Uwe Bekemann

Im Bann des Augenblicks


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Buch zur Hand genommen. Sie wäre früh zu Bett gegangen und hätte Erholung im Schlaf gesucht. Heute aber war ihr diese Möglichkeit genommen, sie musste warten. Sie erwartete einen Anruf, nicht irgendeinen, sondern einen Anruf ihres Erpressers.

      Lag es an ihrem Zustand, dass sie dem Läuten des Telefons nicht mit schlechten Gefühlen und Angst entgegen sah? Nein, es war etwas anderes. Irgendwie hatte es damit zu tun, dass sie hochzufrieden war, hochzufrieden mit sich, mit dem abgelaufenen Tag und dem Erfolg, der all ihren Bemühungen zuteil geworden war.

      Eigentlich hätte dieser Tag auch 48 Stunden haben können, und dennoch wäre es problematisch gewesen, alle Erledigungen darin unter zu bringen, die man ihr aufgegeben oder die sie sich selbst vorgenommen hatte. Sie hatte es geschafft!

      Sie hatte auch die Vorkehrungen getroffen, um Ninas und ihrem Peiniger später beikommen zu können! Selbst in die Mittagspause hatte sie zwei der drei Erledigungen gelegt, und war hierzu durch die Stadt gehetzt. Die Letzte hatte sie dann noch als Unterbrechung ihres Heimwegs von der Arbeit organisiert.

      „Ja, organisiert, dieser Ausdruck passt wirklich!“, lächelte sie zufrieden.

      „Öffnungszeiten hin, Öffnungszeiten her, ich habe alles unter einen Hut bekommen!“

      Glücklicherweise waren ihr keine Steine in den Weg gelegt gewesen, die es ihr erschwert oder es sogar unmöglich gemacht hätten, der Forderung des Erpressers nachzukommen. Sie hatte Zeit investieren, hatte Gespräche und Wege auf sich nehmen müssen, aber es war alles gut gegangen. Es wäre nicht auszudenken gewesen, wenn von den benötigten Unterlagen nicht alle an ihren üblichen Aufbewahrungsorten zu finden gewesen wären.

      Als ob sie nicht schon genug um die Ohren gehabt hätte, hatte sie ausgerechnet heute auch noch ihrer Kollegin, mit der sie sich das Büro teilte, zur Seite stehen müssen. Und was für ein schlimmer Fehler war der jungen Frau unterlaufen, ein Fehler, der eigentlich auch nicht mit ihrer Jugend und ihrer Unerfahrenheit entschuldigt werden konnte! Und ausgerechnet bei der Vergabe eines so bedeutenden städtischen Auftrags, gerade dieses städtischen Auftrags! Es hatte Zeit gekostet, Zeit und Mühe. Es hatte Stress verursacht, und dennoch hatte sie noch nicht alles bereinigen können. Sie würde die Sache morgen zum Abschluss bringen.

      Sie hatte es geschafft, hatte alles geschafft! Auch die Kopien!

      Der Erpresser würde bekommen, was er wollte. Er würde keinen Grund zur Unzufriedenheit haben können. Und deshalb würde er auch keinen Grund haben, die schrecklichen Nacktfotos von Nina im Internet zu belassen. Sie würde das Löschen von ihm fordern, das sofortige Löschen. Sie würde ihn beim nächsten Anruf vor die Wahl stellen, entweder erst sofort die Bilder zu beseitigen, woraufhin es dann zur Übergabe der Unterlagen kommen können würde, oder aber es würde keine Übergabe geben, zumindest nicht an ihn. Die Polizei würde die Unterlagen bekommen, egal mit welchen Konsequenzen. Sie würde ihm mit der Übergabe an die Polizei drohen und seine Reaktion abwarten. Ob er die Drohung ernst nehmen würde angesichts des Faustpfands, das er hielt? Er würde einlenken, sie wusste es, war sich völlig sicher! So kurz vor dem Erreichen seines Ziels würde er es nicht riskieren, dass seine Erpressung platzte.

      Aber war es wirklich notwendig gewesen, sich alles an diesem einzigen Tag aufzubürden? Nein, war es nicht, zumindest nicht alles! Es war aber auch ihre Art der Auseinandersetzung mit der Situation gewesen. Was hätte sie sonst tun sollen? Sich einen geruhsamen Tag gönnen, in den üblichen Tagestrott fallen, so weit dies möglich gewesen wäre? Hätte sie sich gleich nach Feierabend nach Hause zurückziehen und warten sollen? Gut, sie hätte sich vielleicht um Nina kümmern können, oder zumindest ihre Hilfe anbieten.

      „Habe ich doch!“, sagte sie sich sogleich, so als ob es einer inneren Entschuldigung bedurft hätte. „Habe ich doch sogar noch heute Abend getan, als ich sie nach Dienstschluss angerufen habe!“

      Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, das eine nervöse Zufriedenheit auszudrücken schien.

