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wenn er sich nicht mit immenser Kraft freischlagen könnte. Dann war da Angst. Die Angst, die ihm die Kehle zuschnürte und ihm die Bilder seiner Familie wie ein Diaprojektor in Endlosschleife vor Augen führte. Han war ein Teil dieser Familie, ein wichtiger Teil. Zeke schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Der Geruch des Moors, der sich mit dem Aroma des verbrannten Papiers und dem Zigarettenrauch mischte, holte ihn wieder auf den Boden der Realität zurück.

      „Sonst ahnt sie nichts.“ Zeke öffnete die Augen und sah seine Brüder an. „Sie kennt nur unsere Jugendsünden und zieht keine Schlüsse.“

      Han schnaubte verächtlich. „Welche Schlüsse will sie denn auch ziehen? Sie war ja nie hier.“

      Philipp trat an den Baum heran und griff nach der Schale, in der das Feuer mittlerweile erloschen war. Die Handschuhe beschützten seine Finger vor der Hitze und mit einem kräftigen Stoß warf er dir Überreste zusammen mit der Asche in Richtung des Moors, wo sie vom Regen schnell in den modrigen Boden integriert wurden.

      „Jetzt sind wir die einzigen, die davon wissen können. Irgendwie sollte ich mich jetzt sicherer fühlen.“ Philipp verstaute die Schale und die Streichhölzer in der Blechdose und versteckte sie wieder unter den Wurzeln des Baumes.

      „Was ist, wenn Oskar es wusste und jemandem davon erzählt hat?“

      „Wem denn?“ Han klappte den Kragen seiner Jacke nach oben und wandte sich wieder dem Haus zu. „Außerdem wissen wir gar nicht, ob er überhaupt etwas wusste. Immerhin hat er all die Jahre nichts gesagt.“ Seine Brüder folgten ihm. „Er hat Jahrzehnte lang betrunken im Nine gesessen und jedem einfach alles erzählt, ob er es hören wollte oder nicht. Wenn er vorgehabt hätte, uns zu verraten, hätte er es längst getan.“

      Das Haus hatte sich ein wenig geleert. Das ungemütliche Wetter und die kurzfristige Abwesenheit der Brüder hatten das Ihrige dazu beigetragen. Meg stand in der Küche und spülte Gläser, die ihr von Amy und Holly angereicht wurden.

      „Da seid ihr ja.“ Holly blickte Zeke vorwurfsvoll an. Er wusste, dass sie eine Erklärung erwartete, warum die drei verschwunden waren. Zeke war jedoch nicht bereit, alle Geheimnisse mit seiner Frau zu teilen und würde es auch dabei belassen.

      „Bei ihrem Zauberbaum waren sie wieder.“ Gerties Stimme durchschnitt die Atmosphäre wie ein eiskaltes Messer. Sie saß in einem Sessel in der Ecke der Küche und klammerte sich an ein Glas Gin, während sie zwischen Zeke und Holly hin und her sah. „Zündeln und Salbei abbrennen, wie Hexenweiber. Weghacken müsste man das Geistergestrüpp. Meg, das erste, was du machen solltest, ist diesen Baum fällen lassen. Nicht mal für den Kamin kann man das feuchte Holz noch gebrauchen.“

      „Wo sind die Kinder?“ Zeke schnitt seiner Großmutter das Wort ab.

      „Oben.“

      „Wir fahren.“

      Holly stellte das letzte Glas neben Meg auf die Spüle und ging wortlos an ihm vorbei. Einige Sekunden später war das Knarren der Treppenstufen zu hören.

      „Und du hör zu, altes Weib. Wenn du möchtest, dass die Erle gefällt wird, wirst du es mit deinen eigenen Fingernägeln und Zähnen erledigen müssen.“ Zeke hatte sich seiner Großmutter bis auf wenige Zentimeter genähert und stütze seine Arme auf den Lehnen des Sessels rechts und links von ihr ab. Er blickte ihr direkt in die kleinen Augen, aus denen unendlich viel Trotz und Häme zurückschien. Ihr Körper war so dünn, dass er ihn zwischen zwei Fingern hätte zerbrechen können. Zeke atmete tief ein und nahm den Geruch seiner Großmutter in sich auf. Gertie roch nach Gin und sonst nichts. Selbst der Geruch der Menschlichkeit wollte nicht mehr an ihr haften.

      „Zeke!“ Philipps Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Fahr nach Hause.“ Holly stand mit den Jungs bereits halb angezogen in der Tür. Zeke riss sich von seiner Großmutter los und verließ die Küche. Als er die Haustür hinter seinen Söhnen schloss, hörte er gerade noch die Stimme seiner Großmutter, wie sie ihren Mann um Beistand anrief.

