Uwe Bekemann

Im Bann des Augenblicks


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Ort in meinem Unterbewusstsein mehr und mehr zur Hölle entwickeln könnte! Nach einem Besuch könnte ich immer offen damit umgehen. Außerdem habe ich noch nie gekniffen! Und wenn ich dort auf ihn treffen sollte? Unsinn! Was sollte er dort? Die Halle ist leer! Und mit etwas mehr Zeit und ohne Panik finde ich vielleicht Hinweise, die ich gestern übersehen habe, Hinweise auf die Abläufe, Hinweise auf den Kerl und vielleicht noch mehr!“

      Sie würde die Halle wieder aufsuchen, heute, aber jetzt noch nicht. Sie konnte den Besuch mit dem Holen ihres Autos aus der Tiefgarage verbinden.

      Die gedankliche Auseinandersetzung hatte den ersten Schrecken der Idee vertrieben und sie wieder viel ruhiger gemacht. Sie sah auf die Uhr.

      „Es ist immer noch zu früh, um Mutter oder Alex anzurufen“, stellte sie fest.

      „Ich muss in der Einrichtung anrufen, dass ich heute nicht arbeiten kann, dass ich Urlaub nehmen muss“, fiel ihr ein.

      „Urlaub nehmen, mir von dem Verbrecher auch noch den Urlaub schmälern lassen?“, baute sich sogleich ein innerer Widerstand gegen diese Überlegung auf. „Wenn schon nicht zur Polizei, dann doch zumindest zum Arzt, auch noch einen Tag später!“

      Wie zur eigenen Bestätigung nickte sie mit dem Kopf.

      „Ich habe alles Recht der Welt, zum Arzt zu gehen! Ich kann nicht arbeiten! Ich rufe an und teile mit, dass ich krank bin und nicht kommen kann, und lasse mir anschließend einen Arzttermin für heute geben.“

      Ihrer Gynäkologin konnte sie von ihrem Erlebnis erzählen, ohne dass sie Angst haben musste, dass die Polizei Kenntnis davon erhielt. Sie würde es auch verstehen, dass sie nicht arbeiten konnte, würde ihr zwar auch zur Anzeige bei der Polizei raten, aber mehr auch nicht. Die Wunde auf ihrem Rücken würde sie ihr zeigen, als Beleg.

      „Ach was!“, wischte sie diesen Gedanken fort. Eines solchen Nachweises würde es auf keinen Fall bedürfen.

      „Es ist auch noch zu früh, um mich krank zu melden und um mir einen Arzttermin zu holen“, stellte sie fest. „Für alles ist es zu früh, für alles!“

      Sicherlich war die Tageszeitung bereits vom Boten gebracht worden und steckte im Briefkasten neben der Wohnungstür. Sie ging vor die Tür, die Zeitung steckte tatsächlich bereits im Kasten. Sie zog sie heraus und trug sie in die Küche, um sie dort aufzuschlagen, nachdem sie sich Kaffee nachgeschenkt hatte. Ob etwas darin stand, was in Zusammenhang mit ihren gestrigen Erlebnissen stehen konnte?

      „Ach was, wie sollte ich es erkennen, wenn etwas Derartiges darin stünde!“, hörte sie sich leise vor sich hin sagen. „Ich weiß doch noch nicht einmal, warum ich zum Opfer geworden bin!“

      Oberflächlich blätterte sie die Zeitung durch, überflog die Inhalte nur und nahm nur von den Überschriften der einzelnen Artikel wirklich Notiz. Es fehlte ihr die Konzentration, um längere Texte bewusst zu lesen.

      Ein erneuter Blick zur Uhr bestätigte ihr, dass es immer noch viel zu früh war, um die Dinge zu erledigen, die für einen geordneten Ablauf notwendig waren oder die sie sich für heute vorgenommen hatte. Sie musste warten.

      11 – Mutter unter Druck

      Der Erpresser hatte sein Verlangen sehr präzise formuliert. Erika Lange hatte in der vergangenen Nacht kaum Schlaf gefunden, deshalb viel Zeit zum Grübeln gehabt. Hin- und hergerissen zwischen den Sorgen um Nina, den Erinnerungen an das gemeinsame Erleben am Vorabend und ihren eigenen alleinigen Kontakten mit dem Erpresser hatte ihr Geist zunächst nicht das Thema gefunden, dem er seine Aufmerksamkeit schenken sollte. Letztendlich aber hatte sich ihre Konzentration doch auf ihre eigenen Kontakte mit dem Erpresser gebündelt.

      Unmittelbar konnte sie gegenwärtig ohnehin nichts Konkretes für Nina tun. Sie hoffte, dass ihre Tochter Ruhe gefunden hatte und sich trotz ihrer schlimmen Erlebnisse im Schlaf erholen konnte.

      Verfügte der Fremde über Insiderkenntnisse? Fast musste sie es glauben. Er hatte die Unterlagen, um die es ihm ging, so exakt bezeichnet, dabei sein Wissen um deren Existenz so deutlich gemacht, dass eine Information aus allgemein zugänglichen Quellen kaum möglich gewesen sein dürfte.

