Karl Olsberg

Zurück in die Würfelwelt


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sagte schon, so redet man hier nicht mit dem Pflegepersonal!“, erwidert Schwester Christa, und der letzte Rest von Freundlichkeit und Mitgefühl ist aus ihrem Gesicht verschwunden. „Wenn du dich nicht an unsere Regeln halten willst, muss ich dich ins Beruhigungszimmer sperren!“

      Bei diesem Wort geht ein Aufstöhnen durch die Patienten, die uns immer noch beobachten. Eine zierliche Frau mit kurzen, schwarzen Haaren bricht in Tränen aus.

      Endlich begreife ich, dass ich in der Falle sitze. Dr. Johannsen muss Mam irgendwie überredet haben, mich hierzubehalten. Vielleicht hat er ihr eingeredet, dass ich verrückt bin. Möglicherweise ist das alles von Amelies Stiefvater arrangiert worden, um mich als unliebsamen Zeugen auszuschalten. Mich als verrückt zu erklären ist fast noch effektiver, als mich umzubringen.

      Ich wende mich an Schwester Christa. „Bitte, ich möchte nur einmal kurz meine Mutter sehen. Ist das möglich?“

      Ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. „Natürlich ist das möglich, mein Junge. Ich werde mich persönlich darum kümmern. Aber bis dahin musst du schön brav sein, ja?“

      Ich schlucke meine Wut und Angst herunter und sage: „Ja, Schwester Christa.“

      „So ist es schon viel besser. Und nun frühstücke erst mal. Danach wirst du dich bestimmt besser fühlen.“

      Keiner der Patienten ist auch nur annähernd in meinem Alter. Also setze ich mich einfach auf einen freien Stuhl. An dem runden Tisch sitzen ein älterer Mann mit etwas zu großer Nase und beginnender Glatze, eine hübsche junge Frau und ein Dicker mit Hornbrille.

      „Neu hier, was?“, fragt die Frau. Sie hat kurze strohblonde Haare und hellblaue Augen.

      „Ja. Ich bin Marko.“

      „Elfie.“ Sie reicht mir eine zierliche Hand und stellt die beiden anderen vor: „Das da ist Sir William, Mitarbeiter des Geheimdienstes Ihrer Majestät.“

      „Pssst!“, macht der Dicke mit der Brille empört und bemüht sich sichtlich, mit britischem Akzent zu sprechen. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich undercover hier bin?“

      „Und das da ist …“, beginnt sie und weist auf den älteren Mann.

      „Gott“, fällt ihr dieser ins Wort. „Du kannst mich der Einfachheit halber Karl nennen. Freut mich, dich kennenzulernen, Marko.“

      „Äh, ja, mich auch.“ Dann wende ich mich an Elfie. „Und wofür hältst du dich? Für eine Figur aus dem Herrn der Ringe?“

      Sie sieht mich erschrocken an. „Wie … wie meinst du das?“

      „Entschuldige. Ich … ich dachte nur … Ich wollte nicht … Ich meine, warum bist du hier?“

      Sie lächelt. „Ist schon gut. Du kannst es ja nicht wissen.“

      „Was kann ich nicht wissen?“

      „Dass ich ein Gespenst bin.“

      „Ein … Gespenst! Du meinst, du bist tot?“

      Sie verdreht die Augen. „Wenn ich tot wäre, dann würde ich ja wohl nicht hier sitzen und frühstücken, oder?“

      „Äh … nein, aber … ich dachte, Gespenster …“

      „Das ist ein weit verbreiteter Irrtum“, erklärt sie mit vollem Ernst. „Gespenster sind nicht tot. Gespenster sind unsichtbar.“

      „Mit wem redest du da eigentlich die ganze Zeit, Marko?“, fragt der Dicke und zwinkert mir über den Rand seiner Hornbrille zu.

      „Aber ich sehe dich doch“, sage ich verwirrt.

      „Aber nur, weil ich will, dass du mich siehst.“

      Mir fehlen die Worte. Ich bin in eine waschechte Klapsmühle geraten und sitze mit einem Gespenst, einem britischen Geheimdienstmitarbeiter und keinem Geringeren als dem Allmächtigen höchstpersönlich an einem Tisch! Wenigstens scheinen sie nett zu sein.