      Als Meg ihre Tante und ihren Onkel mit dem Pflegepersonal endlich aus dem Haus gebracht hatte, schloss sie die Haustür und ließ sich von Innen gegen das schwere Holz fallen. Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus, bevor sie sich aufraffte und ziellos durch die Zimmer streifte. Dank Amy war auch das letzte Geschirr gespült und das Essen im Kühlschrank verstaut. Ihr Körper fühlte sich müde an und sie spürte sowohl ihr Alter, als auch die emotionale Erschöpfung, die der Tag mit sich gebracht hatte. Meg überlegte, ob sie schon ins Bett gehen sollte, aber ihr Geist war wach und arbeitete auf Hochtouren. 20 Jahre lang hatte sie sich von diesem Teil ihrer Familie ferngehalten. Nachdem sie ihre Assistenzzeit im benachbarten Krankenhaus hinter sich gebracht hatte, war sie verschwunden und durch die Welt gereist. Der Kontakt zu ihrem Vater war abgerissen und nur durch gelegentliche Postkarten und Anfragen um Geld in beide Richtungen wiederbelebt worden. Keiner der Belebungsversuche war sehr erfolgreich gewesen, so viel musste sie sich eingestehen. Der Patient war lang tot gewesen, bevor er zu Grabe getragen wurde. Jetzt war sie hier und ihr gehörte alles, was er je besessen hatte. Langsam schlenderte Meg in das kleine Arbeitszimmer, das hinter der Küche lag und aus dem ehemaligen Wintergarten gezimmert worden war. Vor Jahren hatte ihr Vater wohl in einem seiner Anfälle alle Glasschreiben entfernt und durch massive Holzplatten ersetzt. Der Raum war dunkel und wurde lediglich durch eine kleine Schreibtischlampe erhellt. Rundherum stapelten sich Kisten und Kartons, die gefüllt mit Papieren und anderem Kram wie eine zweite Wand den Raum verstärkten. Meg zog einen der Kartons vom Stapel herunter und nahm am Schreibtisch Platz. Der Inhalt musste mehrere Jahre alt sein. Die Handschrift ihres Vaters war klar und ähnelte wenig den unleserlichen Hieroglyphen, die er in seinen letzten Jahren aufs Papier gebracht hatte. Sie fand einige Skizzen und Notizzettel und überlegte, ob es ein Museum gab, das Interesse an diesen Werken zeigen könnte. Für sie selbst hatten die Dokumente keinen Wert, auch keinen sentimentalen. Ihr Vater hatte die Kunst jedem Menschen vorgezogen. Sie war seine einzige Liebe gewesen und so hatte auch sie kein großes emotionales Investment betrieben. Meg durchsuchte noch drei weitere Kartons und fand nichts außer unzusammenhängenden Aufzeichnungen der wirren Gedanken eines Künstlers. Nach einigen Stunden beschloss sie aufzugeben und dachte kurz darüber nach, eine professionelle Firma zu beauftragen, all die Unterlagen für sie zu entsorgen. Meg streckte sich auf dem Stuhl und ließ die Wirbel wieder an ihren rechtmäßigen Ort knacken. Schließlich legte sie den Kopf zurück und massierte den unteren Teil ihrer Lendenwirbel. Die Decke des Wintergartens war ebenfalls mit Holzplatten verkleidet worden. Allerdings hatten dem Künstler hier wohl doch die handwerklichen Fähigkeiten gefehlt, denn einige der Platten schlossen nicht sauber ab, sondern bildeten kleine Zwischenräume. Es dauerte einen Moment, bis Megs Augen sich an die Dunkelheit abseits des Lichtkegels der Schreibtischlampe gewöhnt hatten und sie die Schriftrolle erkannte, die dort oben zwischen zwei Holzbrettern eingeklemmt war. Nicht sicher, ob es sich nicht um eine behelfsmäßige Konstruktion handelte, die das Dach vor dem Einstürzen bewahrte, stand sie langsam auf und kletterte auf den Schreibtisch, um einen besseren Blick zu erhalten. Aus der Nähe konnte sie deutlich die Schrift ihres Vaters auf dem Papier erkennen. In einer waghalsigen Aktion griff sie nach der Papierrolle und zog sie mit einem Ruck zwischen den Platten hervor. Reflexartig zog Meg die Schultern zusammen und wappnete sich gegen die einstürzende Decke. Als nach einigen Sekunden noch immer alles unbewegt schien, öffnete sie langsam die Augen und machte sich auf die Suche nach der zu Boden gefallenen Schriftrolle. Erst jetzt erkannte sie, dass die Rolle aus vielen unverbundenen Einzelblättern bestanden hatte, die nun verstreut und über den Boden verteilt dalagen.

      „Shit!“ Noch von Schreibtisch aus konnte Meg erkennen, dass es sich um eine Mischung aus Texten und Zeichnungen handelte. Wie ein illustrierter Roman oder eine Zeitungsdokumentation schienen die Papiere eine Geschichte zu erzählen. Meg stieg vorsichtig vom Tisch und sammelte die Blätter vom Boden auf. Im Schein der Schreibtischlampe entzifferte sie Seite um Seite und versuchte dabei dem Geschriebenen einen Sinn abzugewinnen. Erst nach Stunden, als die ersten Sonnenstrahlen bereits durch die Ritzen zwischen den Holzplanken drangen, setzte sie sich in ihrem Stuhl zurück und starrte wortlos auf die Zeichnung, die ihr Vater an das Ende des Textes gesetzt hatte. Darauf zu sehen waren drei Figuren, die im Nebel des Moors standen. Sie schienen ganz in sich versunken, denn alle drei starrten auf den Boden vor sich und bemerkten nicht, dass sie anscheinend