Hans J. Unsoeld

Querschnitte


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Gleichgewicht besteht und bei vier und mehr Punkten ein überbestimmtes Gleichgewicht, welches umgangssprachlich ebenfalls wackeln bedeutet, jedoch wegen zu vieler Auflagepunkte. Auch in der Quantenmechanik setzen zum Beispiel drei Quarks ein Proton stabil zusammen, während bei anderen Teilchenzahlen Instabilitäten, beispielsweise radioaktive Umwandlungen, auftreten.

      Lange Zeit ist das diesem Sachverhalt zugrunde liegende Problem nicht in seiner vollen Schärfe erkannt und pragmatisch übergangen worden, indem Boltzmann und andere auf den Trick kamen, Vielkörperprobleme durch Mitteln über Zweikörper-Funktionen auch als Funktionen zu behandeln. Damit fanden die Statistik und Wahrscheinlichkeitslehre ihren Durchbruch in der Physik und stellten sich als ebenso erfolgreich wie die auf Funktionen beruhende Mathematik für die weitere Entwicklung unserer besagten technisch orientierten abendländischen Kultur dar. Im Grunde beruhen auch sie auf der Funktions-Mathematik. Man kaschierte die Tatsache, dass diese längst an ihrem Ende war und dementsprechend auch die Möglichkeit zum wirklich strengem Analysieren.

      Der entscheidende, aber bis heute immer noch von nur wenigen als solcher erkannte Durchbruch kam 1975 mit der Entdeckung der Fraktale und der fraktalen Mathematik durch Mandelbrot. Noch 1918 hatte der Mathematiker Julia bei der Behandlung von schon damals bekannten fraktalen Strukturen geglaubt, das Phänomen auf klassische Funktionen reduzieren zu können. Die wesentliche "neue" Erkenntnis von Mandelbrot war jetzt, dass nicht die Abhängigkeit verschiedener Größen von anderen in jeweils bestimmten Dimensionen der entscheidende Gesichtspunkt war, sondern die Abhängigkeit einer "Generation" von einer anderen. Nicht der Dimensions-, sondern der Generationsbegriff war hier der entscheidende. Es dauerte recht lange, bis man realisierte, dass damit der gesamte bisherige Funktionsbegriff und erhebliche Teile der bisherigen Mathematik einer Erweiterung bedurften. Fortan standen sich die Mathematik der Funktionen und die Mathematik der Fraktale einander gegenüber, obwohl natürlich allen klar war, dass beide ihre Grundstrukturen gemeinsam hatten.

      Hier müssen einige Worte zu den Fraktalen selbst gesagt werden. Die meist noch geringe Kenntnis über dieses wichtige neue Gebiet spiegelt die Befangenheit unserer abendländischen Kultur im klassischen funktionellen und von der Technik beeinflussten Denken wieder. Fraktale nennt man populär zunächst einmal von Computern mit iterativen Gleichungen erzeugte, meist in schönen bunten Farben dargestellte Bilder von eigentümlichen mehr oder weniger komplexen Figuren. In Wirklichkeit reicht dieser Begriff mathematisch und in der Natur jedoch sehr viel weiter, was hier nicht im einzelnen ausgeführt werden soll. Nur soviel sei gesagt, dass die meisten sogenannten natürlichen komplexen Strukturen wie Pflanzen, Landschaften, Wolken und vieles mehr, sogar Gesichter, sich mit Fraktalen beschreiben lassen.

      Das Denken und Empfinden in Generationsbegriffen anstelle von Dimensionen liegt den asiatischen Kulturen zugrunde,- gleichermaßen allen fernöstlichen Religionen wie auch allen eigenständigen (d.h. nicht vom Abendland beeinflussten) wissenschaftlichen und philosophischen Ansätzen. Da es in Asien nicht gelang, dazu eine geeignete Mathematik zu schaffen, gerieten sie ins Hintertreffen, denn es konnte deshalb kein Äquivalent zur abendländischen Technik geschaffen werden. Die heutigen Erfolge zum Beispiel der japanischen Technik beruhen auf der Übernahme und erfolgreichen Assimilation der abendländischen funktionellen Denkweise. Auch die Mathematik, die heute zur Beschreibung und zum Umgang mit Fraktalen benutzt wird, beruht großenteils darauf. Es ist durchaus die Frage berechtigt, ob es nicht vielleicht die Möglichkeit gibt, quasi ab ovo eine neue Mathematik zu schaffen, in der die Darstellung der Fraktale ganz einfach ist (ganz im Gegensatz zur bisherigen Situation) und in der die Funktionsmathematik umgekehrt nur als viel schwieriger darzustellender Randfall vorkommt. Oder gar eine Mathematik, die beide Arten gleichwertig darstellen kann ?

