Ana Marna

Seelenfresserin


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über die Treppe hinunter. In die Schatten. In den tiefsten und dunkelsten Winkel, den das Haus zu bieten hatte.

      Dort kauerte sie sich hinter einem Regal nieder und schloss die Augen. Es war vielleicht gefährlich und noch nie hatte sie ihre kleinen Freundinnen bewusst einer Gefahr ausgesetzt. Der Tod von einigen im Rachen dieses furchtbaren Mannes war nicht geplant gewesen und hatte sie für viele Tage trauern lassen. Jetzt noch spürte sie die Schuldgefühle in sich. Doch sie musste unbedingt wissen, ob sie in Gefahr war. Ihre Freundinnen würden das verstehen.

       *

      Amalie Ahrendt war frustriert.

      Inzwischen hatte sie fast alle Mädchen befragt, und auch diese hatten ihr keine Hinweise geben können. Nur dass der Kinderschänder offensichtlich drei weitere Kinder gequält hatte.

      Wieder betrat ein Mädchen das Zimmer. Es war schlank und ausgesprochen hübsch mit dunkelbraunen langen Locken.

      „Wie heißt du?“

      „Lisa.“

      Amalie wiederholte ihre Fragen und war nicht froh zu hören, dass Lisa ebenfalls geschändet worden war. Doch als sie nachfragte, wie oft der Mann sich an der Kleinen vergriffen hatte, erfuhr sie, dass es nur einmal gewesen war.

      „Warum hat er es nicht öfter getan?“

      „Ich weiß nicht. Selina sagte, dass er es nie wieder tun wird. Und dann ist er gestorben.“

      Amalie durchfuhr es eiskalt und sie warf einen Blick auf die Namensliste. Noch drei Mädchen standen dort zur Befragung. Eines davon war Selina Serra.

      „Deine Freundin, Selina, mag sie Spinnen?“

      „Ja, ich glaube schon.“

      „Weißt du von Janinas Spinnenträumen?“

      „Das waren keine Träume“, lächelte Lisa mit entrücktem Blick. „Selina sagt, sie waren da.“

      Mehr brauchte Amalie Ahrendt nicht zu wissen.

      „Du kannst gehen, Lisa.“

      Kaum hatte das Mädchen das Zimmer verlassen, da räusperte sich eine der Frauen.

      „Vollstreckerin!“ Ihre Stimme klang angestrengt. „Etwas stimmt hier nicht. Irgendetwas ist in diesem Raum. Etwas Fremdes, und es scheint überall zu sein.“

      Amalie Ahrendt schloss die Augen und nickte langsam.

      Ja, sie spürte es jetzt auch. Man konnte es kaum wahrnehmen, aber es lag fein und federleicht in der Luft. Das war keine Hexenmagie. Jedenfalls keine, die sie kannte. Doch irgendetwas Magisches war am Werk.

      „Zeig sie uns“, verlangte sie.

      Die Sucherin hob die Augen und murmelte einige Worte, während ihre Arme einen großen Bogen beschrieben.

      Urplötzlich wurde es heller im Raum und alle rissen erstaunt die Augen auf. Nur Heimleiterin Löw sah nicht, was die Frauen in Schrecken versetzte.

      Silbern glänzende Fäden spannten sich über die Wände, die Decke und quer durch den Raum. Sie glitzerten und schwebten wie Seide. Unwirklich, zart und strahlend silbern.

      „Heilige Mutter“, flüsterte Amalie und bekreuzigte sich unwillkürlich. „Es ist also wahr. Es gibt sie wirklich.“

      „Was ist das?“ Ihre Assistentin klang leicht panisch. „So etwas habe ich noch nie gesehen!“

      „Ich auch nicht“, antwortete die Vollstreckerin leise. „Kein Lebender hat dies erblickt. Das ist Spinnenmagie. Schwarze Magie. Wir müssen dieses Kind finden. Sofort! Sucht sie. Sie ist hier im Haus!“

      Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, da zerfiel das Gespinst in winzige Funken und verblasste.

