Diane S. Wilson

Blut und Wasser


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      „Alles in Ordnung?“ Ihre Augen lächelten, während ihr Mund wie immer eine typische strenge Linie bildete. Es hatte ihn einige Zeit gekostet, das verborgene Lächeln in ihren Augen zu entdecken und auch nach Jahren der Ehe war sie bei Weitem kein offenes Buch für ihn. Seine Söhne waren da schneller. Sie bemerkten meistens zuerst, wenn die Stimmung umschwang und Flucht die bessere Alternative wurde.

      Zeke nickte Holly zu und lehnte sich im Beifahrersitz zurück. Mit geschlossenen Augen lauschte er, wie Holly den Wagen anließ und seine Söhne begannen, miteinander zu flüstern. Dies war einer dieser seltenen Momente, in denen er seiner Frau vollkommen die Kontrolle überließ. Zielsicher lenkte sie den Wagen durch den Wald hindurch und hinaus in das sumpfige Gebiet, in dem Oskar seine Farm errichtet hatte. Das kleine Haus war heruntergekommen. Die Farbe blätterte an mehreren Stellen von der Holzfassade ab und große Flächen des unbehandelten Untergrunds wurden sichtbar. Auf dem Vordach lag eine dicke Schicht aus Blättern und Ästen, die der Regen zu einer festen Masse verschmolzen hatte und nun dem Wind trotze. Der Garten, zu beiden Seiten der Einfahrt, war befüllt mit allerlei Skulpturen aus Holz, Metall, Stein oder Kombinationen aus verschiedenen Materialien. Einige der Skulpturen kannte Zeke noch aus seiner eigenen Kindheit. Die Erinnerung, wie er mit seinen Brüdern Zuflucht in diesem Kunstwald gesucht hatte, war ihm immer noch präsent. Nur wenige der Kunstwerke waren neueren Datums. In den letzten Jahren seines Lebens hatte sein Onkel nicht nur körperliche Kraft, sondern zu seinem eigenen Leidwesen, auch seine künstlerische Leistung einbüßen müssen. Nicht selten hatte man ihn im einzigen Pub in Argos sitzen sehen, mit einem Scotch vor sich auf dem Tisch, auf der Suche nach dem Kuss der Muse. Das Nine war für diese Suche gut geeignet, denn im Laufe des Tages betrat ein Großteil der Stadtbewohner das Lokal, um zu essen, zu trinken oder auch nur, um die geringe Portion sozialer Kontakte aufrecht zu erhalten, die ein Leben in den Bergen mit sich brachte. Einen der Nischentische hatte Oskar zu seinem Stammplatz erklärt und niemand hatte je widersprochen. Dort hatte er seine Audienzen abgehalten, für jeden der eine Information erhalten oder loswerden wollte. So hatte er Ratschläge verteilt und Geschichten gesammelt. Nicht selten war er nach einer durchzechten Nacht im Nine nach Hause gelaufen und hatte dort bis zum nächsten Abend an einer Skulptur oder einem anderen Kunstwerk gearbeitet. Die Muse, so hatte er immer gesagt, lebte in jedem, der den Pub betrat und solange sie bereit war, mit ihm zu sprechen, war er bereit, ihre Stimme in seine Kunst zu verwandeln. In den letzten Monaten seines Lebens hatte die Muse sich aber offensichtlich andere Gesprächspartner gesucht und Oskars Verfall damit sichtbar beschleunigt.

      Der Wagen überquerte eine Unebenheit auf der kiesbelegten Auffahrt und Zeke wurde aus seinen Gedanken gerissen. Vor dem Haus und im Wendehammer der Straße standen die Autos der Trauergäste in Reih und Glied. Für Zeke und seine Brüder waren unausgesprochen drei Plätze vor der Garage reserviert worden. Die Trucks standen bereits an ihrem Platz und seine Brüder saßen wahrscheinlich schon bei einem ersten Bier zwischen den Verwandten und zählten die Minuten, bis der Anstand ihre Anwesenheit im Haus ihres Onkels nicht mehr erforderte. Zeke stieg aus dem Wagen und öffnete seinen Söhnen die Autotür. Die Jungs stürzten von ihren Sitzen und liefen über die Veranda ins Innere des Hauses. Holly blieb auf der Treppe stehen und blickte Zeke auffordernd an. Das Garagentor war nicht vollständig geschlossen und der Wind bewegte eine der Türen ruckartig hin und her.

      „Gleich.“ Zeke versuchte ein Lächeln zustande zu bringen. „Ich bin gleich da.“

      Holly drehte sich um und folgte ihren Söhnen ins Haus. Zeke beobachtete einen Moment, wie der Wind die Tür gerade weit genug aufdrückte, um einen kurzen Blick ins Innere der dunklen Garage zu ermöglichen und sie dann sofort wieder zuschnellen ließ. Zeke konnte seinen eigenen Herzschlag in den Ohren spüren. Die raschen Schläge teilten das rhythmische Rauschen des Sturms in kleine melodiöse Einheiten. Kontrolliert griff Zeke nach der Garagentür und schob sie mit einer kurzen, ruckartigen Bewegung ins Schloss. Erstaunt beobachtete er, wie seine Hand zurückschreckte und wie aus einem Reflex in seiner Manteltasche verschwand.

