du gewesen bist!“
Schließlich löst sie sich von mir und sieht mich mit geröteten Augen an. „Aber das war noch nicht alles, was du mir erzählen wolltest, oder?“
Ich schüttele den Kopf und erzähle ihr, wie der Winzling und seine beiden Mitläufer plötzlich zu Zombies wurden, wie ich einen Schattenmann am Schulzaun gesehen habe, wie heute Nacht ein Kriecher in meinem Zimmer stand und was das Zischen am Telefon bedeutete. „Und vorhin war der Kriecher in dem Poster da drüben plötzlich nicht mehr da“, ende ich.
Mam betrachtet lange das Bild über meinem Schreibtisch, als warte sie darauf, dass sich der Kriecher noch einmal aus dem Staub machen könnte, doch natürlich geschieht nichts dergleichen. „Also hatte Dr. Johannsen recht“, sagt sie mehr zu sich selbst.
„Glaubst du, ich … ich bin verrückt?“, frage ich.
Sie schüttelt energisch den Kopf. „Nein! Du hast bloß Halluzinationen. Das Koma hat dein Gehirn etwas in Mitleidenschaft gezogen. Dr. Johannsen hat angedeutet, dass so etwas passieren könnte. Er meinte, dass man das relativ gut behandeln kann, gerade bei Jugendlichen. Ich rufe ihn gleich mal an.“
Ein Schreck durchfährt mich. Dieser Dr. Johannsen macht mir Angst. Doch ich unternehme keinen Versuch, Mam zurückzuhalten. Immerhin hat der Psychiater mich gleich durchschaut, also weiß er wahrscheinlich, was er tut. Ob er mir nun sympathisch ist oder nicht – wenn er mir helfen kann, diese Halluzinationen loszuwerden, dann bin ich bereit, alles zu tun, was er sagt.
Am Nachmittag fährt Mam mit mir in Dr. Johannsens Praxis. Sie befindet sich in einer großen Jugendstilvilla auf einem parkähnlichen Gelände. Neben dem Eingang hängt ein Messingschild mit dem Aufdruck Edgar-Johannsen-Privatklinik für Neuropsychiatrie. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als wir den geräumigen Empfangsbereich betreten und von einer hübschen Empfangsdame in ein Wartezimmer geleitet werden. Aber ich werde jetzt nicht kneifen!
Dr. Johannsen lächelt, als er mich kurz darauf empfängt, doch seine Augen wirken immer noch raubvogelhaft. „Es ist schön, dass du dich entschlossen hast, herzukommen.“ Er streckt mir seine schlaffe Hand entgegen.
„Ich warte dann draußen“, sagt Mam. Ich möchte sie am liebsten bitten, bei mir zu bleiben, doch das wäre albern – schließlich bin ich kein kleines Kind mehr.
Der Psychiater deutet auf eine Liege. „Mach es dir doch da drüben bequem“, sagt er. „Und dann erzähl mir einfach, was geschehen ist.“
Ich setze mich auf die Liege. „Gut. Aber vorher möchte ich eines klarstellen: Auch wenn ich einige merkwürdige Dinge erlebt habe und unter Halluzinationen leide, bedeutet das nicht, dass ich mir alles nur eingebildet habe. Amelies Stiefvater hat mir gegen meinen Willen eine Spritze gegeben, als ich ihn in seiner Praxis zur Rede stellte. Das war der Grund dafür, dass ich ins Koma fiel. Und ich weiß, dass er mehrfach im Krankenhaus war und versucht hat, mich dort zu töten.“
Der Psychiater nickt. „Aha. Ja, ja, natürlich, natürlich. Nun leg dich hin und tu genau, was ich dir sage. Ich werde dich jetzt in einen tiefen Entspannungszustand versetzen, damit du mir ohne Angst alles erzählen kannst, was du erlebt hast.“ Seine Stimme wird etwas tiefer und ruhiger. „Schließ die Augen. Und dann atme ganz tief ein. Halte die Luft einen Moment an. Und jetzt atme langsam aus. Gut so. Noch einmal: Einatmen … Luft anhalten … ausatmen. Sehr gut. Du spürst, wie deine Arme schwer werden …“
Ich öffne die Augen und richte mich auf der Liege auf. „Moment mal! Wollen Sie mich etwa hypnotisieren?“
Er lächelt beruhigend. „Du musst dir keine Sorgen machen. Hypnose kommt vom griechischen Wort für Schlaf. Es ist einfach nur ein tiefer Entspannungszustand, der die Barrieren absenkt, die zwischen dir und deinem Unterbewusstsein bestehen. Wir können damit herausfinden, was wirklich geschehen ist. Keine Angst – was immer du über Hypnose im Fernsehen gesehen hast, es ist völlig unmöglich, jemanden unter Hypnose gegen seinen Willen zu etwas zu zwingen.“
„Und wenn ich Ihnen unter Hypnose erzähle, was wirklich passiert ist, werden Sie mir dann glauben?“
„Ah, na ja, natürlich, Marko! Genau deshalb machen wir das. Vertrau mir. Ich will dir nur helfen.“
So richtig überzeugt bin ich immer noch nicht, doch als ich die Augen schließe und Dr. Johannsen mit seiner beruhigenden Stimme auf mich einredet, entspanne ich mich allmählich. Als mir der Psychiater sagt, dass mein ganzer Körper warm und schwer wird, scheint das tatsächlich zu passieren. Es ist ein angenehmes Gefühl. Und plötzlich bin ich wieder dort, an dem Strand in der Würfelwelt, ohne zu wissen, wer ich bin und wie ich dorthin kam.
