Diane S. Wilson

Blut und Wasser


Скачать книгу

      Henry war verwirrt. „Die Tochter von Kasper?“

      „Kasper? Nein, Oskar. Kaspers Onkel.“ Der Mann stieg von seinem Hocker herunter und näherte sich Henry am Ende der Bar. Er war wahrscheinlich jünger, als er aussah. Das wettergegerbte Gesicht wurde von einem Dreitagebart gerahmt. „Aber, wenn Sie wegen Kasper hier sind, ist es mehr als ein paar Tage zu spät.“ Er lachte und einige der Männer an der Bar stimmten müde mit ein.

      „Was ist denn passiert?“ Henry nutzte die Offenheit des Mannes, um einen Einstieg in ein Gespräch zu finden.

      „Das ist schon über 20 Jahre her. Ist eines Tages verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Auto, Geld und seine Jungs. Hat er alles dagelassen. Ist wahrscheinlich betrunken ins Moor gewandert und da versunken. Leiche hat man nie gefunden. Oder irgendwas von ihm.“

      „Kasper jetzt?“

      Der Mann nickte und ließ dabei den Kopf einige Male zu oft auf und ab wippen. „Ja, Oskar ist letzte Woche gestorben. Im Schlaf davongewandert. Hat wohl nichts gespürt, sagt der Arzt.“

      Henry nickte verständnisvoll und stelle sich darauf ein, viele Informationen zu erhalten, nach denen er nicht gefragt hatte. „Und Oskar hat eine Tochter. Und Kasper hat einen Sohn?“ Henry wusste bisher nur wenig über Kaspers Familie und auch die Existenz eines verstorbenen Onkels und einer erbenden Cousine war ihm neu. Die Hoffnung keimte in ihm auf, dass Kaspers Sohn oder seine Cousine noch in der Nähe lebten.

      „Söhne. Mehrzahl. Drei insgesamt. Alle noch kleine Kinder, als der Alte abgehauen ist.“

      Der Mann, der Henry am nächsten saß, erhob sich langsam und legte seinem redefreudigen Kollegen den Arm um die Schultern.

      „Übertreib mal nicht, Virgil.“ Er setzte das Bierglas, das er immer noch in der Hand hielt, an die Lippen und ließ den Rest des Inhalts in seinem Hals hinunterwandern. Schließlich stellte er das Glas auf die Theke und richtete seinen Blick auf Henry. „Wer ist der Kerl überhaupt, dem du hier die geheime Stadtgeschichte erzählst?“ Sein Blick zeugte von Misstrauen und mit einem Nicken in Henrys Richtung machte er deutlich, dass er von Henry ein Pfand für Informationen erwartete. Henry stand auf und streckte den beiden die offene Hand entgegen. „Henry.“ Mit flinken Fingern der linken Hand zog er die Polizeimarke aus der Tasche und hielt sie seinen Gegenübern entgegen, ohne ihnen viel Zeit zu geben, diese genauer zu begutachten. „Ich ermittle im Mordfall Kasper.“

      Virgil und sein Kollege sahen Henry für einen kurzen Moment schweigend an und brachen dann in schallendes Gelächter aus. „Na, dann viel Glück. Da wirst du aber mehr brauchen, als Virgils alte Geschichten hier.“ Henry beschloss gute Miene zum bösen Spiel zu machen und schloss sich leise dem Gelächter an.

      „Ich weiß, dass es fast aussichtslos ist, aber was soll man machen. Job ist Job.“ Er zuckte mit den Schultern und ließ sich wieder auf dem Barhocker nieder. Die beiden Männer warfen sich daraufhin einen amüsierten Blick zu und machten dann den Weg zwischen sich frei, um Henry zu einem der Tische zu lotsen. „Dann werden wir dir mal die ganze Geschichte erzählen. Ich bin übrigens Heston.“ Er schlug Henry auf die Schulter und zwang ihn so, sich auf einem der klapprigen Stühle niederzulassen.

      „Also, angefangen hat alles mit dem Tod von Rebecca, Kaspers Frau.“ Heston nahm einen tiefen Schluck aus dem Bierglas, das der Barmann ungefragt vor ihm abgestellt hatte. „Seine Stimmungsschwankungen wurden …“

      „Nein, du musst mit Kasper als Kind anfangen. Sonst versteht der Junge doch gar nichts.“

      „Ach was. Das wird er schon verstehen. Scheint ja n schlaues Bürschchen zu sein.“ Lachend schlug Heston Henry erneut auf die Schulter und drückte ihn noch tiefer in seinen Stuhl.

      „Aber die Geschichte ist so kompliziert. Du musst am Anfang anfangen.“ Virgil sah sein Gegenüber mit glasigem, aber bestimmtem Blick an. Seine linke Hand umklammerte die Bierflasche, während die andere zu einer Faust geballt auf dem Tisch ruhte.