      „Eilt euch“, drängte Amalie und stürmte zur Tür. „Sie ist gewarnt.“

       *

      Selina keuchte und umschlang panisch ihre Knie. Noch nie hatte sie ihre eigenen Kräfte gesehen. Und zum ersten Mal hatte sie erfahren, dass es auch andere Menschen gab, die seltsame Kräfte besaßen. Die Worte dieser finster blickenden Frau hatten sich tief in sie eingebrannt.

      Spinnenmagie. Schwarze Magie. Das klang böse.

      War sie böse? Doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Diese Frauen suchten sie, und sie sahen nicht freundlich aus.

      Doch wo sollte sie hin?

      Bebend kauerte sie sich hinter das große Regal, tief in eine dunkle Spalte gequetscht. Sie versuchte, zu verschwinden. Unsichtbar zu werden. Alle Gedanken und Gefühle aus sich zu verbannen. Nicht existent zu sein. Doch einen winzigen Funken Angst wurde sie nicht los. Er flackerte leise, tief in ihrem Innern, und verriet sie.

      „Hallo Spinnenkind.“

      Die Stimme ließ sie zusammenzucken, und sie versuchte, noch kleiner zu werden. Dann erst registrierte sie, dass ein Mann gesprochen hatte. Zaghaft hob sie den Blick und versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen.

      Eine dunkle Gestalt hockte vor ihr und ein blaues Augenpaar leuchtete seltsam schillernd auf sie hinunter.

      „Es war nicht einfach, dich zu finden, und ich muss zugeben, dass ich beinahe zu spät gekommen wäre.“

      „Wer, – wer bist du?“, flüsterte sie kaum hörbar.

      Angst wallte wieder in ihr hoch. Die Männerstimme klang sanft, doch die Augen blickten kalt und wachsam.

      „Hm, möglicherweise dein Retter. Aber das wirst du selbst entscheiden müssen.“

      „Wie meinst du das?“

      Immer noch wagte sie es nicht, lauter zu reden. Von ferne vernahm sie aufgeregte Stimmen, die stetig näher kamen.

      „Nun, zurzeit hast du zwei Möglichkeiten. Die eine ist, hier sitzen zu bleiben und zu warten, bis die Hexenweiber dich gefunden haben. Das werden sie vermutlich in wenigen Minuten schaffen. Die Alternative wäre, mit mir zu gehen.“

      In Selina schwirrte es. Hatte er wirklich Hexen gesagt?

      „Was wollen die – Hexen von mir?“

      Er lachte leise.

      „Genau kann ich dir das natürlich nicht sagen. Aber so wie ich sie kenne, werden sie zunächst versuchen, alles über deine Magie herauszufinden. Dann werden sie dich vermutlich töten.“

      In Selina breitete sich Kälte aus. War das Todesangst? Sie wusste es nicht, doch es fühlte sich furchtbar an.

      „Warum?“, flüsterte sie.

      „Weil sie dich fürchten.“ Sie hörte eine Spur Heiterkeit in seiner Stimme. „Sie fürchten deine Magie, Spinnenmädchen.“

      „Warum nennst du mich so?“

      Wieder lachte er.

      „Weil du eines bist. Doch jetzt ist, glaube ich, wenig Zeit, um Fragen zu beantworten. Du musst dich entscheiden. Sobald die Hexen hier eintreten, werde ich gehen. Wir mögen uns nicht besonders und ich habe kein Interesse daran, mich mit ihnen zu streiten. Das ist nur lästig.“

      Die Stimmen waren inzwischen laut, und einige Worte waren gut zu verstehen.

      Er hielt ihr seine Hand hin.

      „Wenn du mit mir gehen willst, dann gib mir deine Hand.“

      Die Tür wurde aufgestoßen und Selina hielt unwillkürlich die Luft an.

      „Sie ist hier.“

      Eine Frauenstimme klang warnend auf.

      „Licht!“

      Amalie Ahrendts Stimme peitschte durch den Raum. Im selben Moment streckte Selina den Arm aus und griff nach dem Mann. Als der Raum in hellem Licht erstrahlte, spürte sie, wie sie vorwärts gerissen wurde und an einen harten Körper prallte. Zwei starke