Ben Knüller

Absurd


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Erklärung für diese absurde Situation: er träumte. Ja, eigentlich lag er in seinem kuscheligen Bettchen, in das er nach seinem Besuch beim Bäcker gefallen war. Angespornt von diesem zweifelhaften Selbstvertrauen, baute sich Seth vor dem Pumps auf und maßte sich ein smartes Lächeln an. „Hört mal, ihr laufenden, schlechten Witze. Wir sind hier nicht in irgendeiner Geschichte von Stephen King, also packt euch wieder von alleine ein und wartet auf eure Herrin!“

      Das löste bei den Schuhen tatsächlich so etwas wie überraschte Stille aus. Sie starrten ihn an (oder taten sie es nicht? Wo, zum Teufel, waren ihre Augen?) und schwiegen lange. Seth fühlte sich ein wenig gestärkt und fuhr fort: „Ich hab ein Bier im Wohnzimmer zu stehen, und ich würde es jetzt gerne trinken, Traum hin oder her. Also wenn ihr nicht in eure Schachteln wollte, muss ich…“

      „Schweig!“, schrie eine bis dato unbekannte Stimme, und Seth zuckte unter der tiefen Tonlage dieses Wortes tatsächlich zusammen. Ein paar stille Sekunden später wurde die oberste Schranktür (in der Seth und Lisa unwichtige Dinge wie Geschenke ihrer jeweiligen Eltern verstauten) aufgeworfen und ein greller Lichtstrahl erfasste ihn wie der Scheinwerfer eines nahenden Autos. Als er sich langsam an das gleißende Licht gewöhnte, konnte er seinen Augen nicht trauen.

      Da stand eine Sandale – ja, eine Sandale – und sah auf ihn hinab. Sie leuchtete wie ein Glühwürmchen und schien das Licht im Raum auf sich zu ziehen. Seth konnte sich nicht erinnern, in das oberste Fach jemals seine Sandalen getan zu haben. Es waren die Sandalen, die er bei einer Reise nach Italien eher aus Scherz gekauft hatte.

      „Du elender Mensch!“, sagte die Sandale. Die Stimme erinnerte Seth an das tiefe Gebrumme von Louis Armstrong. „Du spottest über uns, doch dabei bist du selbst der Verspottete!“

      „Was… aber… nein! Du bist nur eine Sandale!“

      „Mach dich nicht über unseren Herrn lustig!“, rief ihm der Pumps zu und trat ihm auf den Fuß. Seth schrie auf vor Schmerz (der Absatz hatte sich in seinen großen Zeh gebohrt) und fiel der Länge nach rückwärts auf sein Bett. Dort blieb er gelähmt liegen und sah demütig zu der leuchtenden Sandale auf, die inmitten von altem Geschenkpapier und ungeliebten Geschenken aussah wie der Gott einer grotesken Kultur von Dingen, die nicht atmen konnten.

      „Du hast einen der unseren getötet!“, sagte die Sandale. „Du hast ihn qualvoll in seinem Zuhause verbrannt, ohne dass er hätte flüchten können! Seine Schmerzensschreie waren laut und qualvoll.“

      Seth stotterte. „I-ich weiß nicht was ihr meint! Ich habe geschlafen und war beim Bäcker!“

      Die Sandale nickte – irgendwie! -, worauf zwei alte schwarze Herrenschuhe, die Seth nur ungern bei festlichen Anlässen trug, unter dem Bett hervorkamen und eine Kiste hinter sich her zogen. Auf dem Deckel war krumm und schief ein Kreuz gemalt, sowie das heutige Datum. Sie stellten die Kiste so ab, dass Seth sie problemlos im Liegen sehen konnte, und schlichen wieder unter das Bett.

      „Öffne die Schachtel.“, sagte die Sandale.

      Seth zögerte und biss sich auf die Lippen.

      „Öffne die Schachtel!“

      Er beugte sich nach vorne und zog den Deckel im Sitzen von dem Karton. Ein beißender Gestank von verbranntem Leder stieg ihm in die Nase. Die neuen Schuhe seiner Freundin lagen darin. Die, die er heute Morgen sadistisch verbrannt hatte. Nun waren sie nicht viel mehr als schwarze Kohlen, die auseinander fielen. Irgendjemand hatte das Innere mit rotem Samt geschmückt. Das reichte, um Seth wieder Mut zu schenken. Die Sache wurde ihm langsam wirklich zu blöde.

      „Siehst du, was du getan hast?“, fragte die Sandale ihn. Die anderen Schuhe – der Pumps und die Hausschuhe – zischten ihm Flüche entgegen.

      „Ja, oh Herr!“, antwortete Seth, nicht ganz ernst. „Ich habe ein Paar Schuhe verbrannt. Ich gebe es zu! Was wollt ihr nun mit mir machen? Meine Füße vergewaltigen?“

      Das erzeugte erneut unheilvolle Stille, gefolgt von bösem Getuschel. Man konnte hören, wie sich andere Schuhe (das „Fußvolk“, dachte Seth amüsiert) im Schrank unterhielten, während das Papier ihrer Schuhkartons leise raschelte.

