Uwe Bekemann

Im Bann des Augenblicks


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mache ich auch! Bis nachher!“

      „Bis nachher!“

      Nina trennte die Verbindung, sah noch ganz in Gedanken für einen Augenblick auf das Handy, ohne es wirklich wahrzunehmen, bevor sie es wieder auf den Beifahrersitz legte, den Motor startete und sich auf den Weg nach Hause machte.

      15 – Alex III

      Alex war froh, dass er einen Pauschaltarifvertrag mit seinem Provider geschlossen hatte, sodass ihm durch das langdauernde Aufrechterhalten der Verbindung keine zusätzlichen Kosten entstanden. Dass er womöglich noch über Stunden hinweg gehindert sein würde, sich weit von seinem Computer zu entfernen, geschweige denn die Wohnung zu verlassen, nahm er gern auf sich. Nina war ihm eigentlich immer noch sehr wichtig, wie er bemerkte, selbst so lange nach beider Trennung noch.

      „Ich sollte ihr erzählen, dass die Bilder aus dem Netz sind“, dachte er sich, nahm sein Telefon zur Hand und wollte Ninas Nummer wählen, als ihm einfiel, dass er diese gar nicht kannte. Er musste sie zunächst aus dem Fernsprechverzeichnis heraus suchen, nahm dann das Telefon erneut zur Hand und wählte, aber Nina war offensichtlich nicht zu Hause, nahm auf jeden Fall nicht ab.

      „Ich werde eine Kopie der gesicherten Dateien auch Nina aushändigen“, dachte er sich. „Vielleicht wird sie irgendwann aus Nachweisgründen darauf zurück greifen müssen, auch wenn es ihr nicht gerade angenehm sein würde.“

      Er legte einen Rohling in seinen Brenner und sicherte die zuvor aus dem Internet heruntergeladenen Dateien komplett auf CD. Diese legte er in eine aus der Schreibtischschublade gekramte Hülle und steckte sie in eine Tasche seiner im Flur an der Garderobe hängenden Jacke.

      „Vielleicht habe ich ja Glück und der Fremde tut mir den Gefallen, bald online zu gehen“, hoffte er. „Dann könnte ich Nina die CD nachher schnell noch bringen.“

      16 – Ringen um neue Normalität

      Ihre Ärztin hatte sich viel Zeit für sie genommen. Nina schaute nachdenklich auf die Bescheinigung ihrer Arbeitsunfähigkeit, die ihr die Medizinerin ausgestellt hatte, ganz wie selbstverständlich und ohne jede Rückfrage und gleich für zwei volle Arbeitswochen. Sehr einfühlsam hatte sich die Frau um sie gekümmert. Jetzt nach dem Gespräch fühlte sie sich richtig erleichtert. Diese Erleichterung hing natürlich auch mit dem Ergebnis der körperlichen Untersuchung zusammen. Es gab keine Anzeichen dafür, dass man sich über die pornografischen Bilder hinaus an ihr vergangen hatte. Sie hatte es vorher gewusst, aber jetzt, nach der Bestätigung durch ihre Ärztin, war ihre gut begründete, aber auch vom Hoffen geprägte Annahme dem Gefühl der Gewissheit gewichen, und dies tat gut!

      „Ich rate Ihnen dringend, sich wegen dieser Sache an die Polizei zu wenden!“, hatte die Gynäkologin gemahnt. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Nach dem, was ihr Nina erzählt hatte, wäre es das Beste gewesen, die Angelegenheit zur Anzeige zu bringen. Aber eben nur unter diesem begrenzten Wissenshorizont. Die Ärztin hatte von den Begleitumständen nichts erfahren. Deren Ratschlag würde sie nicht nachkommen können!

      Sie fühlte sich müde und abgespannt. Die Strapazen der vergangenen Stunden und der Schlafmangel forderten ihren Tribut. Am liebsten hätte sie sich jetzt in ihr Bett gelegt, sich die Bettdecke über den Kopf gezogen und einen tiefen und langen Schlaf gesucht. Jetzt, nachdem das Ergebnis der körperlichen Untersuchung feststand und ihr die vorherige Last der verbliebenen restlichen Ungewissheit genommen war, spürte sie ihren schlechten Zustand deutlicher als zuvor.

      „Ich fahre jetzt erst zur Tagesstätte, gebe dort meine Krankmeldung ab, und dann nach Hause“, dachte sie sich. „Dort lege ich mich für ein paar Stunden hin und versuche zu schlafen. Auf dem Rückweg halte ich kurz bei der Apotheke an und hole mir die verordnete Arznei.“

      Sie hatte ihrer Ärztin im langen Gespräch auch erzählt, dass sie in der vergangenen Nacht keine Ruhe gefunden hatte und sich nunmehr körperlich und auch geistig auf einem Tiefpunkt fühlte. Diese hatte zuerst ganz besorgt erwogen, sie zu einem Internisten zu überweisen, hatte dann aber, als sie ihre Ablehnung gezeigt hatte, doch ihren Verordnungsblock genommen und ihr ein Mittel verschrieben.

