Karl Olsberg

Zurück in die Würfelwelt


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Figur, die mir von meinem Zeichenblock entgegenstarrt, hat einen schwarzen, rechteckigen und sehr schlanken Körper mit unnatürlich langen Armen und Beinen. Ihre Augen sind zwei lilafarbene Schlitze. Darum herum habe ich konzentrische Kreise in derselben Farbe gemalt, so dass es aussieht, als gingen hypnotische Strahlen von der Gestalt aus.

      „Wow, ein Schattenmann!“, sagt Jan, der sich zu uns gesellt hat. „Der sieht aber unheimlich aus!“

      Frau Dr. Hennigmeier sieht mich mit einem seltsamen Blick an. „Was ist das?“, fragt sie.

      Ich kann nicht antworten. Kalter Schweiß bricht mir aus allen Poren. Das Bild macht mir Angst. Ich will es zerreißen, doch ich bin wie gelähmt.

      „Das ist eine Figur aus einem Computerspiel, das wir beide gerne spielen“, erklärt Jan.

      „Geht es dir nicht gut?“, fragt die Lehrerin.

      Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. „Nein, nein, ich bin okay“, bringe ich heraus.

      „Du siehst nicht gut aus“, stellt sie fest. „Ich frage mich, ob du nicht lieber noch ein paar Tage zuhause bleiben solltest.“

      Ich schüttele energisch den Kopf. „Nein! Ich sagte doch schon, es geht mir gut!“

      Sie hebt beruhigend eine Hand. „Schon gut, Marko! Ich weiß, du hattest eine schwere Zeit. Wenn dir der Schulalltag hilft, zur Normalität zurückzufinden, dann ist das sicher gut.“

      Sie löst das Bild des Schattenmanns vorsichtig von dem Zeichenblock und hält es hoch. „Das ist außergewöhnlich. Es entspricht nicht der Aufgabe, die ich euch gestellt habe, aber es ist sehr ausdrucksstark. Hast du etwas dagegen, wenn ich es da drüben aufhänge?“ Sie deutet auf eine Wand, an der die besten Bilder ihrer Schüler angepinnt sind. Ich habe kein besonderes Zeichentalent, deshalb hat es noch nie eines meiner Werke dorthin geschafft.

      Ich schüttele mit dem Kopf, obwohl ich ihr am liebsten sagen würde, dass sie das Bild verbrennen soll. Auf keinen Fall will ich, dass es mich anstarrt, wenn ich das nächste Mal diesen Raum betrete.

      Frau Dr. Hennigmeier mustert mich aufmerksam. Sie legt das Bild beiseite. Als ich mit den anderen Schülern den Raum verlassen will, hält sie mich am Arm zurück. „Einen Moment noch, Marko. Ich würde gern noch etwas mit dir besprechen.“

      Als nur noch wir beide im Raum sind, sagt sie: „Diese Figur, die du gemalt hast … sie bedeutet etwas, oder?“

      Ich schüttele den Kopf. Ich will nicht darüber sprechen. Nicht über das, was Amelies Vater ihr und mir angetan hat. Und erst recht nicht darüber, was ich während meines Komas erlebt habe. „Es ist bloß ein Monster aus einem Spiel“, erwidere ich. „Ich hatte einfach Lust, es zu malen. Tut mir leid, wenn das nicht Ihrer Aufgabe entsprach.“

      „Marko, wenn es etwas gibt, über das du sprechen möchtest, dann möchte ich dir sagen, dass ich dafür immer zur Verfügung stehe. Die Kunst kann uns manchmal helfen, Dinge auszudrücken, für die uns die Worte fehlen. Vielleicht kann ich dir ja helfen, herauszufinden, warum dich diese Entenmann-Figur so belastet.“

      „Schattenmann. Er bedeutet nichts. Absolut gar nichts! Kann ich jetzt gehen? Ich muss zum Matheunterricht. Herr Braukmann hat es nicht gern, wenn wir uns verspäten.“

      Sie nickt. „Du weißt, du kannst jederzeit zu mir kommen“, sagt sie noch einmal.

      Ich wende mich wortlos ab und versuche zu verbergen, dass meine Hände und Knie zittern.

      3.

      Irgendetwas stimmt nicht, aber ich weiß nicht, was.

      Amelie ist nicht zur Schule erschienen und beantwortet meine Nachrichten nicht mehr. Ich habe ein paar Jungs verprügelt, die deutlich stärker sind als ich, weil ich dachte, sie seien Zombies. In der Pause habe ich geglaubt, einen dunklen Mann mit violett leuchtenden Augen am Zaun des Schulgeländes gesehen zu haben. Im Kunstunterricht habe ich dann einen Schattenmann gemalt, ohne überhaupt zu merken, was ich da tue. Was ist bloß mit mir los?

