Hans J. Unsoeld

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und gar nichts außer unseren durch Erziehung bedingten Gewohnheiten rechtfertigt, der einen oder anderen Seite einen höheren Wert zuzusprechen.

      An dieser Stelle wird überdeutlich, dass hier Ideologie einsetzt und sich in übler Form breit gemacht hat, - auf der einen wie auf der anderen Seite. Dabei geht es in Wirklichkeit um nichts anderes als um Weltbeschreibung. Er ist ein Verdienst der Mathematiker, uns jetzt klar gemacht zu haben, dass es prinzipiell zwei Arten der Beschreibung gibt, und dass diese quasi komplementär zueinander sind, aber keinerlei Wertunterschied haben. Wert kann diesen nur durch ideologische Festsetzungen zugeordnet werden.

      Komplementäre Beschreibungen sind aber nicht etwas ganz neues. Schon 1924 wurden die Menschen damit aufgeschreckt, dass sich „die Welt“ auf zwei grundlegend verschiedene Arten beschreiben lässt, nämlich durch Wellen oder durch Teilchen (Louis-Victor de Broglie; 1892-1987). Um diesen damaligen Aufruhr ist es seitdem ziemlich still geworden. Die Fachwelt hat geschluckt, dass es eine Unschärfebeziehung gibt (Werner Heisenberg; 1901-1976), welche es verbietet, dass Dinge gleichzeitig beliebig genau sowohl als Wellenerscheinung als auch als Teilchenphänomen beobachtet werden können.

      Ob es tiefere Zusammenhänge zwischen diesen beiden physikalischen Beschreibungsformen und den beiden mathematischen Beschreibungsformen gibt, steckt noch im Dunkel. Die Analogien drängen sich auf. Gibt es auch eine entsprechende Unschärfebeziehung bei der alternativen gleichzeitigen Beschreibung in geordneten und chaotischen Systemen?

      Im Moment können wir hierauf noch keine Antwort geben. Eines scheint jedoch sicher. Eine eventuelle Erkenntnis würden die Menschen wahrscheinlich genauso beiseite schieben wie diejenige vom Teilchen-Welle-Dualismus, obwohl sie größte Konsequenzen für unser Weltbild haben könnte.

      ca. 1994; ergänzt 2009 und 2013

       Vom Einem zum Unendlichen

      An der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend überkommt uns das Gefühl, vor einem oder gar schon mitten in einem ganz entscheidenden Wandel unseres Empfindens für die Welt zu stehen. Der Ausdruck Empfinden steht ganz bewusst an Stelle des früheren Wortes Weltanschauung, welches immer einen recht deutschen, abstrakt philosophischen und damit beschränkten Beigeschmack hatte, und auch ohne das Wort Stil zu verwenden. Haben wir nicht schon früher den großen Stilrichtungen, der Gotik, dem Barock, der Romantik, einst Weltanschauungen zugeordnet, später aber bestimmte Arten des Empfindens für die Welt?

      Was ist neu? Was prägt den Menschen, - sagen wir ruhig ein wenig arrogant: den Avantgardisten von heute - und vermutlich immer mehr Menschen von morgen? Jeder, der heute halbwegs kritisch denkt und fühlt, wird wesentlich zögernder mit einer Antwort darauf sein als früher. Ganz offensichtlich ist auf jeden Fall eines: Unsere Welt ist in einem unglaublichen Maße komplexer geworden. Dies kann ein ganz entscheidender Faktor sein. Komplexität zu fassen, zu verarbeiten und integrieren hat denselben Stellenwert bekommen wie früher das als logisches Analysieren verstandene Erkennen. In einer komplexen Welt ist es sicher schwieriger, etwas allgemein gültiges darüber zu sagen.

      Wie ist der Übergang von einem zum anderen, von der früheren Welt des analysierenden Erkennens zur neuen Welt der Verarbeitung komplexer Zusammenhänge zu verstehen? Wie meistens bei bedeutenden Neuentwicklungen können wir von der Annahme ausgehen, dass die früheren Vorstellungen nicht plötzlich falsch sind, aber nur einen Teil des Ganzen darstellen, - also entweder nur die eine Seite der Münze oder nur einen Spezialfall. Dem soll im folgenden etwas genauer auf den Grund gegangen werden.

      Gleich zu Beginn eines solchen Unternehmens stellt sich eine prinzipielle Frage: Sollen wir versuchen, von der Welt des Analysierens ausgehend die komplexe Welt der Zukunft aufs Korn zu nehmen, oder ist es besser, von unserer neuen komplexen Vorstellungswelt ausgehend zurückzuschauen auf das, was vorher war, - auf die "einfache" Art des analytischen Vorgehens. Diese Frage lässt sich nicht logisch und genauso wenig gefühlsmäßig entscheiden. Das lässt vermuten, dass beides möglich ist, also eine Art Ringschluss vorliegt. Wer noch in der Zeit des Analysierens groß geworden ist, dem liegt es mehr, vom Einzelnen zum Komplexen vorzudringen. Die jüngere Generation neigt wahrscheinlich momentan mehr zum entgegengesetzten Vorgehen. Wir fangen jetzt mit dem Einzelnen an, aber völlig in dem Bewusstsein, dass es andersherum genauso möglich wäre. Zum Schluss werden wir noch einmal bei dem ankommen, was eigentlich vermieden werden sollte, nämlich einer neuen Weltanschauung und Stilrichtung.

