Hans Herrmann

Blutsbande


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koche Kaffee fürs Nachtessen. Kommst du auch?“

      Sie blickte Klaus an, doch ihr künftiger Ehemann schien sie nicht gehört zu haben. Seine blauen Augen, die mit den dunklen, halblangen und locker aus der Stirn gebürsteten Haaren und dem Bronzeton der Haut auffallend kontrastierten, schauten gedankenverloren in die Weite.

      „Hallo, Klaus.“

      Er schreckte hoch. „Entschuldigung. Was ist?“

      „Dasselbe wollte ich gerade dich fragen. Was ist?“

      Klaus blickte Kathrin an, dann schweifte sein Blick wieder in die Ferne, schliesslich wieder zu Kathrin. Er seufzte, erhob sich, dehnte seine schlanken Glieder und trat mit Kathrin in die Wohnung.

      Dann, endlich, setzte er zu einer Antwort an.

      „Ich freue mich sehr auf unsere Hochzeit, Kathrin. Es ist nur so, dass dem Fest noch etwas im Weg steht. Eine Kleinigkeit, würdest du sagen, aber mir liegt es schon seit einiger Zeit schwer auf dem Magen. Jetzt sollte ich es endlich angehen.“

      Kathrin blickte Klaus besorgt an.

      „Was ich als Kleinigkeit betrachte und was nicht, kannst du mir überlassen, mein Lieber. Was ist es? Musst du dich zuerst noch von einer Ehefrau mit Kindern irgendwo in Amerika scheiden lassen oder wie oder was?“ Kathrin hatte scherzhaft klingen wollen, aber es klang schärfer als beabsichtigt.

      Klaus war dies nicht entgangen. „Keine Bange, ich habe keine Altlasten zu verbuddeln“, beschwichtigte er. „Die Sache liegt anders. Komm, setz dich, ich erkläre es dir.“

      Er und Kathrin setzten sich auf zwei lederne Designer-Polsterstühle, die sie in einer Brockenstube erstanden hatten und die gut in die heimelige Atmosphäre der holzgetäfelten Lehrerstube passten.

      „Jetzt bin ich aber mal gespannt“, sagte Kathrin.

      „Du weisst ja, dass unsere Familie ursprünglich von deutschem Adel ist“, begann Klaus.

      „Ja, natürlich, mitsamt Schloss, das jetzt dir gehört und das wir noch nie besucht haben“, antwortete Kathrin.

      „Das holen wir nach, schliesslich soll unsere Hochzeitsreise dorthin führen“, sagte Klaus. „Aber das Schloss ist nicht das Problem. Sondern ein alter Brauch unserer Familie. Bei uns ist es Sitte, die nächsten Verwandten, das heisst Eltern, Grosseltern und Geschwister, um Erlaubnis zu fragen, bevor man heiratet.“

      „Höre ich recht? Du willst allen Ernstes fragen, ob du mich heiraten darfst? Also bitte. Du mit deinen neunundzwanzig Jahren bist ja längst volljährig.“

      „Darum geht es nicht.“

      „Worum dann?“

      „Um den Familienbrauch. Es ist mir wichtig, dieser Überlieferung nachzuleben, weil ich glaube, dass sonst kein Segen auf unserer Ehe liegt. Das mag etwas seltsam klingen, aber so ticke ich nun einmal. Ich bin kein rein rational gesteuerter Mensch. Bei mir hat es auch Platz für Emotionen, Träume, Glauben und meinetwegen Aberglauben.“

      „Ich weiss, Klaus. Das macht dich ja gerade so interessant und liebenswert. Dann frag also deine Leute. Das heisst, du brauchst ja nur deine Schwester Mona zu fragen, alle anderen, die noch leben, gehören nicht zu deinen engsten Verwandten. Und Mona dürfte kaum etwas dagegen haben. Sie und ich, wir verstehen uns ja ausgezeichnet.“

      „Mona habe ich natürlich schon längst gefragt. Und klar, sie ist mehr als nur einverstanden. Sie sagt, eine bessere Schwägerin als dich könne sie sich nicht verstellen.“

      „Dann ist ja alles in bester Ordnung.“

      Klaus schüttelte langsam den Kopf. „Eben nicht. Und das ist das Problem. Ich habe ja auch noch einen Bruder.“