      Viele wichtige "abstrakte" Begriffe unseres täglichen Lebens, - nehmen wir zum Beispiel den Begriff der Schönheit, - lassen sich in der funktionellen Darstellung der abendländischen Mathematik nur sehr rudimentär darstellen,- etwa durch den Goldenen Schnitt oder unter Verwendung der Perspektive. Die Entdeckung des Goldenen Schnittes und der Perspektive waren wohlgemerkt wichtige Punkte in der abendländischen Kunstentwicklung. Der Begriff der Freiheit wird interessanterweise naturwissenschaftlich-mathematisch hauptsächlich als Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Dimensionen verstanden.

      Jeder von uns aber weiß, dass asiatischer Kunst eine unglaubliche Schönheit innewohnt, obwohl dort der Goldene Schnitt und Perspektive völlig nebensächlich geblieben sind. Ganz offensichtlich spielt der für fraktale Darstellungen so wichtige Begriff der Selbstähnlichkeit dort die entsprechende wichtige Rolle in der Kunst. Dieser besagt, dass nach Ablauf mehrerer Generationen in neu sich entwickelnden Details einer fraktalen Darstellung immer wieder ähnliche, aber nicht genau dieselben Zustände wie am Anfang auftreten. Dieser Sachverhalt ist jedoch in asiatischen Kulturen in einer Weise formuliert worden, die funktionell denkenden abendländischen Menschen immer sehr fremd geblieben ist. Man kann auch spüren, dass dem asiatischen Denken ebenso ein anderer Freiheitsbegriff zugrunde liegt.

      Der zentrale Punkt ist, dass das östliche Denken genauso wie die fraktale Darstellung vom Vielen ausgeht und sich dann dem Einzelnen annähert, - ganz umgekehrt wie das abendländische Vorgehen, wo das Individuum der Ausgangspunkt ist und man sich von daher dem Vielen zuwendet. Beide Möglichkeiten sind bei undogmatischer Betrachtung gleichwertig.

      Dem östlichen Vorgehen entspricht auch das sogenannte gefühlsmäßige Vorgehen. Wenn wir etwas fühlen oder empfinden, beziehen wir alles ein, was uns zur Verfügung steht, und wir analysieren nicht etwa. Wir gehen also vom Vielen aus und kommen auf diese Art mit komplexen Situationen gut klar.

      Genau das ist aber die kulturelle Situation bei uns gerade jetzt zur Jahrtausendwende. Das Analysieren hat sich offensichtlich "überlebt". Der ägyptische Philosoph Hassan Hanafi beschrieb bereits 1984, was rein phänomenologisch diese mit dem Übergang vom Modernismus zum Postmodernismus beschriebenen Veränderungen ausmacht, indem er eine Liste von Gegensatzpaaren anführte.

       Modernismus - Postmodernismus

      geschlossen offen.

      vorsätzlich spielerisch

      planend zufällig

      hierarchisch anarchisch

      beherrschend erschöpfend

      abgeschlossen dynamisch

      distanziert teilnehmend

      zentral verteilt

      semantisch rhetorisch

      auswählend kombinieren

      bestehend erscheinend

      Hier liegt es nahe, als ganz entscheidend folgende Punkte hinzuzufügen:

      analytisch ganzheitlich

      funktionell fraktal

      abendländisch asiatisch

      All diese Gegensätze entstehen jeweils aus der Opposition zweier Wesenheiten. Zwischen diesen können Wechselwirkungen auftreten. Zwei von ihnen stellen aber kein feste Basis dar, wofür wir nach den oben gemachten Überlegungen jeweils drei bräuchten. Die dafür notwendige Auswahl ist bislang nicht getroffen worden und wird vermutlich das neue Jahrtausend charakterisieren. Oder liegt sie längst vor, - zum Beispiel in der geläufigen Triade von Denken, Fühlen und Handeln? So kommen alle drei große Kontinente zu Ehren: Europa für sein analytisches Denken, Asien für sein ganzheitliches Fühlen und Amerika für sein pragmatisches Handeln.

      Nur alle drei zusammen geben ein festes Ganzes,- ein gesundes Miteinander von analysierendem Überlegen, von ganzheitlichem Empfinden und von praktischem Handeln,- wobei jeder Teil der Welt gleichwertig seinen jeweils besonders entwickelten Anteil einbringen und die übrigen aber auch voll annehmen und integrieren kann. Das ergibt eine einfache und überzeugende Vision von einem ganzen Menschen und von einer ganzen Welt.

      In einem solchen Weltbild können die klassischen Wissenschaften die analysierende Welt des Denkens repräsentieren. Die einzelnen Wissensfächer stehen dabei untereinander in Wechselwirkung. Aus ihnen lässt sich eine achtgliedrige Kette bilden, die sich am Ende zu einem Kreise schließt:

      Philosophie -- Mathematik -- Physik -- Chemie -- Biologie und Umwelt -- Medizin -- Psychologie