durch Gemeinheit wieder wett. Außerdem sind da die beiden Typen, die ihm überall hin folgen wie treue Hunde. Der eine wird nicht umsonst „Schrank“ genannt. Der andere macht immer mit, wenn der Winzling wieder mal einen Schüler aus einer der unteren Klassen drangsaliert, aber auf sich allein gestellt ist er ein totales Weichei.
Den Namen des Opfers, das sie sich heute ausgesucht haben, kenne ich nicht. Es ist ein Junge von zwölf oder dreizehn Jahren mit olivfarbener Haut und krausen schwarzen Haaren.
„Das geht dich gar nichts an!“
„Auch noch frech werden, was, Bürschchen? Was mich was angeht, bestimme immer noch ich!“, entscheidet der Winzling. „Los, zeig es jetzt her!“
„Nein!“
„Also gut, wenn du es nicht freiwillig hergibst, muss ich es mir eben holen. Schrank, halt ihn mal fest!“
Der Junge versucht, zu fliehen, doch Schrank ist nicht nur enorm groß und kräftig, sondern auch reaktionsschnell. Das Opfer wehrt sich, hat jedoch keine Chance.
Der Winzling greift nach einem silbernen Amulett, das um den Hals des verzweifelt zappelnden Jungen hängt. Ich sehe mich um. Kein Lehrer weit und breit. Ein paar ältere Schüler schauen neugierig zu, ohne einzugreifen.
Jan scheint meine Gedanken zu erraten. „Halt dich lieber da raus“, raunt er mir zu. „Du weißt doch, was passiert, wenn man sich mit denen anlegt!“
Der Winzling zerrt an dem Amulett. Der Junge zappelt und tritt um sich, kann jedoch den Körperkräften von Schrank nichts entgegensetzen. „Nein! Nicht! Das gehört mir!“
„Was haben wir denn da?“, fragt der Winzling ungerührt und klappt das kleine, ovale Silberamulett auf. „Ach wie süß! Ist das etwa deine Freundin?“ Er kichert hämisch.
Der Junge ist außer sich vor Wut. Seine Augen werden ganz groß, so als wollten sie aus ihren Höhlen springen. „Das … das ist meine Mutter!“, ruft er. „Sie ist gestorben, als ich drei war! Lass das sofort los, du … du stinkende Ratte!“
Der Winzling erstarrt. „Das wirst du bereuen!“, zischt er. „Niemand nennt mich ungestraft eine Ratte! Ich werde dich …“
Plötzlich wird es totenstill auf dem Schulhof. Ich spüre einen seltsamen Druck auf den Ohren. Ein Schwindelgefühl packt mich, und mir wird für eine Sekunde schwarz vor Augen.
Als ich wieder sehen kann, hat sich die Welt verändert. Die Schule ist immer noch da – ein großer, grauer Betonklotz, der jedoch irgendwie gröber und gleichzeitig glatter und regelmäßiger aussieht als sonst. Auch die große Kastanie neben dem Eingang ist immer noch da, doch ihr Stamm ist jetzt rechteckig und ihre Laubkrone besteht aus grün gesprenkelten Würfeln. Der Schulhof ist voll von Kastenmännchen, die grellbunt angezogen sind. Ich selbst trage eine hellblau schimmernde Rüstung und ein Schwert aus demselben Material.
Oh nein, bitte nicht!
Fassungslos starre ich auf den Kastenmann in hellblauem Hemd und dunkelblauer Hose, der gerade von drei Gestalten mit zerfetzter Kleidung und grünlicher Haut bedrängt wird. Die Zombies attackieren den armen Kerl mit ihren ausgestreckten Armen, während sie wütende Unnghs ausstoßen.
Verzweifelt schüttele ich den Kopf und versuche, die Illusion abzuschütteln, doch der Schulhof bleibt verwandelt. Ich weiß nicht, warum und wie, aber ich bin wieder in der Würfelwelt! Hatte Mam recht, und ich hätte noch zuhause bleiben sollen? Bin ich auf dem Schulhof bewusstlos geworden und erneut ins Koma gefallen?
Ohnmächtige Wut steigt in mir auf. Das kann nicht sein! Das darf nicht sein! Nicht gerade heute, wo ich endlich Amelie wiedersehen wollte!
Immer noch prügeln die Zombie-Halluzinationen auf den armen Kastenmann ein. Mein Zorn überträgt sich auf die Monster. Von Zombies habe ich wirklich die Nase voll! Ich verpasse ihnen ein paar Hiebe mit dem Diamantschwert, bis von zwei Angreifern nur noch verfaulte Fleischfetzen übrig sind, während der dritte die Flucht ergriffen hat.
