Ben Knüller

Absurd


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begann, die Mikrowelle mit der Hand zu bearbeiten. Zuerst nur mit scheuen Schlägen, bis die gesamte Handfläche knallend auf der Oberfläche landete. Die ohnehin kaputt wirkende Mikrowelle gab ein ungesundes Knarren von sich. Roy wollte seine Freundin aufhalten, doch ihr sprühender Zorn ließ ihn auf einen gewissen Sicherheitsabstand zurückweichen.

      „Scheißdreck!“, fauchte sie und machte sich nun daran, die Vorderseite zu peinigen. „Scheißdreck, Scheißdreck, Scheißdreck!“

      Im Nachhinein konnte man das eigentlich unmöglich mit absoluter Sicherheit sagen, aber Roy glaubte, dass sie mit dem Finger dummerweise auf die Taste 7 kam. Nach einem kurzen, klagenden BING seitens der Mikrowelle explodierte Paulas Kopf wie ein Kürbis. Die rote Suppe klatschte gegen die Wände, die Schränke, teilweise gegen Roy. Ein paar Zähne flogen durch die Küche und landeten klappernd an verschiedenen Stellen. Der kopflose Körper stand noch ein paar Sekunden aufrecht, bis er zuckend in sich zusammenfiel. Das alles spielte sich in maximal zehn Sekunden ab.

      Häufig wissen wir Menschen nicht, was wir in Schockmomenten sagen sollen, da alles unpassend erscheint. Mit einem kurzen „Mmh!“ beschrieb Roy die Situation allerdings bemerkenswert neutral. Er griff nach einigen Sekunden des Beobachtens (vielleicht stand Paula ja wieder auf) wieder zu Zettel und Stift. Das Papier hatte glücklicherweise nur kleine Blutspritzer abbekommen.

       Taste 7 lässt Köpfe platzen.

      Achim Hansemann war vielleicht nicht der Musternachbar schlechthin, doch das laute Knallen in der Nachbarwohnung ließ ihn doch aufhorchen. Allerdings eher aus egoistischen Gründen. „Nicht mal in Ruhe fernsehen kann man hier!“

      Die große Erscheinung mit Schnurrbart erhob sich aus ihrem Sessel. Achim trug nur ein weißes Unterhemd samt schwarzer Boxershorts. In einem gewissen Alter konnte das als relativ erotisch gewertet werden, aber Achim ging steil auf die Sechzig zu und war sich seiner sprießenden Achselhaare nicht vollends bewusst.

      Polternd stapfte er durch den Flur, riss die Wohnungstür auf und begann ungeniert, die Tür seines Nachbarn zu vergewaltigen. Gerade, als er das Klopfen gegen ein Sturmklingeln eintauschen wollte, öffnete sich die Tür langsam und geheimnisvoll.

      Achim und Roy Kokett hatten sich nur selten gesehen, doch Achim überging jegliche Höflichkeit und grapschte seinem Nachbar an die Schulter. „Sag mal geht’s noch? Spielt ihr hier Hallenfußball, oder was ist los?“

      „Ich weiß nicht“, sagte Roy. Seine Stimme war fast ein Flüstern, die Augen starrten überall hin, nur nicht auf Achim. Diesem fiel in seiner Rage gar nicht auf, dass Roy mit Blutflecken übersät war.

      „Du Knallfrosch!“, schrie Achim. „Was weißt du denn schon?“

      Er schubste Roy einfach beiseite und verschaffte sich Einlass in die Wohnung. Vielleicht erhoffte er sich, bei der Dame des Hauses mehr Verständnis zu finden, vielleicht wollte Achim Hansemann aber auch nur ein alter Mann sein und meckern, was das Zeug hielt. Wie ein Bulldozer bahnte er sich seinen Weg ins Wohnzimmer und fand nichts vor. Das Spiel wiederholte sich beim Bad. Als er in der Küche vorbeischaute, schrie Achim drei Worte und betonte jedes einzeln: „Ach – du – Scheiße!“

      Paula lag immer noch kopflos am Boden. Das Blut war teilweise noch nicht geronnen und tropfte von den Schränken auf die Theke und den Boden. Um das psychotraumatische Bild perfekt abzurunden, quetschte sich Roy an Achim vorbei und stellte sich breitbeinig über den Körper seiner toten Freundin. Ein neckisches Grinsen erhellte sein Gesicht.

      „Was haben Sie getan!?“, schrie Achim und hielt sich am Türrahmen fest, als könnte sich die ganze Küche gleich um hundertachtzig Grad drehen.