      „Okay, okay.“ Heston lächelte seinen Freund gutmütig an. „Wir beginnen ganz am Anfang.“

      Nach einem weiteren Schluck aus dem Humpen begann Heston zu erzählen und wurde dabei nicht wenige Male von Virgil unterbrochen, der den Geschichten dramatische oder komische Details hinzufügte. Wäre sein Interesse am Inhalt des Berichts nicht beruflicher Natur gewesen, hätte Henry sich mit Freuden zurückgelehnt und sich von dem erstaunlich unterhaltsamen Schauspiel berieseln lassen. Aber stattdessen versuchte er angestrengt, aus den verschiedenen Momenten und Bildern, die ihm die beiden lieferten, den Gesamtzusammenhang herauszufiltern. Nach einer Zeit, in der sich das Pub erst gefüllt und dann wieder geleert hatte, glaubte er, endlich die Familiengeschichte in groben Zügen verstanden zu haben.

      Die Brüder Uther und Oskar hatten schon immer in der Region gelebt. Ihre Familie war in langer Tradition im Handel tätig und hatte alles verkauft, was man sich vorstellen konnte: Land, Vieh, sogar Sklaven und Schmugglerwaren waren darunter gewesen. Mit der Zeit wurden die Strukturen immer chaotischer und das Geschäft wurde zerschlagen. So waren Uther und der jüngere Oskar die ersten, die nicht gezwungen waren, in das Familienunternehmen einzusteigen. Uther beschloss daraufhin, sein Glück im Torf- und Holzhandel zu versuchen, während Oskar sich zum Künstler emporhob. Das Verhältnis zwischen den Brüdern war auch zuvor nicht besonders gut gewesen, aber diese Entscheidung hatte Uther seinem Bruder nie verziehen und so trennten sich ihre Wege endgültig. Obwohl sie das geerbte Land aufteilten, lebten sie wie Fremde nebeneinander.

      Von einer Reise, um einige entfernte Verwandte zu besuchen, kam Uther eines Tages mit Gertie nach Hause. Sie war eine entfernte Cousine der Brüder und offenbar hatte sie Uther gut genug gefallen, um sie sofort zu heiraten. Zahlreiche Gerüchte von vorgetäuschten oder realen Schwangerschaften und Blutspakten zwischen den Familien gingen damals um. Manche meinten auch, Gertie sei das Pfand für den Erlass von Schulden gewesen. Die Wahrheit hierüber kannten auch die beiden Kneipenpoeten nicht und nach ihrer Aussage sollte man sich besser hüten, Uther danach zu fragen. Die Ehe der beiden war, wie Uthers gesamtes Leben, nicht vom Glück gezeichnet. In seinen Gewaltaktionen ließ er auch dann nicht von Gertie ab, wenn diese schwanger war. In den ersten sieben Jahren der Ehe hatte sie zahlreiche Fehlgeburten und gebar drei missgebildete Kinder, die allesamt von Uther verstoßen wurden. Im achten Jahr der Ehe wurde schließlich Kasper geboren. Niemand weiß genau, wie es dazu kam, dass er gesund zur Welt kam und es wurde in der Stadt heimlich als Wunder gefeiert. Von da an änderte sich offensichtlich das Kräftegefüge zugunsten von Gertie. Da Uther Kasper als seinen Erben akzeptiert hatte, nutzte Gertie ihn als Schutzschild, um sich vor den Attacken ihres Mannes zu schützen. Uther verlagerte seine Wut auf seinen Sohn und verprügelte den Jungen, wann immer er sich schützend vor seine Mutter stellte.

      „Und in der Stadt hat das keiner mitbekommen?“ Henry sah die Erzähler skeptisch an und schob seinen leeren Teller von sich weg.

      „Alle wussten davon. Die ganze Stadt.“ Hestons Sicht wirkte verschwommen und sein Blick wanderte in eine unsichtbare Ferne. Schließlich folgten seine Augen für einen kurzen Moment den Fingern, die den Kreis aus Kondenswasser auf dem Tisch nachzeichneten. Dann blickte er auf und fixierte Henry mit festem Blick. „Ich selbst war damals noch ein Kind, aber mein Vater hat für den alten Uther gearbeitet. Baumstämme transportiert hat er. Ein Knochenjob, aber das einzige, was meine Mutter und uns fünf Jungs am Leben gehalten hat. Dumm wäre er gewesen, das für eine Familiengeschichte zu riskieren.“ Heston griff nach seinem Bierglas und nahm einen beherzten Schluck, während Henry in Virgils Augen nach weiteren Antworten suchte. Dieser zuckte nur mit den Schultern und überließ Henry seinen Zweifeln.

      „Besser wurde es erst nach dem Unfall.“

      „Unfall?“ Henry stutzte. Bisher hatten die Männer ihm nur Hintergrundwissen geliefert, aber nichts, das mit einer Straftat oder gar einem Mord in Verbindung stand.

      „Ja, man weiß nicht so genau, was passiert ist, aber Uther sitzt seitdem im Rollstuhl. Ist nicht so leicht, den Jungen zu verdreschen, wenn du nicht mal alleine zum Scheißen gehen kannst.“ Heston lachte und Virgil stimmte mit ein. Auch Henry rang sich ein Lächeln ab und gönnte den beiden Männern diesen Moment, um sich aus der