      „Nina ist nicht der Typ von Mensch, der sich immer nur helfen lassen will. Es hätte ihr nicht gefallen, wenn ich sie ohne Ankündigung in der Absicht aufgesucht hätte, den späten Nachmittag und den Abend bei ihr zu bleiben, um mich um sie zu kümmern.“

      Wie sich der Fremde wohl die Übergabe vorstellte? Sie würde sich überraschen lassen müssen, aber auf keine Situation einlassen, die ihr gefährlich werden könnte. Sie würde darauf bestehen, dass sie sich in der Öffentlichkeit trafen, irgendwo an einem belebten Ort. Es müssten Menschen um sie beide herum sein, ganz viele Menschen! Dort, an diesem belebten Ort, würde er die Unterlagen erhalten können, aber ohne zu wissen, dass sie bereits einen Verdacht hatte. Einen Verdacht? Vielleicht war es schon mehr als ein solcher! Es war schon mehr!

      „Es gibt einen Denkfehler dabei!“, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. „Der Mann wird nie und nimmer zu einem Treffpunkt kommen, wenn die Bilder schon gelöscht sind.“

      Grübelnd biss sie sich auf die Unterlippe. Warum war ihr dieser grobe Fehler in ihren Überlegungen nicht schon vorher aufgefallen?

      „Er wird sogar auf keinen Fall irgendeiner persönlichen Übergabe zustimmen, denn er müsste doch immer befürchten, dass trotz seiner Vorkehrungen die Polizei eingeschaltet worden ist und er beim persönlichen Treffen geschnappt würde. Wie sehr vertraut er darauf, dass die Bilder als Druckmittel ausreichen?“

      Bisher hatte sie, die hoch gezogene Seitenlehne im Rücken, bequem und mit hochgelegten Beinen mehr auf dem Sofa gelegen als gesessen. Von ihren Zweifeln beunruhigt richtete sie ihren Oberkörper auf und stellte ihre Beine vor das Sofa. Mit steifem Rücken, der die rückwärtige Lehne nicht berührte, und wieder auf der Unterlippe kauend blieb sie eine Weile tief in Gedanken versunken sitzen.

      Wie, auf welchem Weg würde der Erpresser die Unterlagen in die Hände bekommen wollen? Je länger sie nachdachte, um so mehr stand für sie fest, dass er ein Treffen zur persönlichen Übergabe scheuen würde.

      Das Anschlagen der Türklingel ließ sie aufschrecken und riss sie jäh aus ihren Gedanken.

      18 – Geschäft im Dunkeln

      „Ja bitte!“

      Es war gegen Mitternacht, nicht mehr Mittwoch, sondern bereits in der ersten Stunde des Donnerstags. Der Anruf kam zwar verabredungsgemäß und deshalb erwartet, der Anrufer aber war nicht an im Display des Telefons ausgewiesenen Angaben zu identifizieren. Der Angerufene hatte es deshalb vorgezogen, sich ohne Nennen seines Namens zu melden.

      „Ich bin´s, Meister“, tat es ihm der Anrufer gleich und ließ seinen Namen unerwähnt.

      „Ich hatte schon gewartet. Sie sind spät! Haben Sie wenigstens eine gute Nachricht für mich?“

      „Insgesamt werden Sie wohl zufrieden sein.“

      Der Anrufer bediente sich zwar einer korrekten deutschen Sprache, ein ausgeprägter russischer Akzent war jedoch unverkennbar.

      „Was soll es heißen: Insgesamt soll ich zufrieden sein? Gab es Probleme? Was ist passiert?“

      Es war Angst, die in den Worten des Angerufenen mitschwang, Angst davor, dass ein Geschehen vom vorher gemeinsam gefassten Plan abgewichen sein konnte, eine Situation der Einwirkung entglitten war.

      „Sie bekommen, was Sie wollten“, schien der Anrufer ihn beruhigen zu können. „Ich halte es in meinen Händen, was Sie haben wollten. Ganz so, wie es unserer Vereinbarung entspricht. Sie bekommen es von mir.“

      „Ich möchte, wie gesagt, wissen, ob es Probleme gegeben hat!“, erwiderte der Angerufene ungeduldig.

      „Es hat wohl Komplikationen gegeben, wie ich gehört habe, aber sie wurden überwunden.“

      Für die Dauer eines Augenblicks trat beiderseitiges Schweigen ein, dann aber schien der Angerufene eine versteckte Aussage des Gesprächspartners erfasst zu haben.

      „Was soll das heißen: Wie ich gehört habe? Haben Sie nicht allein gearbeitet?“

      „Ich arbeite nie allein, sondern immer zusammen mit, na sagen wir, meinem Bruder.“

      Der Angerufene stieß einen Missfallensseufzer aus.

      „Sind