Ana Marna

Seelenfresserin


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      Amalie Ahrendt stand wütend mitten im Kellerraum und ließ die Frauen jede Kiste umdrehen und jeden Spalt untersuchen.

      Doch kein Mädchen war zu finden. Nur der Rest seiner silbrigen, klebrigen Magie hing noch in der Luft und verriet, wo es sich versteckt hatte. Doch wie war es entkommen?

      Sie hatten nur einen dunklen Schatten gesehen, der für Sekundenbruchteile vor dem Versteck gestanden hatte. Dann war er schon verschwunden.

      Auch hier spürte sie noch Magie nachklingen. Keine Spinnenmagie, doch der Hexenmagie sehr ähnlich. Ein weiterer Grund, sich Sorgen zu machen. Bisher war ihr nur reine Hexenmagie untergekommen und an diesem Tag gleich zwei fremde Magieformen.

      Mit einem leisen Fluch wandte sie sich an Nadin Hofstetter.

      „Ich weiß nicht, wie dieses Kind entkommen konnte, vielleicht hat ihm jemand geholfen. Wir müssen auf jeden Fall eine offizielle Warnung herausgeben. Das Mädchen hat bereits einmal getötet und ist gefährlich.“

      „Immerhin hat es nicht den Falschen getroffen“, murmelte Nadin leise und erntete einen bösen Blick.

      „Mir ist durchaus klar, dass dieser Erzieher den Tod verdient hat. Doch eine solche Entscheidung darf keinesfalls von einer Zwölfjährigen getroffen werden. Wer einmal tötet, tut es vermutlich wieder, und dann kann es die falsche Person treffen. Ich werde den oberen Zirkel benachrichtigen. Sie müssen wissen, dass Spinnenmagie existiert und keine Legende ist. Du kümmerst dich um die geschändeten Mädchen. Sorg dafür, dass sie der Heimleiterin von ihren Erlebnissen berichten. Das ist das Mindeste, was wir für sie tun können.“

      Nadin Hofstetter nickte mit gesenktem Blick. Der Tadel ihrer Chefin war zwar berechtigt, doch trotzdem war es ein gutes Gefühl zu wissen, dass dieser pädophile Erzieher für seine Taten gestraft worden war.

       Karpaten, Rumänien

      Zitternd schmiegte sich Selina in die fremden Arme und presste die Augen zusammen.

      Die amüsierte Stimme ließ sie zusammenzucken.

      „Du kannst die Augen wieder öffnen, Spinnenmädchen. Die Hexen können dir nichts mehr antun.“

      Vorsichtig hob sie den Kopf und sah sich um.

      Der Ort, an dem sie sich befanden, wirkte seltsam fremd.

      Sie standen in einem riesigen Raum, dessen Wände mindestens fünf Meter hoch waren und von großen Bücherregalen belegt wurden. Noch nie hatte sie so viele Bücher auf einmal gesehen. In dem Zimmer standen unzählige Tische, Stühle und Ablagen, die ebenfalls mit Büchern, Zeichnungen, Papier und Stiften bedeckt waren.

      Dies war ein Zimmer in dem gelernt und gearbeitet wurde.

      Selina gefiel es sofort.

      Sie hob die Augen und sah in das Gesicht ihres Retters. Er hielt sie immer noch umschlungen und erwiderte ihren Blick mit einem spöttischen Lächeln.

      „Es gefällt dir hier“, stellte er fest.

      Sie nickte, ohne zu zögern.

      „Ja. Du kannst auch hexen!“ Die Erkenntnis ließ sie schlucken. Immerhin schien er nicht zu diesen unheimlichen Frauen zu gehören. Aber jetzt, wo die Gefahr vor den Hexen zunächst gebannt schien, spürte sie deutlich, dass von diesem Mann vor ihr ebenso Gefahr ausging.

      Er lachte leise und schob sie ein Stückchen von sich fort, bevor er antwortete.

      „Stimmt.“

      „Bist du ein Hexer?“

      „Nein, Spinnenmädchen. Es gibt nur Hexenfrauen.“

      „Und warum haben die Angst vor mir?“

      „Weil du Teil der Spinnenmagie bist, Spinnenmädchen.“

      „Aber was ist daran schlimm?“

      Wieder lachte er leise.

