P.C. Friedrich

Skratschko & Patsch


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an und strich sich über seine Narbe und seinen angemalten Bart. „Pass mal uff, Kleener. Iss doch alles Ringelpietz mit Anfassen, was Skratschko dir immer erzählt. Nu will icke dir mal von nem richtig jefährlichen Abenteuer was vaklickern. Ick war grade uff Expedition in Spitzbergen. Hatte den Auftrag, alle Berge ma wieder anzuspitzen. Unn uff eemal steht er vor mir. En leibhaftiger feuerspeiender Schneemann. Wenn de so eenem bejegnest, haste bloß noch die Wahl, ob er dir verbrennen oder erfrieren soll. Mit em Streichholz oder so brauchste dem nich zu drohen. Da lacht der sich nur schlapp.“

      „Aber wie bist du ihm dann entkommen?“, fragte ich, um Patsch den Spaß nicht zu verderben.

      „Ick hab ihm einfach erzählt, ick würd ihm nen Vollbart bis zu seim Bauch anhexen. Da iss er natürlich wie der Blitz wegjeloofen.“

      „Wieso das denn?“

      „Na, hasde schon ma en feuerspeienden Schneemann mit em Vollbart jesehen? Alleene die Vorstellung von dat iss lächerlich. Unn wie jeder weeß, sind feuerspeiende Schneemänner furchtbar eitle Dinger. Stundenlang stehn se jeden Tag mit die Pinzette vorm Spiejel, um sich en Haar, das aus Vasehn mal uff ihrer schneeweißen Haut wachsen sollte, sofort rauszureißen. Natürlich wird auf einem feuerspeienden Schneemann nie ein Haar wachsen – det lernt ma ja schließlich schon im Kinderjarten – aber feuerspeiende Schneemänner sind nicht nur furchtbar eitel, sondern ooch furchtbar dumm.“

      „Kannst du denn einem Schneemann wirklich einen Vollbart anhexen?“, fragte ich Patsch, wobei ich ein leichtes Grinsen nicht ganz unterdrücken konnte.

      „Natürlich nich. Nich die Bohne. Aber ick sagte ja: Die sind furchtbar dumm.“

      Patsch hatte die Geschichte noch mit zahlreichen Details zu Zeit und Ort geschmückt, um sie glaubhafter erscheinen zu lassen. Wahrscheinlich war sich Skratschko deshalb nicht sicher, ob ich Patsch nicht doch auf den Leim gegangen war. Denn er rief plötzlich entrüstet vom anderen Ende der Lichtung: „Feuerspeiender Schneemann! Da könntest du ihm genauso gut von fliegenden Unterwassermaulwürfen erzählen. Mensch, Patsch! Beherrsch Er sich! Der Knabe glaubt doch noch alles, was man ihm erzählt.“

      An mich gewandt sprach er in seinem milden, väterlichen Tonfall: „Du darfst Patsch nicht jeden Unsinn glauben. Du weißt doch ...“ Dabei nickte er mit seinem Kopf in Richtung Patsch und machte mit seinem Zeigefinger kreisende Bewegungen neben seiner Schläfe. Patsch ist nicht ganz richtig im Kopf, sollte das bedeuten.

      Patsch hatte diese Geste bemerkt, aber er tat, als hätte er nichts gesehen. Es war schon erstaunlich mit ihm. Wenn er keine Lust hatte, ließ er sich durch nichts provozieren. Er steckte seinen Grashalm wieder zwischen die Zähne, setzte sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an den mächtigen Stamme einer Eiche, zog sein langes Messer aus der Hose und widmete sich seelenruhig seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Säubern seiner Fingernägel. Wie meistens kam dabei schnell ein ganzer Eimer Dreck zusammen. Wenn der Eimer voll war, drückte er den Dreck fest, stülpte den Eimer um und baute einen weiteren Turm für seine Sandburg, die er mitten auf der Lichtung errichtete. Patsch behauptete stets: „Fingernageldreck iss zum Burgenbauen viel besser als jewöhnlicher Sand.“

      Das wollte ich natürlich auch irgendwann testen, aber ich bekam nie genügend Fingernageldreck zusammen. Und warum nicht? Weil meine Mutter mir jeden Samstag – jeden Samstag! – die Fingernägel schnitt. So kurz, dass gar kein Platz blieb, um eine ansehnliche Menge Dreck zu sammeln. Das nehme ich meiner Mutter heute noch übel.

      Als ich das bei Gelegenheit erzählte und zum Beweis meine Fingernägel zeigte, rief Skratschko ganz aufgebracht: „Mütter! Mütter sollten per Dekret verboten werden – und nicht nur fingernagelschneidende Mütter. Es befällt mich immer wieder mit Wunderlichkeit, dass es diese altertümliche Einrichtung noch gibt. Mütter! Wie das schon klingt. Irgendwie wie Stinkmorchel, in der Tat.“

      „Ja, hast du denn keine Mutter gehabt, Skratschko?“, fragte ich verwundert.

