Ben Knüller

Absurd


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Das wenige Haar auf dem Kopf war durcheinander. „Sag mir das!“

      „I-ich...„, fing Fritz stotternd an, doch da unterbrach ein dumpfes Geräusch seine Erklärung, und Onkel Bertram landete vor ihm auf dem staubigen Boden. Hinter ihm erschien Lautental, der etwas in der Hand hielt. Fritz erkannte eine Pfanne, die nun eine Beule hatte.

      „Das dachte ich mir schon“, sagte Lautental trocken. „Hilf mir!“

      „Sie haben meinen Onkel geschlagen!“, rief Fritz erschrocken.

      „Ja. Und ich habe gesagt, dass du mir helfen sollst!“

      „Was haben sie mit ihm vor, Herr Lautental?“

      „Ich werde ihm helfen“, antwortete der alte, verrückte Mann, doch in seiner Stimme erklang nicht die Ehrlichkeit, die er wohl vortäuschen wollte. Für den schwachen Verstand von Fritz reichte diese Erklärung aber, und nach einer Denkpause von zehn Sekunden trugen Meister und Diener den bewusstlosen Onkel Bertram die Treppe hinunter.

      Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt fasste eine junge Maid namens Isabell den Entschluss, ihre Spendenaktion bei dem einsamen Anwesen Lautental zu beginnen. Die Kirche im Dorf brauchte eine fundierte Erneuerung der Innenarchitektur; ansonsten hätten hundert fromme Christen irgendwann bei einer Sonntagspredigt die Decke auf den Kopf bekommen. Isabell wurde dafür auserkoren, da man ihrer natürlichen Freundlichkeit einiges an Überredungskunst zutraute. Das Mädchen mit dem zu Zöpfen geflochtenen, blonden Haaren nahm diese Aufgabe gerne entgegen.

      Sie war noch auf dem unbefestigten Weg, der zum Anwesen Lautental führte, als ihr einfiel, was ihre liebe Mutter über dieses Haus und dessen Besitzer gesagt hatte. Herbert Lautental sei ein merkwürdiger alter Mann, und wenn er sofort die Bitte um Geld abschlagen sollte, bräuchte Isabell gar nicht erst weiter zu fragen. Sie selbst hatte ihn nur einmal zufällig am Marktplatz gesehen, als er kerzengerade durch die Menschen schritt und eine Scheu an den Tag legte, die Isabell an eine Ratte inmitten von großen Hunden erinnerte. Sie konnte den Mann schwer einschätzen, gewiss, aber etwas Gefährliches ging von ihm nicht aus. Und sie traute ihrer noch frischen Menschenkenntnis.

      An der Tür angekommen, hob sie die Hand und klopfte zweimal. Als nach Sekunden des Wartens niemand öffnete, klopfte sie erneut, diesmal lauter. Sie runzelte die Stirn, als auch diesmal niemand zur Türe ging. Sie wollte ihre erste Spendenfrage nicht so unbefriedigend enden lassen, dazu war sie zu gut gelaunt. Daher ging sie pfeifend und mit hinter dem Rücken verschränkten Händen um das Haus herum und sah durch die Fenster. Nichts. Irgendwann kam sie an einem Fenster vorbei, das geöffnet war. Sie sah sich unsicher um und fragte sich, ob sie den Versuch wagen sollte. Mit zusammengekniffenen Lippen senkte sie sich und steckte den Kopf durch das geöffnete Fenster in das Wohnzimmer dahinter. Sie stellte fest, dass sie ohne Probleme vollständig durchschlüpfen konnte, und ehe sie sich wirklich bewusst war, was sie tat, stand sie schon im Wohnzimmer des alten Herbert Lautental und sah sich um. Und plötzlich, ohne es zu merken, waren ihre Absichten nicht mehr christlicher Natur. Wie gesagt, sie wollte ihren ersten Spendenrundgang nicht so traurig anfangen lassen, und beschloss, ein paar Schränke zu durchsuchen. So viel Geld, wie der Alte haben mochte! Da würde er doch ein paar fehlende Münzen nicht bemerken!

      Sie kramte in einigen Schubfächern herum, fand aber nur unnützen Kram; teilweise schienen diese Dinge seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten in ihren Kämmerchen zu vegetieren. Sie wollte gerade gehen, als…

      War da ein Geräusch?

      Isabell hörte genauer hin und vernahm plötzlich Stimmen. Ihr junges Gehör konnte die Stimmen sogar einigermaßen gut voneinander unterscheiden. Die eine ordnete sie Herrn Lautental zu, die anderen beiden waren ihr herzlich unbekannt. Sie überlegte, ob sie den Stimmen folgen sollte, um doch noch zu einer ehrlichen Spendenfrage zu kommen, verdrängte diesen Gedanken aber ganz schnell wieder. Diese teilweise laute Diskussion, die sie ungewollt mitbekam, hatte etwas Unheimliches an sich.