„Marko! Mein Gott, was ist denn mit dir los?“
Übelkeit steigt in mir auf, und erneut wird mir schwarz vor Augen. Als mein Sehvermögen zurückkehrt, sieht der Schulhof wieder so aus wie zuvor. Beinahe jedenfalls.
Der Winzling liegt auf dem Boden und starrt mich mit großen Augen an, als habe er Angst vor mir. Blut quillt aus seiner Nase. Schrank steht gekrümmt da und hält sich den Bauch vor Schmerzen. Das Weichei sehe ich am Rand des Schulhofs aufgeregt mit einem Lehrer reden. Die beiden kommen auf uns zu.
Der Junge mit dem Amulett sieht mich mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Schrecken an. „Danke“, sagt er. „Aber du hättest nicht gleich so ausrasten müssen!“
Ich drehe mich zu Jan um, der mich erschrocken ansieht. „Das … das war echt nicht gut, Mann“, sagt er. „Das war gar nicht gut!“
2.
Zehn Minuten später befinde ich mich vor dem Schreibtisch des Schuldirektors. Neben mir stehen der Winzling, seine beiden Freunde und der Junge mit dem Amulett, der, wie ich inzwischen weiß, Kasim heißt. Der Lehrer, der Pausenaufsicht hatte und uns hierher gebracht hat, steht neben der Bürotür, als wolle er verhindern, dass einer von uns abhaut.
Der Direktor sieht mich durch seine dicke, schwarze Brille an. „Marko, nicht wahr?“
„Ja, Herr Direktor.“
„Bist du dir bewusst, Marko, dass du eine schwerwiegende Verfehlung begangen hast, die mit Schulverweis geahndet werden kann?“
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Meine Konzentration und Selbstbeherrschung reichen gerade aus, um die Tränen zurückzuhalten.
„Gewalt gegen einen anderen Schüler, egal aus welchem Grund, können wir hier auf keinen Fall dulden!“, sagt der Direktor mit einer Stimme, als verkünde er das Urteil gegen einen Mörder.
„Das stimmt, Herr Direktor“, meldet sich der Winzling. „Er ist einfach so auf mich losgegangen und hat mir brutal ins Gesicht geschlagen!“ Er hält demonstrativ ein blutiges Taschentuch hoch. „Er hätte mir die Nase brechen können!“
Schrank sagt nichts. Er sieht aus, als sei es ihm peinlich, dass ihn ein so schmächtiger Junge wie ich im Kampf außer Gefecht gesetzt hat.
„Was hast du dir denn bloß dabei gedacht?“, fragt der Direktor. „Du bist doch sonst noch nie durch Gewalttätigkeit aufgefallen.“
Was soll ich darauf antworten? Dass ich Schrank für einen Zombie gehalten habe? Dass ich dachte, ich sei wieder ins Koma gefallen? Dann stecken sie mich bestimmt sofort ins Krankenhaus.
„Er wollte mir bloß helfen“, meldet sich Kasim zu Wort. „Die drei haben mich bedrängt und wollten mir mein Amulett wegnehmen. Es ist ein Andenken an meine leibliche Mutter.“
„Gar nicht wahr!“, protestiert der Winzling. „Ich wollte es nur mal ansehen. Ehrenwort, Herr Direktor!“
„Das stimmt“, bestätigt das Weichei wie ein Papagei. „Er wollte es nur mal ansehen. Wirklich, Herr Direktor!“
„Ganz egal, warum du das getan hast, Marko – wir können so etwas hier nicht dulden. Du bist 14 Jahre alt und damit vor dem Gesetz für deine Handlungen selbst verantwortlich. Körperverletzung ist, wie du sicher weißt, eine Straftat. Ich werde mit Frau Winsmann reden und hoffe, dass sie dich nicht anzeigt. Und mit deiner Mutter werde ich natürlich auch sprechen. Ich möchte, dass du jetzt erst Mal nach Hause gehst. Inzwischen überlege ich mir, welche Disziplinarmaßnahmen wir gegen dich verhängen werden.“
Ich nicke und kehre wie betäubt in meine Klasse zurück. Vor den staunenden Augen der anderen Schüler und der Deutschlehrerin packe ich meine Schultasche und gehe ohne ein Wort.
Mir ist gleichgültig, dass ich gleich am ersten Tag nach meinem Koma von der Schule verwiesen werde. Ich fürchte mich nicht vor Strafe. Was mir dagegen große Angst macht, ist das, was da gerade auf dem Schulhof passiert ist.
Wenn