Ana Marna

Seelenfresserin


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mal, dass du wenig Interesse hast, die nähere Bekanntschaft mit Amalie Ahrendt, Vollstreckerin der siebten Stufe zu schließen. Soweit ich weiß, ist sie immer noch auf der Suche nach dir. Die Vereinigten Staaten sind zumindest nicht in der direkten Nachbarschaft.“

      „Du hast gesagt, dass sie mich weltweit suchen“, erinnerte sie ihn.

      „Stimmt, Spinnenkind, aber da ich mich zur Zeit öfters auf diesem Kontinent aufhalte, fand ich es passend“, lächelte er und drehte sie wieder zu sich.

      „Die Wohnung gehört dir. Mach damit, was immer du willst. Auf dem Schreibtisch findest du alles, was du brauchst: Ausweise, Zeugnisse, Sozialversicherungs-Nummer und Kontodaten.“

      Sie sah unwillkürlich hin, doch er drehte ihren Kopf wieder zu sich, und seine blauen Augen nahmen sie gefangen.

      „Selina Serra, ich entlasse dich jetzt in dein eigenes Leben. Deine Ausbildung ist abgeschlossen, die Schonzeit vorbei. Ab jetzt bist du für dich selbst verantwortlich. Erwarte nicht, dass ich dir aus selbstverursachten Schwierigkeiten helfe. Beweise mir erst, dass die Jahre, die ich in dich investiert habe, nicht umsonst waren. Ich habe dir alles beigebracht, was du in den beiden Welten zum Überleben wissen musst. Nutze dieses Wissen gut. Und vermeide es, mich zu verärgern. Dein Welpenschutz ist vorbei.“

      Er küsste sie und forderte ihr Blut.

      Selina schmiegte sich in seine Arme und fügte sich, wie sie es all die Jahre getan hatte.

      Als er plötzlich verschwunden war, atmete sie tief durch und sah sich erneut um.

      Wieder betrat sie ein neues Leben. Doch dieses Mal konnte sie zum ersten Mal selbst entscheiden, was sie tun wollte.

      Und das war ein wirklich gutes Gefühl!

      Dienstag, 5. Juli 2011

       Glansville, Arkansas

      In der Bibliothek des Arkansas-Hauses in Glansville herrschte wie immer nahezu absolute Stille. Der Bibliothekssaal war der größte Raum in der Wohnanlage und zugestellt mit Bücherregalen, Arbeitstischen und mehreren Computerkonsolen.

      Marie-Sophie Levine liebte diese Stille. Dies war der einzige Raum im Haus, in dem man ungestört war. Selbst wenn man aus Versehen ein lauteres Geräusch erzeugte, wurde es verschluckt von dem leichten Zauber, der in der Luft schwebte.

      Konzentriert scrollte sie die Dateien über den Bildschirm und machte sich ab und zu Notizen. Dies war ihre heilige Zeit. Die Zeit, in der sie das tun konnte, was sie interessierte. Zwei Stunden standen ihr dafür zu und sie ließ sie nach Möglichkeit nicht ungenutzt. Entweder sie saß hier in der Bibliothek zum Recherchieren, oder sie stand in dem hauseigenen Forschungslabor an ihrem winzigen Arbeitsplatz.

      Für den Platz hatte sie hart kämpfen müssen, was eigentlich nicht in ihrer Natur lag. Doch in diesem Fall war sie über ihren Schatten gesprungen und hatte sich durchgesetzt. Und sie würde beinahe alles tun, um ihn zu behalten.

      Seufzend strich sie sich die blonden Locken aus dem Gesicht. Marie-Sophie war eine hübsche junge Frau Anfang zwanzig mit verträumt blickenden, grauen Augen. Niemand bestritt, dass sie gescheit war, fleißig und zuverlässig. Doch sie hatte schon früh feststellen müssen, dass dies in der Hexenwelt nicht zählte. Wichtiger war, wie groß das magische Talent war, und vor allem, ob dieses Talent in einem Bereich lag, der dem Hexenhaus von möglichst großem Nutzen war.

      Und genau Letzteres war Marie-Sophies Problem.

      Sie war gescheit und hatte auch magisches Talent, doch dummerweise lag es in der Heilkunst.

      Zwar wurde diese gebraucht und gerne genutzt, doch das Ansehen der heilkundigen Hexen befand sich im untersten Bereich des Rankings. Dazu kam, dass Marie-Sophies Interesse eher der Forschung galt. Und Forschung im medizinischen Bereich lag mit Abstand in der untersten Kategorie der Akzeptanz. Zumindest in diesem Hexenhaus.

      Drei Jahre hatte sie bei Hexe Pearce die Heilkunst erlernt. Dies war die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen. Doch dann ging es mit ihrer Berufslaufbahn steil bergab.

