften, und er fühlte sich ungewohnt motiviert. Und wenn es die letzte Tat in seinem Leben sein sollte, er musste diese Frau wiedersehen, seine Atemwege mit ihrem Duft verwöhnen und Kraft aus ihrem Blick empfangen. Jetzt erst betrachtete er die Visitenkarte mit ihrem Logo. Mi Mi Fa. Miriam Miller Fashion, London-Berlin-Marrakesch.

      MiMi, das klang in Pauls Ohren nicht gerade seriös, er assoziierte es mit einer Katze. Katzenmode? Gab es so etwas? Paul fand, dass Mimi allerdings zu ihr passe, zu dieser zarten, und wie ihm schien ebenso zähen Frauengestalt mit ihren grünen Krallen. Diese Dame versprach höchst problematisch und unbeirrbar zu sein, wenig gefügig und schon gar nicht erpressbar. Er irrte sich.

      Zu dem Gedanken einer Unbeirrbarkeit mischte sich Aisha, seine verstorbene Geliebte. Sie hatte für ihre Standfestigkeit ihr Leben gelassen. War es das wert gewesen? War er, Paul, das wert gewesen?

      Er erinnerte sich an einen Film, in dem er von dem Schlachtruf der Republikaner des spanischen Bürgerkrieges erfahren hatte: „Lieber stehend sterben, als kniend leben“. Das schien ihm paradox, denn ein Leben zählte mehr als der Stolz, mehr als Prinzipien, politische oder religiöse Vermächtnisse oder sogar mehr als die Liebe.

      Paul hätte sich gerne mit dieser MiMi darüber unterhalten, er hätte gerne von ihrem Stolz und ihrer Liebe erfahren, aber das Programm seines Smartphones spuckte für seine Bedürfnisse die benötigten Worte zu langsam heraus, um mit getippten Sätzen eine richtige Unterhaltung führen zu können. Wer brachte außerdem die Geduld auf, zu warten, was er von sich zu geben wünschte und dieses, verdammt noch mal, im Telegrammstil.