      Aber diese Stimme! Natürlich hatte der Erpresser sie verfremdet, aber hatte sie dennoch irgendeine Ähnlichkeit zu ihr bekannten Stimmen aufgewiesen? Kaum! War da nicht, trotz all seines Bemühens um ein Verstellen, oder aber vielleicht auch gerade zu diesem Zweck, ein Akzent zum Ausdruck gekommen? Sie konnte sich diese Frage nicht mit Bestimmtheit beantworten.

      Natürlich hatte sie keine andere Wahl. Sie musste das Verlangen des Erpressers erfüllen. Sie hatte es als müßig angesehen, tiefer über einen Ausweg aus der Notlage, der dem Erpresser nicht gefallen konnte, nachzusinnen, auch wenn ihr die lange wache Nacht genügend Gelegenheit hierzu geboten hätte. Sie hatte die Zeit für andere Überlegungen, für bessere genutzt!

      Irgendwann in der Nacht war ihr der Verdacht gekommen, der ihr von Beginn an so plausibel erschienen war. Und je länger sie nachgedacht hatte, desto mehr zusammen passende Puzzleteile meinte sie gefunden zu haben.

      Ja, natürlich musste sie sich der Erpressung beugen, aber sie sah sich schon einen Schritt weiter. Der Erpresser sollte bekommen, was er begehrte, aber, so hoffte sie, es war bereits eine Spur zu ihm gelegt. Und diese würde sie aufnehmen und ihr folgen, bis der Moment gekommen sein würde, die Polizei einzuweihen. Bis dahin aber würde Nina völlig aus der Angelegenheit herausgekommen sein. Es musste eine spätere Möglichkeit geben, für das Auffliegen der Erpressung und des Erpressers zu sorgen, ohne dass Nina zu Schaden kommen würde, ohne dass die Nina zeigenden schlimmen Fotos vor Ermittleraugen kommen mussten.

      Aber was würde sein, wenn der Erpresser, oder besser derjenige, der den Kontakt zu ihr aufgenommen und gehalten hatte, nur ein Helfer war, ein Auftragsmensch? Wäre dies von tieferer Bedeutung? Nein, eine erhebliche Änderung der Situation wäre damit nicht verbunden. Musste sie nicht sogar davon ausgehen, dass es so war? Wenn ihr Verdacht wirklich zutreffen sollte, dann würde sich die Person, um die sich ihre Überlegungen rankten, sicher nicht selbst zur Erpressung bemüht haben. Die Person würde, dies war Erika Lange klar, sich eines Helfers bedient haben.

      Warum nur hatte es der Erpresser so eilig? Unter welchem Zeitdruck musste er selbst oder sein Auftraggeber stehen, dass ihr nur eine Frist von vierundzwanzig Stunden gegeben worden war! Dabei waren es noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden, sondern es war eigentlich nur ein schlichter Arbeitstag! War die Eile nicht ein weiteres Indiz, das ihre Vermutung zu den Hintergründen stützen konnte? War der Zeitdruck eine Konsequenz des aktuellen Tagesgeschehens? Wahrscheinlich! Sie würde sich sputen müssen, um alle Erledigungen, die für den neuen Tag anstanden, zu schaffen. Es würde schon überaus schwierig sein, alle Vorkehrungen zu treffen, um die Forderung des Erpressers erfüllen zu können. Hoffentlich würde es ihr gelingen, es musste ihr gelingen! Es würde am besten sein, wenn sie zum frühest möglichen Zeitpunkt ihren Dienst beginnen würde.

      „Um halb sieben also am Eingang“, ging es ihr durch den Kopf.

      Und dann wollten auch ihre eigenen Pläne umgesetzt werden, ihre Pläne, dem Erpresser beizukommen, ihm und der wahrscheinlichen Person im Hintergrund. Es mussten die Vorkehrungen getroffen werden, um ihn oder auch mehrere Personen später der Polizei in die Hände spielen zu können.

      Sie würde sich die Zeit gut einteilen müssen, um alle Erledigungen schaffen und sich an die Öffnungszeiten halten zu können, die ihrem Handeln Schranken setzen konnten. Sie würde es schaffen!

      Wie es Nina wohl ging? Sollte sie schnell vor der Arbeit zu ihr fahren und nach ihr sehen? Hatte sie genügend Zeit, würde sie Nina nicht vielleicht aus dem Schlaf reißen, der ihr sicherlich gut tun musste?

      Sie hatte sich noch nicht entschieden, als das Telefon läutete.

      12 – Ein trennendes Geheimnis

      „Kurz nach sechs Uhr, Mutti wird inzwischen auf den Beinen sein“

      Nina sah sich mit einem Blick auf ihre Armbanduhr vom Warten erlöst und nahm das Mobilteil ihres Telefons zur Hand, um die Rufnummer ihrer Mutter zu wählen.

      „Lange?“, hörte sie kurz darauf deren fragende Stimme.

      „Ich