      „Ganz einfach. Spinnenmagie ist Todesmagie. Ich vermute mal, dass sie die tödlichste Form der Magie ist, die jemals auf diesem Planeten existiert hat.“

      Selinas Augen wurden weit. Furcht erfasste sie. Also hatten die Hexen doch recht? Waren ihre Fähigkeiten schwarze Magie? Böse?

      „Aber – du hast doch keine Angst“, wagte sie einzuwenden.

      „Das habe ich nicht gesagt“, lächelte er. „Vielleicht reagiere ich nicht ganz so panisch, wie die Hexenweiber, aber auch ich habe großen Respekt vor deiner Magie. – Du hast bereits getötet.“

      Sie zuckte schuldbewusst zusammen, nickte aber.

      „Erzähl mir davon.“

      Selina betrachtete ihren Retter genauer. Konnte sie ihm trauen? Er war schlank, hochgewachsen und hatte genauso schwarze, dichte Haare wie sie, nur dass diese ordentlich und kurzgeschnitten waren. Gekleidet war er in ein schwarzes Hemd und eine schwarze Jeans. Er sah gut aus, doch seine blauen Augen machten ihr Angst. Sie blickten kühl und ohne Freundlichkeit.

      „Bist du ein Freund?“, fragte sie leise. Die Antwort gefiel ihr nicht.

      „Nein, Spinnenmädchen. Das bin ich nicht. Aber ich bin auch nicht dein Feind. Noch nicht, jedenfalls. Das wird natürlich ein wenig davon abhängen, wie du dich entscheidest. Was für einen Weg du einschlagen wirst. Im Moment darfst du dich als meinen Gast betrachten. Doch ich muss dich warnen. Alles hat seinen Preis.“

      „Ich – ich habe kein Geld.“

      Besorgt kaute sie auf ihrer Lippe herum und überlegte, was sie ihrem unheimlichen Gastgeber anbieten konnte.

      „Ich verlange kein Geld“, lächelte er. „Mein Preis ist höher. Doch darüber reden wir später. Jetzt erzählst du mir, wen und warum du getötet hast.“

      Selina sah keinen anderen Ausweg, als ihm zu gehorchen. Flucht schien kaum möglich. Sie wusste nicht, wo sie war und daher auch nicht, wo sie hinkonnte. Und in seinen Augen las sie eine unausgesprochene Warnung. Er würde sie nicht gehen lassen, da war sie sich sicher.

      Also fügte sie sich und erzählte mit stockender Stimme von Arno Stadtfeld. Er lauschte aufmerksam, ohne sie loszulassen, und stellte ab und zu ein paar Zwischenfragen. Schließlich blickte er nachdenklich auf sie hinunter.

      „War es falsch, ihn zu töten?“

      Ihre Frage schwang besorgt im Raum.

      „Was sagt dir dein Gefühl?“

      „Ich – bin mir nicht sicher. Er hat Lisa und den anderen Mädchen sehr wehgetan. Und er hätte nicht damit aufgehört. Das weiß ich, denn ich hab es in seinen Augen gesehen. Lisa war froh, als er tot war, aber ich ... Froh war ich nicht, doch auch nicht traurig. Ich habe nur um meine Freundinnen getrauert. – Bin ich jetzt böse?“

      Er hob die Schultern.

      „Jeder versteht unter böse etwas anderes. Ich für meinen Teil denke, dass die Welt ohne Arno Stadtfeld eine angenehmere ist. Andere sehen es vielleicht nicht so. Die Hexen sind immer parteiisch. Männer mögen sie per se nicht, und Männer, die kleine Mädchen schänden, stehen auf ihrer Hassskala ziemlich weit oben. Wärst du eine von ihnen, würden sie dich vermutlich für diese Tat feiern. Aber so bestätigst du natürlich nur ihre Furcht. Weißt du, warum sie auf dich aufmerksam wurden?“

      Sie überlegte.

      „Wegen dem Vorfall im Insektarium?“

      Er nickte.

      „Genau. Du hast einen unverzeihlichen Fehler begangen, Spinnenmädchen. Magie in aller Öffentlichkeit zu wirken, ruft sofort die Hexen auf den Plan. Jetzt wo sie wissen, dass es dich gibt, werden sie nach dir suchen. Und zwar so lange, bis sie dich gefunden haben. Sie haben da einen sehr langen Atem.“

      „Und – und wenn ich es nie mehr tue?“

      Leise Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit. Er lachte.

      „Das