Ben Knüller

Absurd


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Ein Paar Turnschuhe wedelten mit ihren Schnürsenkeln, benutzten sie als spinnenartige Beine und richteten sich auf. Sie stellten sich ihm in den Weg.

       Klonk. Klonk. Klonk.

      Seth drehte sich langsam um. Eine Treppe höher standen zwei Springerstiefel, wahnsinnig groß, schwarz und glänzend. Ihr Scherzkeks von Besitzer hatte an der Vorderseite, jeweils an den Seiten der Schnürung, richtige Nieten befestigt. Die Schnürung zog sich auseinander, die Nieten waren plötzlich die Zähne eines vertikalen Mauls. Die Springerstiefel fauchten Seth an.

      Okay, er musste wirklich hier weg. Mit zitternden Händen umfasste er das Geländer, sprang mit angezogenen Beinen darüber, vorbei an den Kinder- und Turnschuhen, und landete eine Etage tiefer. Dabei knackste er sich den Fuß unglücklich an einer Stufe an und zischte vor Schmerz. Doch es war keine Zeit für Wehleidigkeit. Die Turnschuhe bewegen sich hastig auf ihren Schnürsenkelbeinen auf ihn zu, pantherartig huschten die Springerstiefel über die Stufen. Seth – nun leicht humpelnd – bewältigte die nächste Treppe und sah die Haustür. Da hörte er ein Klackern. Bei seiner Flucht hatte er völlig den Niederländer im Erdgeschoss vergessen, der in seiner nationalen Verliebtheit ein Paar Holzschuhe vor seine Tür gestellt hatte. Seth zwang sich, keinen Rückzieher zu machen, nicht nach hinten zu schauen, immer die Haustüre im Blick zu haben. Als er endlich dort angekommen war, die Türklinke bereits in der Hand, raste das Paar Holzschuhe raketenartig an ihm vorbei und durch das Glas der Haustür. Glassplitter flogen um ihn herum, schnitten sein Gesicht auf. Die Holzschuhe landeten auf dem Gehweg und schienen nur noch zwei dumme Schuhe zu sein.

      Egal. Tür auf und raus hier.

      Die Morgenluft war herrlich, versetzte ihn fast in eine angenehme Benommenheit, die ihn zwang, ein paar Sekunden stehen zu bleiben. Dann spürte er kaltes Metall in seinem Bein und wärmende Nässe, die sich ausbreitete. Einer der Springerstiefel hatte sich angeschlichen und im richtigen Moment zugeschlagen. Seth hielt kurz inne, dann schrie er auf. Blut tropfte aus dem festen Biss des Stiefels, der nicht loslassen wollte und sich in das frische Fleisch verbiss. Seths Hände fuhren nach unten, packten den Stiefel am oberen Ende und zogen. Er spürte langsam, aber sicher, wie sich die Nieten aus seiner Wunde zogen, aber er konnte nicht länger warten. Mit einer letzten, großen Kraftanstrengung riss er den Springerstiefel von seinem Bein, seine Hose riss, die Wunde wurde nochmal um ein paar Zentimeter erweitert, aber das Ding war ab. Seth schwang es im Kreis und knallte es wie einen Football auf den Boden. Der Stiefel wimmerte wie ein angeschossenes Tier, zitterte und zuckte. Aus seinem Maul, der Schnürung, kam eine gelbliche Substanz. Seth wandte angewidert den Blick ab und humpelte weiter Richtung Straße. Er dachte an Asluf, den sympathischen Bäcker, und Hoffnung keimte in seinem Kopf auf. Der Bäcker befand sich bereits an der Straßenecke, und Seth zwang seine Beine, weiter zu laufen. Die Fleischwunde brannte.

      Asluf stand an der Theke und blätterte relativ lustlos in einer Zeitung herum. Als Seth Peters wie ein abgestochenes Schwein durch die Eingangstür kam, wurden Aslufs Augen so groß wie Fußbälle.

      „Asluf! Hilf mir! SCHUHE!“

      Der Bäcker zeigte auf seine Ware. „Nichts Schuhe, nur Brötchen!“

      Seth, der den Boden bereits mit Blut einsaute, bemerkte schnell, dass er hier keine konstruktive Hilfe erwarten konnte. Er fuhr sich durch die Haare, jammerte und verwand so schnell durch den Eingang, wie er hereingekommen war.

      Kein Mensch in der Nähe. Kein Leben. Aus der Ferne konnte er Treten und Trampeln hören. Für einen kleinen Moment war er drauf und dran, eine Autoscheibe mit dem Ellenbogen einzuschlagen, als es hinter ihm zischte und fauchte. Seth drehte sich langsam um. Der andere Springerstiefel war inzwischen wütend geworden. Man hatte ihm seine Partnerin geraubt. Hinter dem Stiefel, aus einem kleinen Gebüsch, kamen die restlichen Schuhe angeschlichen. Die Flip-Flops hüpften wie aufgeregte Kinder hin und her, ein Gummistiefel sabberte und grunze.