      Skratschko zuckte zusammen und umfasste mit beiden Händen den Buckel seiner Rüstung auf der linken Seite, als schmerzte ihn seine Brust. „Gott bewahre! – Einmal ist eine herausgeputzte Dame in Stöckelschuhen, die so hoch waren, dass sie sie gleich als Stuhl benutzen konnte, zu mir vorgedrungen und wollte sich weder durch Milde noch durch Strenge davon abbringen lassen, meine Mutter zu sein.“ Skratschko strich über seinen hochgebogenen Schnurrbart. „Eine fürwahr unangenehme Situation. Schließlich war ich gezwungen, sie in ihrem Glauben zu lassen und in ein Kloster für schwer erziehbare Mütter zu stecken.“

      5. Kapitel

      in dem Anlass und Ausgangspunkt von Skratschkos Kampf gegen die Wilde Annamarie ausführlich geschildert werden, auch wenn noch einiges im Unklaren bleibt. Nebenbei erfährt der Leser Wissenswertes über die Chinesische Mauer.

      Der aufmerksame Leser weiß bereits, dass die beiden in der ersten Zeit meiner Bekanntschaft mit ihnen peinlich darauf bedacht waren, mir nichts von ihrem Kampf gegen die Wilde Annamarie zu erzählen. Allenfalls dunkle Andeutungen schlüpften ihnen hier und da über die Lippen. Andeutungen, die ich damals kaum verstehen konnte und deshalb nicht weiter beachtete. Auch bei dem folgenden Erlebnisbericht ließ Skratschko nicht ein einziges Mal den Namen der schreckenerregenden Wilden Annamarie fallen. Erst viel später sollte ich merken, dass es sich hierbei nicht um eine beliebige Episode aus ihrem lebenslangen Kampf gegen das Böse handelte, sondern dass mit diesem Ereignis der erbarmungslose Kampf zwischen den beiden ungleichen Gefährten und der Wilden Annamarie letztlich seinen Ausgang nahm.

      Apropos Namen: Der Ehrlichkeit halber muss ich gestehen, dass mein Pseudonym Vera Thies und das Verschweigen jeglicher Details zu meiner Person nicht alleine (wie ich vor einigen Seiten schrieb) meiner Bescheidenheit geschuldet ist. Nein – und der Leser wird es sich schon längst gedacht haben – auch die Angst vor Hohlschein lässt mich diesen Schleier um mich selbst weben. Wenn es auch unmöglich sein wird, am Ende seiner Rache zu entgehen, so will ich es ihm nicht zu leicht machen.

      Doch zurück zu Skratschkos Bericht. Skratschko tat alles, damit ich nicht auf die Idee kam, dieses Abenteuer sei von besonderer Bedeutung. Es war einer der ersten richtig heißen Sommertage. Als ich auf die Lichtung kam, lagen die beiden im Schatten der großen Eiche und dösten mit offenen Augen vor sich hin.

      Wie so oft überfiel ich Skratschko gleich mit der Aufforderung, wieder etwas Spannendes aus ihrem Leben zu erzählen. Doch an diesem Tag schien er keine Lust zu haben.

      „Carpe diem, mein Junge“, sagte er, „pflücke den Tag! Niemand kann sagen, ob es nicht der letzte im Leben des listenreichen Skratschko ist. Auch der tapferste Recke sollte das Glück genießen, wenn es ihn einmal umfängt, in der Tat.“

      Patsch spuckte seitlich aus dem Mund und sagte zu mir: „Wär mir ooch janz recht, wenn die Quasselstrippe noch ne Weile still sein könnte. Wie heeßt et so schön: Reden is Schweigen unn Silber iss och keen Gold.“

      „Wohlan denn“, erwiderte Skratschko daraufhin und richtete sich langsam auf, „man sollte auch keinen Tag der Vergänglichkeit preisgeben, ohne etwas Lehrreiches aus früheren Zeiten zu vernehmen, in der Tat. Auch wenn es nur ein so unbedeutendes Ereignis ist, wie mein Duell mit Johnny, dem Maurer.“

      Patsch lachte laut auf. „Ja, det erzähl ruhig ma. Hatt er nämlich valorn, das Duell, unser großer Held hier.“ Dabei schlug er Skratschko so heftig auf den Rücken, dass die Rüstung laut schepperte.

      Ich zuckte leicht zusammen, denn ich erwartete eine lautstarke und zornige Zurechtweisung Patschs. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen senkte Skratschko den Kopf und stützte die Stirn mit den Fingern seiner rechten Hand ab.

      „Ja, Patsch hat recht“, sagte er mit schwerfälliger Stimme, wobei das Zucken seines rechten Mundwinkels die Schnurrbarthälften besonders stark wippen ließ. „Auch ich, mein Sohn, habe in meinem Leben Niederlagen verkraften müssen. Ich habe dieses Duell – verloren. Doch sollte dies auch beschämend für den unvergleichlichen Skratschko sein, noch beschämender wäre es, alleine dem berechtigten Stolz zu huldigen und diese Niederlage zu verheimlichen. Darin, wie man zu seinen Niederlagen steht, zeigt sich die wahre Größe eines edlen Geistes, in der Tat.“

      Skratschko