      Sie beschloss dennoch, einen Blick in die Diele zu riskieren. Sie war hell erleuchtet, daher hatte sie keine Angst, nur die Bilder an der Wand machten ihr Sorgen. Auf dem einen waren Jagdhunde abgebildet, die einen Fuchs durch dichtes Gestrüpp jagten. Die Hunde waren hart gezeichnet und hatten pechschwarze Augen, während der Fuchs wie das Werk eines Kindes aussah. Bei näherer Betrachtung machten die Hunde dem Mädchen eine Heidenangst. Sie ging weiter, als plötzlich eine Tür, die ihr zuerst gar nicht aufgefallen war, aufsprang. Einem natürlichen Instinkt folgend, rannte Isabell lautlos die Diele hinunter zu einem kleinen Schränkchen und versteckte sich dahinter.

      „Herrgott nochmal!“, tobte Herbert Lautental. Er kam aus dem Keller hervor und wischte sich das Gesicht ab. Seine Haare waren durchnässt. Die arme Isabell vermutete Schweiß, in Wahrheit war es eine rote Flüssigkeit. „Du solltest ihn festhalten, Fritz!“

      Eine ängstliche Stimme aus den Tiefen des Kellers. „Ist er tot?“

      Lautental seufzte entnervt. „Nein, Fritz. Aber ich habe mir diese Sache ein bisschen anders vorgestellt, weißt du?“

      „Wir können es doch nochmal versuchen!“

      Lautental legte die Hand auf die Stirn, stieß einen unangenehmen Laut aus und ging stapfend in das Wohnzimmer. Wäre er etwas konzentrierter gewesen, wären ihm sicher die schwachen, aber doch sichtbaren Dreckrückstände auf dem Boden aufgefallen, die von Isabells Schuhen herrührten. Doch er war zu sehr mit seinem wissenschaftlichen Durchbruch beschäftigt, um solche Kleinigkeiten zu bemerken.

      Fritz kam die Treppe hoch. Der Knabe war sehr nervös und zitterte.

      „Es ist zwecklos!“, rief Lautental und ließ seine Hand dabei durch die Luft fliegen. „Der Schwanz ist nicht richtig dran! Es ist zwecklos!“

      „Aber noch ist doch alles gut?“, sagte Fritz.

      Lautental fuchtelte weiter herum. „Gut? Das war einfach die falsche Rute; ein Hundeschwanz ist zu unpassend für den menschlichen Rücken! Wir bräuchten etwas Stabileres. Vielleicht den Schweif eines Löwen!“

      Isabell traute ihren Ohren nicht. Sie hielt sich die Hand vor dem Mund und wollte irgendwie verschwinden. Vielleicht erhoffte sie sich, einen geheimen Weg nach draußen zu entdecken (Häuser dieser Art hatten meistens ein Hintertürchen), doch alles, was sie erreichte, war das Umschubsen eines kleinen Tisches. Sie sog scharf Luft ein.

      „Was zur Hölle war das?“, rief Lautental, der sich blitzschnell aus seinem Sessel erhoben hatte. Mit langen Schritten hechtete er in die Diele und fand ziemlich schnell das Wesen vor, das hier Lärm verursachte. „Was machst du hier, Mädchen? Na? Antworte mir!“

      Isabell war unfähig zu reden. Sie grub die Finger in den Mund und wollte schreien, doch da hatte Lautental schon Hand an ihr angelegt.

      Zwei Tage später hörte Thomas Fuhrmann, wie sein Müllbehältnis vor der Haustüre umgestoßen wurde. Dazu gesellte sich das wilde Knurren eines Tieres. Thomas stand auf und zog sich die Hose hoch. Nicht genug, dass ihre Tochter seit zwei Tagen verschwunden war, jetzt bildeten sich auch noch irgendwelche Tiere aus dem Wald ein, ihm auf der Nase herumtanzen zu müssen.

      „Thomas?“ Luise Fuhrmann drehte sich im Bett zur Seite, die Augen verschlossen und von Tränen der Trauer gerötet. „Wo gehst du hin? Lass mich nicht allein…“

      Thomas nahm sein bestes Gewehr aus dem Schrank. Sein Gesicht war hochrot und schweißgebadet. „Ich habe die Nase voll, hörst du? Die Leute im Dorf tuscheln schon, dass Isabell…“ – seine Frau winselt kurz und intensiv – „…mit diesem betrunkenen Harald durchgebrannt sei. Und jetzt wirft noch irgendein Fuchs aus dem Wald meine Mülltonne um!“ Er lud die Waffe und polterte aus dem Schlafzimmer. Seine Frau versteckte das Gesicht hinter den Händen und weinte.

      Es war noch fast finster. Am Horizont versuchte Frau Sonne bereits, die Dunkelheit zu verdrängen, aber sie kam nur mühsam und schleppend voran. Der Boden war dicht mit Nebel belegt. Als Thomas die Tür öffnete, wünschte er sich trotz aller Dringlichkeit, eine Jacke angezogen zu haben. Das würde spätestens am morgigen Tage mit einer Erkältung enden. Das war natürlich auch die Schuld des Schicksals. Die Gerüchte im Dorf, der Fuchs an der Mülltonne,