      Seth schüttelte den Kopf, begann bereits rückwärts weiterzulaufen, und fiel in seiner ganzen Länge auf den Asphalt der Straße. Seine Nase knackte und er spürte weiteres Blut, schmeckte bereits den metallischen Geschmack auf seiner Zunge. Er drehte sich auf den Rücken, schrie den Himmel an und sah an sich hinab. Seine eigenen Schuhe pulsierten an seinen Füßen. Was anfangs einer angenehmen Massage glich, weitete sich zu unfassbarem Schmerz. Die Schnürsenkel beider Schuhe flogen wie von Zauberhand durch die Luft und verknoteten sich ineinander.

      „Was macht ihr denn?“, winselte Seth.

      Seine Schuhe hielten kurz inne. „Das einzig richtige, Kumpel.“

      Als er den Springerstiefel kopfüber auf sich zu trampeln sah, schrie Seth Peters so laut wie nie.

      „Er hat was getan?“, fragte Lisa Littau geschockt.

      Der Polizist hatte buschige Koteletten und ließ einen Bleistift in der Hand umhertanzen. „Er hat Schuhe angeschrien, Frau Littau. Sie lagen friedlich um ihn herum und er brüllt und schreit als würde die Welt untergehen. Das sagt jedenfalls unser einziger Augenzeuge, ein gewisser Asluf. Vorher sei ihr Freund – Seth – zu ihm in den Laden gekommen und hätte etwas von Schuhen gefaselt. Da blutete sein Bein schon ziemlich stark.“

      Lisa kämpfte um Fassung. „Wie konnte das passieren? Wer hat ihm das angetan?“

      „Wir hatten zunächst den Verdacht, dass es der verrückte Postbote war, der seit einigen Wochen sein Unwesen treibt. Der wurde aber zur selben Zeit ganz woanders gesehen. Also nehmen wir an, dass er sich die Wunde irgendwie selbst zugefügt hat. Da wären wir auch gleich beim nächsten Punkt, Frau Littau. Ich schätze, ihr Freund muss in psychiatrische Behandlung.“

      „Was? Aber…“

      Der Polizist nickte und seufzte. „Es ist das Beste, Frau Littau. Auf der ganzen Straße lagen Schuhe verstreut, selbst von ihren Nachbarn. Als wir oben in ihrer Wohnung waren... nun, wie soll ich es sagen. Zwei Türen waren durchbrochen, auch dort lagen überall Schuhe. Der Fernseher lief und ein Bier stand auf dem Tisch. Bei ihm muss ganz plötzlich eine Sicherung durchgebrannt sein.“

      Sie überlegte kurz. „Kann ich ihn sehen?“

      „Wenn Sie unbedingt wollen. Aber seien Sie vorsichtig, er könnte gefährlich sein. Er ist hinten den Gang runter, die letzte Tür links. Ich hab dem Wachmann bereits gesagt, dass Sie kommen würden.“

      Lisa nickte und ging. Auf halber Strecke rief ihm der Polizist noch etwas nach. „Und ziehen Sie ihre Schuhe vorher aus! Der Kerl wird ganz verrückt, wenn er welche sieht!“

      Sie ging mit gespannten Erwartungen den Gang entlang und bekam vom aufsichtshabenden Polizisten tatsächlich den erhobenen Daumen präsentiert – alles super! -, bevor er sie hereinließ.

      Der Raum war beige und ein vergittertes Fenster stand offen. Die Vögel zwitscherten, als wäre alles normal wie immer. Seth starrte seine Freundin forschend an. Er saß auf dem Boden, die Hände auf dem Rücken mit Handschellen verziert. Er wirkte ängstlich und ... nun, nicht ganz dicht.

      „Seth?“, fragte sie. „Geht... es dir gut? Alles in Ordnung?“

      Sein Blick fuhr schnell zu ihren Füßen, und als er keine Schuhe sah, schien er ungemein erleichtert zu sein. Dann hielt er kurz inne und sah zum Fenster hinaus.

      „Sie haben mich angegriffen.“

      „Was? Wer? Eine Bande? Wer, Seth? Wer?“

      Er sah sie an, auf eine unheimliche Art wie Renfield, Draculas verrückter Diener. „Deine Schuhe, Liebling. Deine Schuhe! Sie haben mich angegriffen und wollten mich zerfleischen!“

      Aus ihrer anfänglichen Hoffnung, dass ihr Freund wenigsten zu ihr ehrlich sein würde, wurde recht schnell Kummer und Zorn. Sie schüttelte wild mit dem Kopf. „Meine Schuhe? Ein paar Schuhe wollten dich also umbringen, ja?“

      „Eine Sandale!“, rief er zusammenhangslos. „Ihr Anführer war eine Sandale! Diese olle Mistding aus Italien!“

      Sie entfernte sich langsam Richtung Tür. Seinen Augen blitzten verrückt auf.

      „Ich werde die Einweisungspapiere