Ben Knüller

Absurd


Скачать книгу

mir zu“, sagte Lautental. Sie standen hinter dem Haus, umgeben von Unkraut und Sträuchern. Die untergehende Sonne warf letzte, lange Schatten der beiden Gestalten. „Du gehst jetzt in den Wald und schießt mir ein Tier!“

      „Was soll ich?“, fragte Fritz.

      Lautental schnaubte, ging zur Häuserwand hinüber und nahm den Gegenstand, der dort lehnte: eine Flinte. Sie hing seit Jahren über Lautentals Kamin, doch hatte er sie nie ausprobiert. Er schreckte vor Waffengewalt zurück, akzeptierte es aber, wenn andere, wie zum Beispiel Fritz, diese schmutzige Arbeit für ihn verrichteten. Nun drückte er sie dem jungen Mann in die dreckigen Hände. „Hier, nimm!“

      Fritz handhabte die Waffe unsicher und hätte sie beinahe fallen gelassen. Er schaute sie sich argwöhnisch an und steckte sogar ein Auge in den Lauf. Lautental reagierte zornig und schlug Fritz auf den Hinterkopf. „Bist du des Wahnsinns? Willst du sterben?“

      Fritz schüttelte hastig den Kopf.

      „Dann sei jetzt ein Mann und schieß mir ein Tier. Aber eine Bedingung habe ich! Es muss einen langen Schwanz haben! Vielleicht ein Wiesel oder…“ Er dachte an die vorgestrige Nacht. „Oder einen Fuchs!“

      „Aber warum denn?“

      „Weil ich es dir sage! Und jetzt los!“

      Mit diesen abschließenden Worten wedelte Lautental mit den Händen, als ob Fritz eine Taube wäre, die weggescheucht werden musste. Zuerst blieb der braunhaarige Knabe stehen, betrachtete abwechselnd die Flinte und den Waldrand, der schätzungsweise fünfhundert Meter vom Anwesen entfernt war. Schließlich trampelte er bedächtig los, zu Lautentals grimmiger Befriedigung. Der verkannte Wissenschaftler ging derweil ins Haus und nahm ein paar Bücher durch, in denen es durchweg um die Anatomie bei Menschen ging; teilweise auch um die von Tieren.

      Es war schon seit einigen Stunden stockdunkel, als Lautental einen schlurfenden Gang vernahm und mit einem Blick durch das Fenster feststellte, dass Fritz wieder zugegen war. Zu seinem gröbsten Unverständnis hatte der Junge nur die Flinte in der Hand, sonst nichts.

      Lautental hastete zur Tür und kam Fritz entgegen. Statt einer herzlichen Begrüßung raufte sich Lautental die Haare. „Wo ist das Tier? Du solltest doch eines schießen, verdammt!“

      Fritz zuckte die Schultern. „Da waren viele Tiere, aber ich hab immer nur die Bäume getroffen. Tut mir Leid.“

      Gerade, als Lautental zu einem entwürdigenden Schlag ansetzen wollte, bellte ein Hund. Beide zuckten zusammen, Lautentals Kopf verschwand buchstäblich zwischen seinen beiden Schultern. Dann kam auch schon der Urheber des Bellens angelaufen – eine Promenadenmischung, die wild hechelte und mit dem Schwanz wedelte. Das Tier machte eine Art Verbeugung vor den beiden Männern, doch Lautental hatte nur Augen für die wedelnde Rute. Schlagartig schien sein gesamter Frust wie weggeblasen.

      „Wen haben wir denn da?“, sagte der alte Mann und setzte ein falsches Grinsen auf.

      Fritz lachte auf. „Das ist Felix, Herr Lautental! Ich spiele vormittags immer mit ihm!“

      „Ist dem so?“, erwiderte Lautental, ohne von dem Hund wegzusehen. Seine Augen waren glänzende Kristalle, die im scharfen Kontrast zum würdelos abstehenden Haar standen. Nachdem er genug gesehen hatte, hob er den Hund mit beiden Händen hoch und schaute ihm in die treuen Augen. Der Hund gähnte und hechelte energisch weiter.

      „Geben sie ihm was zu fressen?“, fragte Fritz.

      „Süßer Hund“, murmelte Lautental abwesend. „Was für ein süßer Hund du bist!“

      Mit diesen Worten verschwand der alte Mann wieder in seinem Anwesen und ließ Fritz draußen stehen. Der dumme Diener beobachtete das Innere des Wohnzimmers noch eine Weile durch das Fenster, sah aber weder Lautental noch Felix. Nach einer geschlagenen halben Stunde steckte Fritz die Hände in die Hosentaschen und ging pfeifend von dannen.

