Ben Knüller

Absurd


Скачать книгу

fast farblose Outfit eines normalen Bahnangestellten, dazu passend eine kleine Schaffner-Mütze. Nähte zwischen der Mütze und der Stirn lassen erahnen, dass die Mütze angenäht wurde. An seiner Brust hängt ein kaputtes Namensschild mit fehlenden Buchstaben: etlef Ko wal ky steht dort.

      Robert ist außer sich. „Sagen Sie bloß, der lebt da drin! Das ist doch gegen alle Menschenrechte dieser Welt!“

      „Ja, dieser Welt!“, sagt Zifer mit erhobenem Zeigefinger. „Außerdem interessieren wir Bahnangestellten uns nicht sonderlich für die Menschenrechte. Oder was sagst du dazu, Toro?“

       „Chaos!“, schreit der kleine Mann und spuckt dabei einen gefühlten Liter Wasser auf den Boden.

      Zifer tätschelt Toros Schulter. „Sie sehen, Toro ist ein gewissenhafter Angestellter. Wenn wir mal Probleme mit Leuten wie Ihnen haben, oder anderen Subjekten, die die Faszination Bahn nicht begreifen wollen, dann schicken wir Toro und alles wird wieder gut. Nicht wahr, Toro?“

      „Chaos!“

      Robert ist inzwischen zu einem Häufchen Elend geworden, das zusammengekauert auf seinem Stuhl hockt. Seine Nackenhaare stehen zu Berge, und es fehlt nicht mehr viel, bis er sich in die Hose machen würde. Ob groß oder klein, das hängt ganz allein von Toro ab. „W-W…“, stottert er. „W-Warum nennen Sie ihn denn bloß Toro?“

      Zifer lächelt wie ein Mann, der an eine schöne Begebenheit aus seiner Vergangenheit erinnert wird. „Nun, Toro hat eine ganz spezielle Art, seine natürlichen Feinde – Sie, unter anderem – zu bekämpfen. Er drängt sie in eine Ecke, dann nimmt er Anlauf und stürmt mit seinem Kopf voran. Mich erinnert das an einen Stier, und Toro gefällt dieser Name auch, oder?“

      „Chaos!“, schreit Toro und fängt an, gefährlich mit seinen kurzen, dicken Armen hin und her zu schaukeln. Er sieht aus wie ein Buchhalter, der sich die Tollwut eingefangen hat.

      „Du hast Hunger, oder Toro? Na los, geh spielen. Herr Hoffmann wartet schon.“

      „Was!?“, schreit Robert und klammert sich an seinem Stuhl fest. „Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein, ich… Oh mein Gott, was macht er denn da?“

      Toro hat sich kerzengerade aufgestellt. Aus seiner Brusttasche holt er eine kleine Trillerpfeife hervor und bläst ordnungsgemäß hinein. Es ist ein kurzer, intensiver Ton. Toro geht in gekrümmte Haltung und beginnt, die Geräusche einer startenden Lokomotive nachzuahmen. Das klingt unheimlich routiniert. Toro ist wirklich ein gewissenhafter Mitarbeiter.

      Robert springt auf. Mit zitternden Händen nimmt er den Stuhl und hält ihn hoch. Dabei sieht er aus wie ein Löwenbändiger in der Ausbildung. Toro scheint sich indes nichts aus dieser Abwehrhaltung zu machen. Er unterbricht sein Schnaufen und Pusten und springt aus dem Stand nach vorn. Robert schreit. Toro packt eines der Stuhlbeine und zieht. Die nervösen Finger von Robert sind machtlos. Der Stuhl fliegt durch die Gegend und zerschellt an der Wand in dutzende Einzelteile.

      „Lass mich in Ruhe, du Scheißding!“, schreit Robert mit bebender Stimme. In seiner unfassbaren Verzweiflung greift er in seine Hosentasche und bewirft Toro mit seinem Kleingeld. Das Zwei-Eurostück prallt an Toros Brillenglas ab, Toro stößt ein wütendes Röhren aus. Robert läuft rückwärts und stößt mit dem Rücken gegen die kalte Wand. Er ist gefangen. In die Ecke gedrängt.

      „So läuft das immer ab.“, sagt Zifer. Seine Stimme geht unter dem aggressiven Schnauben von Toro fast unter. „Aber ich muss zugeben, die Idee mit dem Kleingeld ist neu. Wie dem auch sei, ich hoffe, Sie haben endlich die Intensität ihres Fehlers begriffen, Herr Hoffmann! Sie sind nicht der erste und werden auch nicht der letzte sein, also nehmen sie es nicht allzu tragisch!“

      Toro krümmt sich wieder, den Kopf auf Robert gerichtet. Seine Halbglatze glänzt im Schein der Glühbirne. Er sieht einen Stier tatsächlich nicht unähnlich.