      „Möchtest du wirklich diesen Weg einschlagen, mein Sohn?“, fragte die Sandale mit einer Spur von Trauer. „Möchtest du den Pfad der Schande betreten?“

      Seth lachte humorlos. „Ich rotz dir gleich in die Sohle, du Penner!“

      Die Sandale drehte sich langsam von rechts nach links. „Nun denn. So soll es sein.“

      Seth malte sich bereits aus, wie er das ganze, verfluchte Schlafzimmer mit Benzin bespritzen würde, als ganz oben auf dem Schrank, aus der düsteren Düsternis, zwei Schlittschuhe – Lisas Schlittschuhe – heraustraten. Ihre Kufen funkelten im Licht der hereinfallenden Sonne, als hätten sie sich tatsächlich für diesen Anlass irgendwo schleifen lassen. Dann sprangen sie auf ihn zu, die messerscharfe Seite auf seinen erbärmlichen Menschenkopf gerichtet. Seth erwischte seinen Hodensack dabei, wie er auf minimale Größe schrumpfte.

      Er wich dem ersten Schuh ohne Mühe aus, doch der zweite beschrieb eine Kurve in der Luft und erwischte Seths Wange. Das Eisen riss ein bisschen Fleisch weg und hinterließ eine gerade rote Linie. Mit etwas Pech würde das eine Narbe werden.

      Die Schlittschuhe fielen zu Boden, überschlugen sich ein paar Mal und blieben dann reglos liegen. Seth wünschte sich verzweifelt, endlich aufzuwachen, als er im Augenwinkel sah, wie der Pumps pfeilgerade auf ihn zugeflogen kam. Seth war zu langsam. Der Pfennigabsatz erwischte ihn genau unter dem Knie. Es war keine atemberaubend tiefe Wunde (der Absatz war einfach zu stumpf), aber es tat höllisch weh und würde mindestens einen lila Fleck nach sich ziehen.

      Aber damit nicht genug. Seine kuscheligen Hausschuhe kamen angepoltert wie zwei zu klein geratene Braunbären und flogen ihm ins Gesicht. Es fühlte sich an wie eine schallende Ohrfeige. Erneut wäre Seth beinahe umgefallen, konnte sich aber auf den Beinen halten. Als die Hausschuhe erneut zum Angriff ansetzten, fing er einen in der Luft ab und warf ihn geradewegs aus dem offenen Fenster. Dabei schrie er. Der Schuh schrie!

      „Tötet den Mann!“, sagte der andere, verbliebene Hausschuh trocken und kam auf ihn zugeflogen. Seth war zu langsam, diesmal wurde er mit einem Schlag auf die Nase gestraft. Aus seinem Mund kam ein wütendes Winseln, er drehte sich zum Schrank, um das Oberhaupt, diese verfluchte Sandale, an sich zu reißen und in Stücke zu fetzen, als er den reinen Horror sah: aus dem Schrank kam eine Armee von Flip-Flops, jeweils seine und Lisas, ehemals Freunde an heißen Tagen. Doch nun glichen sie wilden Bestien, knurrten und hechelten, kamen direkt auf ihn zu. Ihre Schritte klangen wie Regen, der auf eine Plane tröpfelt. Und bevor er sich versah, klebten bereits einige wie Saugnäpfe an seinem Bein. Wilde Blutegel, in vielen verschiedenen Farben.

      „Lasst mich in Ruhe!“, rief er panisch und schüttelte sein Bein. Das andere nutzte er indes, um zur Schlafzimmertür zu hüpfen. Er musste hier raus. So schnell wie möglich.

      Aus dem Schrank strömten immer noch Schuhe, kleine und große, schwarze und bunte. Er sah Lisas Ballettschuhe, elegant eine Pirouette schlagend; sah seine grünen Gummistiefel, brüllend und ungezähmt wie wilde Nilpferde. Sie traten ihn in den Hintern, gegen das Schienbein, manche flogen gegen seine Brust und gegen seinen Kopf. Er schüttelte sie ab, wedelte wild mit den Armen und flog förmlich aus dem Zimmer. Er warf die Tür zu, drehte den Schlüssel, schloss sie ab. Die Schuhe schlugen dagegen. Bei den kleinen, leichten Dingern ertönte nur ein leises Plätschern, aber die großen Straßenschuhe knallten dagegen, dass es nur so wackelte.

      Sein Kopf sagte ihm immer noch, dass das alles gar nicht passieren konnte, passieren durfte. Seinen Beinen war das relativ egal. Sie hasteten zur Wohnungstür. Kurz davor blieb er stehen und warf einen unsicheren Blick zurück. Einer der Schuhe rammte die Tür so sehr, das ein kleiner Riss entstand, der mit jeder Sekunde größer wurde. Er hörte Schreie, Flüche und empörtes Geplapper.

      „Grundgütiger...“, murmelte er, öffnete die Wohnungstür und rannte ins Treppenhaus. Er nahm vier bis fünf Stufen auf einmal, wäre mehrfach beinahe ausgerutscht und blieb plötzlich stehen. Bisher hatte er nichts dagegen gehabt,