      Roy hörte ihn gar nicht. „Drücken Sie bitte mal auf die Eins, ja?“

      „Ich drück gleich Eins-Eins-Null, Freundchen!“

      „Ich glaube, nur bei ungeraden Zahlen passieren schlimme Dinge. Und die Höhe der Zahl bestimmt die Intensität.“

      „Was reden Sie da eigentlich für eine Scheiße!?“

      Achim war zwar eine kräftige Erscheinung, doch der Schrecken überrollte ihn völlig, als Roy seine Hand packte und zur Mikrowelle zog. Achims Zeigefinger knackte, als Roy ihn einzeln zu fassen bekam.

      „Hilfe!“, brüllte Achim. Seine tiefe, rauchige Stimme war einem fast mädchenhaften Krächzen gewichen.

      Der Finger in Roys Hand krümmte sich wie ein Wurm. Das zielgenaue Treffen der Eins wäre nicht mehr als Zufall gewesen, und so überrascht es nicht, dass Achims speckiger Finger sein Ziel knapp verfehlte. Er traf die Zahl darunter; die Vier.

      Der vormals so zornige Nachbar schrie ängstlich auf, als die Mikrowelle ein lebhaftes BING ertönen ließ. Als er etwas spürte (etwas fühlte, viel mehr), erstickte sein geplanter zweiter Schrei. Stattdessen – so unpassend die Situation auch sein mochte – stieß Achim ein lustvolles Stöhnen aus. Und in Anbetracht der nachfolgenden Verwandlung konnte man es ihm auch nicht verdenken.

      Zunächst einmal wuchs sein schütteres Haar. Erst langsam, dann schier hektisch. Aus den paar Haarfusseln wurde eine prachtvolle braune Mähne, die sich gegen Ende bis zu den Schultern erstreckte. Die teilweise tiefen Falten um die Augen herum glätteten sich und verschwanden dann völlig. Der Bierbrauch schien wie ein kaputter Luftballon an Inhalt zu verlieren. Die ohnehin angestaubten Muskeln an den Armen pumpten sich auf.

      Achim Hansemann wurde jünger.

      „Mein Gott!“, rief er und betastete seine wilde Löwenpracht am Kopf. „Was haben Sie mit mir gemacht? Ich fühle mich so komisch!“

      „Verstehe“, sagte Roy trocken, griff zu seinem Stift und notierte etwas auf seinem Zettel. Trotz seiner enthaupteten Freundin und einem alten Mann, der soeben eine drastische Verjüngungskur hinter sich hatte, war Roy die Ruhe in Person. „Fühlen Sie denn sonst noch irgendwas?“

      Achim schien zu überlegen, dann befühlte er mit wachsender Ehrfurcht seinen Schritt. Seine Augen weiteten sich, und als er die Boxershorts mit einem Finger anhob, um das Innere zu inspizieren, fielen sie fast aus ihren Höhlen.

      „Mein Schwanz!“, rief er triumphierend. „Mein Schwanz steht wieder!“

      Roy nickte. „Okay. Würden Sie dann jetzt bitte die Eins drücken?“

      „Wie? Was?“

      „Die Eins, bitte“

      „Oh, ja klar!“

      Noch völlig im Nebel der Überraschung gefangen, stand Achim schwankend auf, begutachtete kurz seine schlankeren Beine und grinste dusselig. Er schaute zur Mikrowelle und konnte sich eine Frage nicht verkneifen. „War das wirklich das Ding? Das ist doch völlig unglaublich!“

      Roy lächelte ausdruckslos weiter. „Tja. Mal sehen was bei der Eins passiert, was?“

      Achim lachte schnaufend. „Vielleicht wird mein Ding ja dann länger.“ Er stieß Roy mit dem Ellenbogen an. „Noch länger, verstehste?“

      Gerade, als Achim die Eins gedrückt hatte und das markante BING (diesmal aber leiser) ertönte, ging ihm offenbar ein Licht auf. „Moment mal, haben Sie nicht gesagt dass bei ungeraden...„ Weiter kam er nicht. Sein rechter Zeigefinger machte ein bröselndes Geräusch, dann fiel er einfach ab.

      Aller guten Dinge sind Drei, und der dritte Unglücksrabe in dieser Geschichte war ein junger Paketlieferant. Eigentlich hätte er ein Paket für einen Herrn Hansemann abliefern sollen (er wusste dank des Bestellscheins, dass es sich um ein paar Pornos handelte), doch beim Anblick der offenen Tür daneben schaltete sich sein neugieriger Instinkt ein. Der Paketlieferant, den alle nur Chip nannten, ging mit einer Kiste Pornos im Arm in die Wohnung.

      Zunächst einmal fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf, bis er ein leises Wimmern hörte. Es kam aus Richtung Küche, und trotz einer warnenden Stimme im Ohr folgte Chip seiner Spannung. Mit seinen einundzwanzig Jahren hatte er eben noch nicht den kindlichen Abenteurer in seinem Herzen überwinden können; aber als er in der Küche ankam, verflog all