      Da Marie-Sophie nie verheimlicht hatte, dass sie gerne forschen würde, hatte Hexe Pearce das andere Lehrmädchen bevorzugt. Marie-Sophie war somit überflüssig, und da in den umliegenden Hexenhäusern zurzeit niemand auf der Suche nach einer Heilkundigen war, war sie gezwungen, jeden Job zu erledigen, den man ihr zuwies. Das reichte von Schreibarbeiten, über Handlangerdienste im Haushalt, bis hin zu Recherche-Arbeiten. Nichts davon war spannend oder forderte ihre Fähigkeiten.

      Immerhin gestattete man ihr den hart erkämpften Arbeitsplatz im Forschungsbereich. Sprich: ein winziger Schreibtisch und ein genauso kleiner Labortisch mit dem dazugehörigen Regalabschnitt.

      Marie-Sophie war nicht undankbar. Das Haus sorgte für sie und warf sie nicht einfach in die Menschenwelt, wo sie sich irgendwie hätte durchschlagen müssen. Also fand sie sich damit ab, dass sie nur zwei Stunden am Tag ihrer Leidenschaft nachgehen konnte: Der Suche nach Heilmitteln. Sie fand es faszinierend, dass es Sekrete in der Tier- und Pflanzenwelt gab, die einerseits tödlich waren und trotzdem auch heilende Wirkung zeigten.

      Noch war sie auf der Suche nach einer interessanten Substanz. Einer, der sie auf den Grund gehen wollte. Inzwischen hatte sie alle Bücher dieser Bibliothek durchforstet und arbeitete sich jetzt durch das Internet. Doch der Zugang zu anderen Bibliotheken war umständlich und der zu entsprechenden Büchern sehr zeitraubend.

      Sie sah auf die Uhr und fuhr den Computer seufzend herunter. Ihre Zeit war um. Gleich würde sie ins Büro von Oberhexe Deleon gehen und einen Stapel Akten abheften müssen.

      Die alte Hexe arbeitete immer noch mit Papier und konnte Computern nichts abgewinnen.

      Marie-Sophie fand das eher süß. Die meisten alten Hexen hatten sich dazu durchgerungen, die technischen Neuerungen zu nutzen, doch Oberhexe Deleon weigerte sich strikt. Ihre Beraterin schimpfte häufig hinter ihrem Rücken, da sie sämtliche Daten, Mails und Bilder immer in Papierform anschleppen musste. Das hieß nur unnütze Zeit verschwenden mit kopieren und archivieren.

      Marie-Sophie war diese Verschwendung dagegen recht. Beim Sortieren des Papierkrams konnte sie immer wieder einen Blick auf interessante Nachrichten und Bilder erhaschen, die sie sonst nie zu Gesicht bekommen hätte.

      Nie im Leben wäre sie auf die Idee gekommen, über diese Informationen zu reden. Doch sie sah die heimlichen Einblicke in die Welt der Oberhexen als kleine Entschädigung dafür an, dass sie ihrer eigenen Berufung nicht nachgehen durfte.

      Sie stand auf und ergriff ihre Notizen. Vielleicht hatte sie ja Glück und sah auch heute etwas Spannendes auf dem Schreibtisch von Oberhexe Deleon.

      Doch dieses Mal hatte sie Pech. Auf dem Tisch der Oberhexe lagen nur einige Zettel, die alles andere als fesselnd aussahen, und innerhalb weniger Minuten hatte Marie-Sophie ihre Arbeit erledigt.

      Gerade als sie den letzten Ordner in den Schrank schob, betrat Oberhexe Deleon den Raum.

      „Hallo, Marie-Sophie.“

      Ihre Stimme war kratzig und tief. Sie klang freundlich und ihre runzlige Haut, sowie ihre gebeugte Haltung verrieten ihr hohes Alter. Doch wer glaubte, eine gebrechliche und harmlose Frau vor sich zu haben, täuschte sich gewaltig. Marie-Sophie hatte einmal erlebt, wie die Oberhexe drei gestandene Hexen in Grund und Boden geschrien hatte. Die drei waren für ihre Härte und Fähigkeiten bekannt, doch gegen Oberhexe Deleon hatten sie ziemlich blass ausgesehen. Damals hatte sie sich vorgenommen, ihre Chefin niemals zu verärgern.

      „Guten Abend, Oberhexe Deleon.“

      Marie-Sophie schloss die Schranktür und wandte sich zum Gehen.

      „Nun mal langsam, junge Hexe.“

      Die Oberhexe winkte sie zu sich heran, während sie auf den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch sank.

      „Mir ist zu Ohren gekommen, dass du die Universitäts-Bibliothek in Little Rock aufsuchen willst. Gibt es dafür wichtige Gründe?“

      Marie-Sophie