      Trotz allem habe ich auf einmal Hunger. Also nehme ich mir ein Brötchen aus dem Korb und bestreiche es mit Butter und Marmelade. Als ich nach der Kanne Milch greife, hält der Dicke meinen Arm zurück. „Ich würde das nicht trinken. Sie tun da irgendein Zeug rein, um uns gefügig zu machen. In die Marmelade übrigens auch.“

      Erschrocken starre ich auf das Brötchen auf meinem Teller, dann auf den dicken Mann, der sich für einen Geheimagenten hält. Als ich seinen Rat gerade ignorieren will, fällt mir ein, was Schwester Christa gesagt hat: Und nun frühstücke erst mal. Danach wirst du dich bestimmt besser fühlen.

      Der ältere Mann namens Karl streckt seine Hand aus, fährt damit durch die Luft über meinem Teller und murmelt etwas. „Jetzt ist es harmlos“, sagt er. „Ich habe einfach das Diazepam in Zuckermoleküle verwandelt.“

      „Danke, aber ich glaube, ich habe doch keinen Hunger“, erwidere ich.

      Sir William nickt anerkennend und tippt sich an die Stirn, während er mit dem Kopf auf Karl deutet.

      Ein Anflug von Verzweiflung überkommt mich. Wenn tatsächlich Amelies Stiefvater dahinter steckt, dass ich hier bin, werde ich vielleicht nie wieder hier rauskommen! Dann schießt mir ein neuer Gedanke durch den Kopf: Vielleicht ist Amelie auch in eine Nervenklinik gesteckt worden. Vielleicht ja sogar in dieselbe!

      „Habt ihr zufällig …“, beginne ich, doch Karl unterbricht mich.

      „Sie ist nicht hier.“

      Ich starre ihn an. „Was?“

      „Sie ist nicht hier“, wiederholt er.

      „Wer ist nicht hier?“, fragt Elfie.

      „Ihre Majestät“, antwortet Sir William. „Sie ist im Buckingham Palace in Sicherheit. Dafür habe ich gesorgt.“

      „Was hast du damit gemeint, sie ist nicht hier?“, frage ich nach.

      „Das Mädchen, das du suchst, ist nicht hier.“

      „Woher … weißt du das?“

      „Ich bin Gott, schon vergessen?“

      Einen Moment lang bin ich sprachlos. Dann wird mir klar, dass das nichts anderes ist als ein billiger Trick, wie ihn Wahrsager auf dem Jahrmarkt oder Zauberer im Fernsehen verwenden. Ich bin ein 14 Jahre alter Junge, da ist es wohl nicht so unwahrscheinlich, dass ich mich für ein Mädchen interessiere. „Gott“ hat einfach gut geraten.

      Er schüttelt langsam den Kopf, als wüsste er, was ich denke. Aber das ist natürlich auch bloß ein Trick.

      Das Gefühl der Ohnmacht wird übermächtig. Ich wische mir mit einer Papierserviette die Tränen aus den Augen.

      Karl lächelt, als wolle er mich trösten. „Keine Sorge, ich kann dir helfen, hier rauszukommen.“

      „Lass mich in Ruhe!“, erwidere ich. „Lasst mich einfach alle in Ruhe!“

      Schwester Christa kommt an unseren Tisch. „Na, schmeckt’s?“, fragt sie mit aufgesetzter Freundlichkeit.

      Alle nicken pflichtschuldig. Ich nehme einen Bissen von dem Marmeladenbrot und hoffe, dass Sir William nur fantasiert hat.

      „Der Junge gehört nicht hierher“, sagt Karl unvermittelt.

      „Das ist nicht deine Entscheidung“, erwidert Schwester Christa ruhig.

      „Doch, ist es. Aber ich werde sie bald rückgängig machen.“

      „Ja, ja, tu das.“ Sie wendet sich an mich. „Er denkt, er ist Gott. Das darfst du nicht so ernst nehmen.“

      Ich nicke bloß.

      „Und Sie, Schwester Christa, kommen in die Hölle!“, sagt Karl.

      Sie fährt herum. „Was hast du gesagt?“

      Karl grinst breit. „Sie kommen in die Hölle, wo Sie hingehören!