Ich beginne zu erzählen: „Irgendetwas stimmt nicht, aber ich weiß nicht, was. Ich weiß nicht einmal, woher ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Da ist nur dieses merkwürdige Gefühl, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. Die Welt, das ist ein Strand, dahinter treppenartige, bewaldete Hügel. Wellen schwappen leise gegen den Sand. Ein kühler Wind weht vom Meer herein. Die Luft riecht salzig …“
5.
Es ist nicht mein Bett, in dem ich aufwache. Das Zimmer ist klein, mit gelb gestrichenen Wänden, an denen bunte Landschaftsaquarelle in Plastikrahmen hängen. In einer Ecke ist ein kleines Bad abgeteilt. Ich habe nur meine Unterwäsche an. Jeans, Hemd und Sweatshirt hängen über dem Stuhl neben einem Schreibtisch, auf dem ein Zettelblock und ein Stift liegen. Die mit Blumen gemusterten Vorhänge vor dem einzigen Fenster sind zugezogen.
Verwirrt setze ich mich auf. Wo bin ich? Als ich die Vorhänge zur Seite ziehe, fällt mein Blick auf einen kleinen Park. Ein junger Mann in der weißen Kleidung eines Pflegers und eine alte Frau in einem Bademantel gehen darin spazieren.
Ich blicke auf die Uhr: halb zehn. Ein Schreck durchfährt mich, als mir klar wird, dass ich die Nacht in der Nervenklinik verbracht habe. Ich versuche, die aufkeimende Angst zu unterdrücken. Vielleicht hat mich Dr. Johannsen bloß hierherbringen lassen, weil ich während der Hypnose auf seiner Liege eingeschlafen bin. Sicher wird mich Mam gleich abholen. Sie wird nicht zulassen, dass ich hier in der Irrenanstalt bleibe. Das wird sie bestimmt nicht!
Rasch ziehe ich mich an. Halb erwarte ich, dass die Tür abgeschlossen ist, doch sie lässt sich öffnen. Dahinter liegt ein schmaler Flur mit einem spiegelblank polierten Fußboden aus grauem Kunststoff.
Ich folge dem Gang bis zu einer Tür am Ende, hinter der ich Stimmengewirr höre. Sie führt in einen großen Raum. An mehreren Tischen sitzen Menschen und frühstücken. Ein alter Mann hockt auf einem Sofa vor einem an die Wand montierten Fernseher, auf dem ein Zeichentrickfilm läuft.
Eine stämmige Frau mit kurzen, grauen Haaren erhebt sich von ihrem Stuhl und kommt auf mich zu. Sie trägt einen weißen Anzug mit einem Namensschild.
„Du musst Marko sein“, sagt sie freundlich und reicht mir die Hand. „Ich bin Schwester Christa.“
„Wo ist meine Mutter?“, will ich wissen.
„Frühstücke doch erst einmal mit uns.“
„Ich habe keinen Hunger. Ich möchte nach Hause.“
Schwester Christa blickt mich mitleidig an. „Natürlich möchtest du das. Und ganz sicher wirst du bald wieder nach Hause gehen können. Aber erst mal musst du etwas essen, damit du bei Kräften bleibst. Damit der Geist gesund werden kann, muss erst der Körper gesund sein, wie wir hier sagen.“
„Bald? Was meinen Sie mit bald? Ich will mit meiner Mutter sprechen, jetzt sofort!“
Die übrigen Patienten haben aufgehört zu essen und starren uns an. Schwester Christas Gesicht verfinstert sich. Ihre Augen wirken plötzlich kalt und unbarmherzig. „So sprechen wir hier nicht mit dem Pflegepersonal“, sagt sie ruhig, aber mit einer unüberhörbaren Drohung im Unterton.
Erst jetzt komme ich auf die Idee, meine Taschen abzutasten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich gestern mein Handy eingesteckt hatte. Falls ja, hat man es mir offenbar abgenommen. „Kann ich bitte kurz mal telefonieren?“
Zu meiner Überraschung