      Wenn wir eine Sache vor uns haben, also etwas einzelnes,- lässt sich darüber bereits etwas generelles sagen? Nun, ganz simpel, diese eine Sache muss auch wirklich nur eines sein. Und das ist meist schon eine höchst schwierige Frage. Vor einigen Hundert Jahren war man froh, gelernt zu haben, dass es Elemente gibt, also Stoffe, die nur aus einer einzigen "Sache" bestehen, oder wie wir heute sagen würden, die chemisch einheitlich sind, weil sie nur aus einer einzigen Sorte von Atomen oder Molekülen bestehen. Dann kam man darauf, dass die Atome auch ein "Innenleben" haben und zumindest aus Protonen, Neutronen und Elektronen zusammengesetzt sind. Waren diese neuen Teilchen nun die neue "eine" Sache ? Dieser neue vorübergehende Glaube wurde erschüttert von den Elementarteilchen-Physikern, denen der Nachweis gelang, dass zum Beispiel ein solches Elementarteilchen wie das Proton aus drei sogenannten Quarks zusammengesetzt ist. Und prompt etablierte sich der neue Glaube, dass diese die kleinste physikalische Materieeinheit seien, eben die "echten" Elementarteilchen.

      Doch die Sache blieb mehrdeutig: die Teilchen hatten, wie Einstein erkannte, die Eigenschaft, in Energie verwandelbar zu sein, und wie de Broglie folgerte, auch die Eigenschaft, sich als Wellen zeigen zu können. Dem entsprachen völlig verschiedene mathematische Darstellungen, nämlich entweder mit Matrixrechnung oder aber mit Differentialgleichungen, welche aber nie die Teilchen bzw. die Wellen selbst, sondern nur ihr Verhalten beschrieben, also im allgemeinen Übergänge von einem in einen anderen Zustand. Wollte man zum Beispiel näheres über die Teilchen selbst erfahren, so stieß man hier sehr schnell auf unüberwindliche Grenzen. Heisenberg bewies mit der Unschärfebeziehung, dass es prinzipiell unmöglich war, etwa gleichzeitig den Ort und auch die Energie eines Teilchens genau zu bestimmen.

      So what? Nehmen wir eben zwei Sachen, wohlgemerkt aber jetzt in dem Bewusstsein, dass das nicht nur Teilchen sein können, sondern viel "esoterischere" Dinge wie zum Beispiel Energien oder Wellen, - und vielleicht gibt es ja noch ganz andere Begriffe, mit denen wir das noch besser oder geeigneter oder anschaulicher fassen können. Doch die naturwissenschaftlichen Ausdrücke haben den großen Vorteil, dass sie klar definiert sind und man nicht so leicht der Versuchung eines bloßen Geschwätzes verfällt.

      Zwei Sachen können auf verschiedene Art miteinander in Wechselwirkung treten: sie können sich anziehen, sie können sich abstoßen, sie können miteinander schwingen, sie können miteinander verschmelzen, sie können ein System bilden oder sie können miteinander "explodieren". Also haben wir bereits eine viel kompliziertere Lage, als man auf den ersten Blick glauben würde. Aber eines ist diesem allen gemeinsam. Sie treten miteinander in eine Funktion. Dieses ist der Oberbegriff für all die eben genannten Möglichkeiten.

      Dem entspricht mathematisch, dass sie sich mit mathematischen Funktionen beschreiben lassen, also durch die Beschreibung der Abhängigkeit einer oder mehrerer Größen in bestimmten Dimensionen von einer oder mehreren anderen Größen in anderen Dimensionen. Dieser Funktionsbegriff ist eine der zentralen Größen unseres abendländischen Denkens. Im wesentlichen basiert die gesamte klassische Mathematik darauf. Sie hat sich als glänzendes Werkzeug zur Beschreibung messbarer Abhängigkeiten bewährt, was eine ganz entscheidende Basis für den Aufstieg der technisch orientierten abendländischen Kultur wurde.

      Doch kaum nimmt man drei Sachen, so funktioniert das Ganze schon nicht mehr. Drei Teilchen oder was es auch immer seien, lassen sich nicht mehr mit den Mitteln der klassischen Mathematik behandeln. Es bestehen keine einfachen Funktionen mehr zwischen ihnen, ihr Verhalten ist nicht mehr streng vorhersagbar, nur noch näherungsweise für einen gewissen Zeitraum, und die dafür notwendige Mathematik ist bereits "höllisch" kompliziert. Mit vier und mehr Teilchen wird die Angelegenheit natürlich auch nicht besser und mit vielen Teilchen vollends nicht.

      Es besteht aber die scheinbar selbstverständliche Tatsache, dass drei Punkte in der klassischen Mechanik eine perfekte stabile Lagerung ermöglichen,