      „Was ist bloß mit dir los, Marko?“, fragt Mam, als ich nach der Schule nur ein kurzes Hallo murmele, meine Schultasche in die Ecke fallen lasse und in mein Zimmer gehen will. „Du wirkst, als ob dich etwas belastet. Hast du noch mal Ärger bekommen wegen der Prügelei gestern?“

      „Nein“, sage ich wahrheitsgemäß. Mehr bringe ich nicht heraus – ich war noch nie ein guter Lügner.

      „Nimm bitte deine Pillen. Und dann räum dein Zimmer auf.“

      Immerhin etwas, das wie immer ist. „Muss das jetzt sein?“

      „Ja. Du bekommst nachher noch Besuch.“

      „Was denn für Besuch?“

      „Dr. Johannsen, der Psychiater, der dich im Krankenhaus untersucht hat. Er möchte sich nur kurz mit dir unterhalten und sicherstellen, dass es dir gut geht.“

      „Es geht mir gut!“

      Sie sieht mich skeptisch an, doch dann zuckt sie nur mit den Schultern.

      Der Psychiater. Das hat mir gerade noch gefehlt! Kurz, nachdem ich aufgewacht bin, hat er sich mit mir unterhalten. Er hat mich gefragt, ob ich während des Komas etwas geträumt habe, doch ich habe ihm nichts von meinem Würfelwelt-Abenteuer erzählt. Ich wollte nicht, dass er mich länger da behält als nötig. Am Ende hat er mir diese Psychopillen verschrieben, die ich seitdem dreimal täglich schlucke.

      Wenn er mitkriegt, was in meinem Kopf los ist, nimmt er mich vermutlich gleich mit. Andererseits brauche ich möglicherweise wirklich Hilfe. Irgendetwas scheint mit mir nicht ganz richtig zu sein.

      Damit wäre natürlich das Problem mit Amelie noch nicht gelöst. Ich wähle zum hundertsten Mal ihre Nummer und erreiche wieder bloß die Mailbox, die inzwischen von meinen Nachrichten überquillt. Der Text, den ich ihr schicke, ist kurz: Geht es dir gut? Brauche dringend Antwort! Marko

      Wenn ich wenigstens wüsste, wie der Geburtsname ihrer Mutter ist. Dann könnte ich die Nummer ihrer Großeltern herausfinden. Aber ich kenne niemanden, den ich danach fragen könnte – außer Amelies Stiefvater natürlich, aber der ist der letzte Mensch, mit dem ich jemals wieder sprechen möchte.

      Während ich immer noch grübele, was ich tun kann, um herauszufinden, wie es Amelie geht, klingelt es an der Haustür. Mam führt Dr. Johannsen in mein Zimmer. Er ist groß und sehr schlank mit einem dünnen, weißen Haarkranz um eine spiegelnde Glatze. Seine Nase ist schmal und hakenförmig gebogen, so dass sein Gesicht etwas von einem Geier hat. Er reicht mir eine Hand, die nur aus faltiger Haut und Knochen zu bestehen scheint.

      „Hallo, Marko“, sagt er mit dünner Stimme. „Wie geht es dir?“

      „Gut“, lüge ich und ergreife die Hand. Sein Händedruck ist kraftlos. Ich lasse so schnell los, wie ich kann, ohne unhöflich zu wirken.

      Mam lässt mich mit ihm allein. Der Psychiater dreht seinen Raubvogelkopf langsam von links nach rechts, als erfasse er mein Zimmer mit einem 3D-Scanner. „Schön hast du es hier.“

      „Ja“, antworte ich.

      Er setzt sich auf meinen Schreibtischstuhl, während ich auf dem Bett Platz nehme. Dann stellt er mir Fragen zu meinen Eltern, zu meinen frühesten Kindheits-erinnerungen, meinem Lieblingsspielzeug, welche Musik ich höre, ob ich gern Sport treibe. Jedes Mal, wenn ich eine seiner Fragen beantworte, sagt er „Ach so“ oder „Aha“, als habe er gerade eine sensationelle Erkenntnis gewonnen.

      Allmählich entspanne ich mich. Ich habe keinen Schimmer, warum er mir all diese Fragen stellt, aber er scheint sich nicht dafür zu interessieren, was momentan in meinem Kopf vorgeht, und darüber bin ich froh.

      Kaum habe ich das gedacht, fragt er wie aus heiterem Himmel: „Was war dein erster Gedanke, als du aus dem Koma erwacht bist?“

      „Ich weiß es nicht mehr genau“, antworte ich wahrheitsgemäß.

      „Aha. Kannst du dich an