      Am frühen Morgen, als die Sonne noch lustlos über dem Himmelsrand vorschaute und das ganze Dorf schlief, rannte ein Hund schrill bellend über die unbefestigte Straße. Das Tier, dass auf den Namen Felix hörte, hatte keinen Schwanz mehr.

      Bei Fritz‘ nächstem pflichtbewussten Besuch wurde er von Herbert Lautental mit einer ungewöhnlichen Frage konfrontiert: „Kennst du einen Buckligen?“

      „Einen Buckligen?“ Der Junge sprach das Wort wie Buhklign aus.

      Lautental rollte mit den Augen und stellte schauspielerisch einen Buckligen dar, indem er ein paar Schritte gebückt und mit hängenden Armen ging. Selten gab sich der alte Mann so offen; er war wohl bester Laune und aufgeregt.

      „Achso!“, platzte es aus Fritz heraus. „Onkel Bertram geht so!“

      Und wieder blitzte es in den Augen von Lautental. Abrupt beende er seine Darstellung und packte Fritz an den Schultern. „Kannst du ihn herbringen? Jetzt?“

      „Ich weiß nicht. Onkel Bertram ist zur Mittagszeit immer auf den Feldern.“

      Doch Lautental hörte ihm schon gar nicht mehr zu. „Bring ihn her!“, sagte er, ließ Fritz los und rannte aufgeregt vom Wohnzimmer aus zur Diele, wo er wiederum die Tür zum Keller öffnete. Diese fiel scheppernd zu, und Lautental war aus jedem Wahrnehmungsfeld verschwunden. Fritz, der den Verstand einer Walnuss hatte, tat wie ihm geheißen.

      „Was soll denn das, Fritz?“

      „Herr Lautental will das so!“

      „Dieser verrückte alte Mann?“

      „Was ist ‚verrückt‘?“

      „Ach, halt einfach die Klappe!“

      Das Gespann aus Onkel und Neffe ging den Weg zu Lautentals Anwesen entlang, Onkel Bertram eher widerwillig. Er wurde von Fritz gedrängt und wäre ab und an fast gestolpert. Tatsächlich hatte der ältere Herr einen ansehnlichen Buckel. Er ging zwar nicht so bizarr, wie Lautental einen Buckligen dargestellt hatte, aber Fritz glaubte, dass Onkel Bertram trotzdem genügen würde. Vielleicht sprang auch eine Belohnung für ihn, Fritz, dabei raus.

      Man hätte glauben können, dass Lautental immer noch in seinem Keller tüftelte, doch sobald Onkel und Neffe in Sichtweite des Hauses kamen, sprang die Haustür auf und der verrückte alte Mann kam angelaufen wie ein aufgeregtes Kind bei der Sichtung eines formschönen Schaukelpferdes. Onkel Bertram blieb vorsichtshalber stehen und wartete ab, obgleich Fritz versuchte, ihn weiter zuschieben.

      „Mein lieber Herr!“, posaunte Lautental mit ausgebreiteten Armen.

      „Ich will das nicht, Fritz!“, sagte Onkel Bertram, doch da lag schon eine langfingrige Hand auf der Schulter des buckligen Onkels. Lautental hatte ihn umzingelt wie eine Spinne ihr Opfer.

      „Wer wird denn so griesgrämig sein? Sie werden diesen Augenblick später als äußerst kostbar erachten, so glauben Sie mir doch!“

      „Ich glaube eher, dass sie des Wahnsinns sind!“

      „Manchmal“, sagte Lautental ruhig, „ist Wahnsinn von Nöten, oder?“

      Darauf wusste Onkel Bertram keine gescheite Antwort. Er wurde mehr oder minder in das Anwesen Lautental gezogen. Fritz ging bedächtig hinter den beiden Männern her und bekam nur Wortfetzen zu hören. Lautental redete auf den Onkel ein, blieb dabei mit der Stimme in einer sanften, einnehmenden Tonlage.

      Im Haus angekommen, führte Lautental seinen Gast sofort zur Kellertüre und bat ihn hinunter, während er, Lautental, noch etwas in der Küche erledigen müsste. Onkel Bertram sah seinen Neffen unsicher an, ging dann aber langsam die Stufen hinunter; hinein in die Düsternis. Die blinkende Halbglatze des Onkels verschwand mit der Zeit, und Fritz bekam erstmals ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Ein Schauer überquerte seinen Rücken.

      Es vergingen ein paar Minuten, als wildes Getrampel ertönte. Onkel Bertram kam die Treppen hochgehechtet, so schnell seine krumme Körperhaltung es natürlich zuließ. Fritz, der die ganze Zeit über in der Diele gestanden und die teils merkwürdigen Bilder an der Wand angeschaut