      „Es wird Ihnen helfen, zur Ruhe zu kommen“, hatte sie gesagt. „Nehmen Sie unmittelbar vor dem Zubettgehen maximal zehn Tropfen. Nehmen Sie es bitte nicht über einen Zeitraum von einer Woche hinaus, ohne sich zuvor bei Ihrem Hausarzt vorgestellt zu haben! Nach der Einnahme des Medikaments dürfen Sie für sechs bis zehn Stunden nicht am Straßenverkehr teilnehmen!“

      Noch immer hielt sie die Bescheinigung ihrer Arbeitsunfähigkeit in den Händen. Nun aber legte sie diese auf den Beifahrersitz, drehte den Zündschlüssel, den sie bereits kurz nach dem Einsteigen in ihren Wagen ins Schloss gesteckt hatte, und startete den Motor. Kurz darauf fuhr sie vom Parkplatz des Ärztehauses und machte sich auf den Weg zu ihrer Arbeitsstelle. Dort nahm sie sich kaum mehr Zeit, als ihrer Chefin die Bescheinigung in die Hand zu geben und sich unter dem Hinweis, dass sie schnell noch eine Apotheke aufsuchen müsse, wieder zu verabschieden. Sie hatte keine Lust gehabt, sich eventuellen Nachfragen zu ihrem Befinden und dem Grund für ihre Arbeitsunfähigkeit zu stellen. Es war ihr gelungen, diesen zu entgehen.

      „Ob ich schnell noch bei Alex anrufe?“, fragte sie sich, als sie wieder in ihrer Wohnung war. Irgendwann am Morgen hatte sie noch erwogen, Alex sogar kurz zu besuchen. Dann aber hatte sie diesen Gedanken wieder verworfen.

      „Ich habe jetzt keine Zeit!“, hatte sie sich gesagt, hatte sich zugleich aber eingestehen müssen, dass dies eine Ausrede gegenüber sich selbst gewesen war. Natürlich hatte sie sich viel für den Vormittag vorgenommen gehabt, aber ebenso natürlich hätte die Zeit für einen Kurzbesuch gereicht, selbst wenn sie nicht auf ein anderes Vorhaben hätte verzichten wollen. Sie hatte einfach ein komisches Gefühl bei dem Gedanken gehabt, Alex heute schon aufzusuchen, was wie ein Drängeln, wie ein ungeduldiges Warten auf den Erfolg seiner Hilfe ausgesehen hätte. Über Monate hinweg hatten sie keinen Kontakt gehabt, und jetzt, als sie ihn brauchte, würde sie plötzlich wieder seine Nähe suchen.

      Sie hatte Alex aber auch nicht stören wollen. Und dies stimmte wirklich, war keine Ausrede.

      Sie verwarf den Gedanken, Alex jetzt anzurufen. Sie hätte nur fragen können, welchen Stand seine Bemühungen erreicht hatten. Sie hatte nichts mitzuteilen und hätte ihn allenfalls in seinen Bemühungen stören können.

      „Alex wird doch in der Firma sein!“, fiel ihr plötzlich ein. Wieso hatte sie nicht sogleich daran gedacht, dass er, anders als sie, heute Morgen wie üblich seine Arbeitsstelle aufgesucht haben würde?

      Sie bereitete sich eine kleine Mahlzeit, bevor sie die Verpackung des von ihrer Gynäkologin verordneten Medikaments aufbrach, den Beipackzettel überflog und dann zehn Tropfen auf einen Teelöffel träufelte und einnahm. Als begäbe sie sich zur Nachtruhe, suchte sie das Bad auf und zog ihr Nachthemd an. Minuten später lag sie im Bett und fiel in einen tiefen Schlaf. Ihr Körper holte sich die Erholung, die er so dringend brauchte.

      Gegend Abend wurde sie zwischenzeitlich vom Läuten ihres Telefons geweckt. Sie hatte das Mobilteil auf ihr Nachtschränkchen gelegt und konnte das Gespräch annehmen, ohne aufstehen zu müssen. Es war ihre besorgte Mutter, die sich meldete. Halb wach, halb aber noch im Schlaf, gelang es ihr, mit ihrer Mutter beinahe wie üblich zu sprechen.

      „Ich habe mich nur ein wenig hingelegt und geschlafen“, erklärte sie Erika Lange auf deren besorgtes Nachfragen, als diese sie auf ihre eigentümlich klingende Stimme ansprach.

      Sie wollte im Anschluss an das Telefongespräch aufstehen, blieb aber zunächst noch einige Minuten liegen und schlief dann wieder ein. Sie schlief tief und fest, tief, fest und beinahe ohne Ende...

      17 – Mutters Warten

      Erika Lange legte das Lesezeichen an der Stelle zwischen die Seiten ihres Buches, wo sie unterbrochen hatte, klappte es zu und legte es auf den Tisch. Sie war müde und erschöpft, inzwischen viel zu müde, als dass sie die zum Lesen nötige Konzentration noch aufbringen konnte. Allzu weit war sie noch nicht voran gekommen, obwohl sie hungrig auf die Informationen war, die sie sich von gerade dieser Lektüre versprach, welche sie sich extra heute aus der städtischen Bibliothek beschafft