      „Nein!“, schreit Robert. Er kratzt an der Wand und bearbeitet sie mit Faustschlägen. Zifer wirft den Kopf in den Nacken und lacht hysterisch. Sein kleiner Schützling senkt den Kopf noch weiter, dann stürmt er los. Robert schreit und wirft sich zur Seite. Es gibt einen dumpfen, lauten Knall, als Toro seinen Kopf in der harten Steinwand vergräbt. Er steckt fest, seine Beine zappeln hin und her. Der Brustkorb hebt sich, als würden drei Herzen in diesem Körper schlagen. Ohne einen Gedanken zu verschwenden, greift Robert nach einem nahen Stuhl und zerschmettert ihn an Toros Rücken. Der gibt einen keifenden Schmerzlaut von sich und zappelt noch kräftiger.

      „Sie Ungeheuer!“, kreischt Zifer. „Was fällt Ihnen ein!“

      Robert wirft sich mit ausgestreckter Faust nach vorne. Er trifft Zifers linke Wange. Nur fühlt es sich nicht so an, als würde er einen Menschen schlagen. Und tatsächlich, der Kopf wird vom Rumpf gerissen, fliegt durch den halben Raum und trifft die Wand. Beim Aufprall ertönt ein zischender Laut, als würde man eine geschüttelte Dose öffnen. Dann löst sich der Kopf in schwarzem Rauch auf. Der restliche Körper Zifers fällt in sich zusammen.

      „Chaos!“, schreit Toro in die Wand hinein, wütender denn je. Der Putz bröckelt, man hört nach und nach Risse aufplatzen, dann löst sich ein Stück der Wand einfach auf. Toro fällt nach hinten, überschlägt sich und bleibt benommen liegen. Jetzt oder nie, denkt Robert. Er sieht hereinfallendes Licht und sputet zum kleinen Loch in der Wand. Mit der Faust vergrößert er es, dabei sind ihm die Schmerzen völlig egal. Er tritt hinaus und bemerkt einen Obdachlosen, der sich das Schauspiel stirnrunzelnd von seiner Bank aus ansieht. Der Obdachlose formt mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. Robert nickt und läuft davon.

      Nach einer Stunde Fußmarsch, die er nicht durch die Bahn abkürzen wollte, erreicht Robert sein Haus. Kevin fragt ihn tausend Fragen, aber Robert winkt lustlos ab. Er geht unter die Dusche, seift sich immer und immer wieder ein, bis er glaubt, all der Dreck und das Unbehagen sind von seinem Körper verschwunden. Als er aus dem Bad kommt, stellt Kevin seine Fragen nochmal. Wo warst du? Wo ist die Gurke? Willst du denn gar nicht mit mir sprechen?

      Egal. Mit ein paar Worten, die er aus sich herausquetschen muss, erklärt er seinem Mitbewohner, dass er – Robert – morgen vielleicht darüber reden wird. Er muss jetzt ins Bett. Sein Kopf arbeitet ohne Pause, aber sein Körper signalisiert alarmierende Schwäche. Er schließt die Tür seines kleinen Zimmers und stöhnt auf, als sein Rücken das Bett berührt. So liegt er da und betrachtet die Decke, will weinen, kann es aber nicht. Sein einziger, zusammenhängender Gedanke ist der, dass er sich in naher Zukunft ein Fahrrad kaufen wird. Die öffentlichen Verkehrsmittel hat er satt.

      Das Fenster ist offen. Robert glaubt, das abwechselnde Pusten und Schnaufen einer Lokomotive zu hören. Natürlich fährt in dieser Gegend keine Lokomotive mehr. Es wird eine schlaflose Nacht.

      Die merkwürdigen Experimente des Herrn Lautental

      Warum haben Menschen eigentlich keinen Schwanz?

      Dieser schwierigen Frage ging Herbert Lautental an diesem Sonntagmorgen mit einiger Konzentration nach. Er saß in seinem gemütlichen Sessel am Fenster, die Pfeife im Mund, die Finger der rechten Hand stützend gegen die Stirn gepresst. Er hatte Aussicht auf eine grüne Landschaft, die den Frühling in all seiner Schönheit präsentierte. Doch bemerkte er diese Schönheit gar nicht. Seine Gedanken waren viel zu sehr mit dieser einen Frage beschäftigt: Wieso, zum Teufel nochmal, haben die Menschen keinen Schwanz?

      Erstmals war ihm dieser nagende Gedanke vorige Woche in den Kopf geschossen, als er zum Abendmahl bei Baron Bockschuss eingeladen war. Die Villa Bockschuss lag abseits des Dorfes auf einem kleinen Hügel, und von Lautentals bescheidenem Haus aus musste man quer durch das Dorf wandern. Er war kein Mensch, der große Gesellschaft bevorzugte, und dadurch kam es erstaunlich selten vor, dass er überhaupt einen Schritt in die Zivilisation tat, wenn es nicht unbedingt nötig war. Seine Speisen besorgte ihm ein dummer Bauerntölpel namens Fritz, dessen einzige Bezahlung aus einer blinkenden Münze bestand. Häufig gab Lautental ihm nicht mal das, sondern einen funkelnden Stein, den er als seltenen Schatz bezeichnete. Der dumme Bauerntölpel gab sich grinsend damit zufrieden. Wahrscheinlich hatte der junge Mann (er war vielleicht sechzehn oder siebzehn)