      Die wenigen Räume des Erdgeschosses waren ungewohnterweise gefüllt mit Menschen. Zeke schloss die Eingangstür hinter sich und gönnte sich einen Moment, um die Wärme des Hauses durch seinen Körper fließen zu lassen. In diesem Haus hatte er sich immer mehr zu Hause gefühlt, als bei seinen Eltern oder geschweige denn Großeltern. Jeder Raum barg Erinnerungen an all die Dinge, die er mit seinen Brüdern hier erlebt hatte. Viele der wenigen Momente seiner Jugend, an die Zeke gerne zurückdachte, hatte er allesamt in diesem Haus erlebt, gepaart mit einigen, die ihn in seinen dunkelsten Träumen heimsuchten. Zekes Gedanken schienen durch das Haus und seine Räume zu wandern, wie ein Pilger, der nach Jahren wieder sein altes Haus betritt und feststellt, dass sich in seiner Abwesenheit nicht viel verändert hat. Wie in Trance folgte Zeke dem Flusslauf seiner Erinnerungen, wie sie die Treppen hinauf- und hinabflossen und ihn schließlich zurück in die Garage führten. Wie durch Magie war er plötzlich umgeben von dem alten Geruch, den er schon so lange nicht mehr eingeatmet hatte. Er roch das Holz, das sein Onkel für seine Skulpturen aufbewahrt hatte, meist aus dem Familienunternehmen für wenig oder gar kein Geld erstanden, die modrige Erde, deren spezieller Geruch alles bedeckte, was in der Nähe des Moors stand, wuchs oder lief, und das metallische Aroma des Materials und der Rückstände auf Boden und Wänden.

      Zeke schüttelte den Kopf und riss seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Nachdem er an der Garderobe zwischen den abertausenden Jacken und Parkas einen Platz für seinen Mantel gefunden hatte, machte er sich auf die Suche nach seiner Familie. Fündig wurde er in der Küche. Han stand an die Spüle gelehnt mit einer Bierflasche in der Hand und unterhielt sich mit einer Frau. Ihre Gesichtszüge kamen Zeke bekannt vor, auch wenn er sie nicht wirklich zuordnen konnte. Philipp saß auf einem Küchenstuhl und hatte seinen Sohn Ted auf dem Schoß. Ted war mit seinen zwölf Jahren eigentlich schon zu groß für derartige familiäre Nähe und Zeke vermutete, dass der besondere Anlass Raum für Ausnahmen bot.

      „Hey Zeke!“ Han winkte seinen Bruder zu sich herüber. Sein Blick verriet, dass er nach einer Möglichkeit suchte, aus der Situation zu entkommen. „Erinnerst du dich an Tante Meg?“

      Die Frau hob den Kopf und sah Zeke mit einem schwachen Lächeln auf dem Gesicht an. Seine Erinnerung kehrte zurück, als er die Augen der Frau sah. Diese waren grau und es schien als sähe man dem Meer zu, wie es an einem stürmischen Morgen ruhig dalag und darauf wartete, dass die Sonne aufging. Sie war etwa Mitte fünfzig und trug einen schwarzen Rollkragenpullover zu dunklen Jeans und flachen Halbschuhen. Diese Schuhe waren selten in dieser Gegend. Die kalten Temperaturen und das raue Gelände zwangen die Bewohner zur Vorsicht und festes Schuhwerk wurde zu allen Gelegenheiten für angemessen erklärt. Megs Haar war von vielen grauen Strähnen durchsät und wurde zurückgehalten von einer silbernen Spange, auf der wellenförmige Motive eingraviert waren. Ansonsten trug sie keinerlei Schmuck, auch keinen Ehering. Insgesamt war Megs Aussehen eher unauffällig und Zeke wunderte sich nicht, dass er sie bei der Beerdigung übersehen hatte. Das Lächeln, das auf ihren Lippen lag, aber nicht aus den Augen zu scheinen schien, verschwand als sie zu sprechen begann.

      „Sicher erinnert er sich nicht an mich. Er war damals ein Teenager und mit wichtigeren Dingen beschäftigt als alten Verwandten.“ Das Lächeln blitze erneut für einen kurzen Moment auf und verschwand fast ungesehen. Die Geste wirkte einstudiert und zu oft angewandt, um sich an den ursprünglichen Zweck noch erinnern zu können. Zeke vermutete, dass sie in ihrem Beruf, anders als er, vielen Menschen begegnete, die sozialkonformes Verhalten erwarteten.

      „Tante Meg.“ Zeke öffnete seine Arme und drückte seine Tante kurz an sich. „Es tut mir so leid. Wegen deines Vaters.“ Er legte ihr die Hand auf die Schulter und versuchte den Grad der Trauer aus ihren Zügen abzulesen.

      „Danke dir. Wir hatten ja kein sehr inniges Verhältnis. Das letzte Mal haben wir uns gesehen, kurz bevor euer Vater verschwand.“ Bilder schossen durch Zekes Erinnerung und reflexartig wandte er den Blick seinem Bruder zu, um dessen Miene zu prüfen. In diesem Moment hörte man, wie sich die Haustür öffnete und eine große Gruppe Menschen in die Küche trat. Han nutzte die Gelegenheit und verschwand in der Menge, nachdem er Meg noch einmal den Arm um die Schultern gelegt und sie sanft an sich gedrückt hatte. Diese Geste war mehr, als Zeke von seinem Bruder erwartet hätte. Hans Umgang mit Menschen war spärlich. Er leitete das Logistikzentrum der Firma und sprach