      „Ja, du hast es mir erzählt. Er ist aber ebenfalls gestorben, im Alter von zwanzig Jahren. Auch das hast du mir erzählt. Warum sprichst du von ihm, als würde er noch leben?“

      Klaus atmete hörbar ein und aus. „Gestorben? Wenn es bloss so einfach wäre. Man sagt, er sei gestorben, ja. Für mich ist er aber nach wie vor nur verschollen, nicht verstorben. Man hat seinen Leichnam nie gefunden. Solange auch nur der Hauch einer Möglichkeit besteht, dass er noch lebt, will ich ihn mir nicht tot vorstellen. Was wiederum heisst, dass ich alles daran setzen muss, ihn zu finden. Tot oder lebendig. Lebt er noch, muss ich ihn fragen, ob ich dich heiraten darf. So will es der Brauch.“

      Kathrin schwieg betreten. Sie wusste kaum, was sie darauf antworten sollte. Schliesslich fasste sie sich und sagte: „Ich achte deine Wünsche, Klaus. Aber was ist, wenn du deinen Bruder nicht findest? Können wir dann nicht heiraten? Ich meine – es ist bloss eine Familientradition, kein Gesetz. Manchmal muss man alte Zöpfe abschneiden. Bei euch hat sich ja auch sonst schon viel verändert. Deine Eltern sind von Deutschland in die Schweiz gezogen, du selber bist hier geboren und nennst dich nicht mehr Klaus von Helmstedt, sondern einfach Klaus Helmstedt. Lass die Toten ruhen und wende dich dem Leben zu, deiner Zukunft – unserer Zukunft. Höchstwahrscheinlich ist dein Bruder tot. Die Polizei hat damals ja alles unternommen, um den Verschwundenen zu finden. Was die Spezialisten mit ihren Mitteln und Methoden nicht vermochten, wirst du jetzt wohl auch nicht fertigbringen.“

      „Ich wusste, dass du so reagieren würdest, und du magst vielleicht sogar recht haben“, erwiderte Klaus. „Aber ich bleibe dabei: Manfred muss gefunden werden. Ich lasse nicht locker, bis ich weiss, was mit ihm passiert ist. Die Polizei hat sich damals nicht gerade ein Bein ausgerissen. Für sie stand schnell einmal fest, dass er an einem unwegsamen Ort verunfallt sein musste und dabei zu Tode kam. Auch von möglichem Suizid war andeutungsweise die Rede. So einfach will ich es mir aber nicht machen. Ich will es genau wissen.“

      „Und wie willst du das anstellen? Lehrer Helmstedt, der Amateurdetektiv.“ Kathrin tönte leicht ärgerlich.

      „Nicht sauer werden, bitte. Diese Sache ist mir nun einmal wichtig, auch wegen uns und unserem künftigen Familienglück. Nenn es Aberglauben, wenn du willst, aber lass mich nach meinem Bruder suchen.“

      „Ich nenne es nicht Aberglauben, ich nenne es adlige Dickschädligkeit“, sagte Kathrin. Sie tönte bereits wieder versöhnlicher.

      „Das hat wenig mit unserer adligen Vergangenheit zu tun, aber viel mit Familientradition. Auf den hiesigen Bauernhöfen kennt man solche Überlieferungen ja auch. Weisst du zum Beispiel, dass der alte Habegger, der dort drüben friedlich sein Gras mäht, seit Jahr und Tag bestimmte magische Vorschriften befolgt, die er von seinen Altvorderen übernommen hat?“

      Kathrin schüttelte verneinend den Kopf.

      „Doch, er hat es mir einmal erzählt“, fuhr Klaus fort. „In seiner Familie darf man die Reisbesen nicht im Ofen verbrennen, an Sonntagen nie den Brunnen putzen und die Schuhe nicht vor dem Kirchgang fetten. Ein Kapuzinermönch bannte im frühen 18. Jahrhundert auf dem Habegger-Hof einen spukenden Geist, indem er ein Loch in den Türbalken bohrte, dieses mit Tierhaaren stopfte und mit einem Zapfen verschloss. Danach erlegte er dem damaligen Hofbesitzer, einem von Habeggers Vorfahren, die drei Regeln auf. Seither sei der Hof nie mehr von Geisterspuk und Viehseuchen heimgesucht worden, behauptet Habegger.“

      „Behauptet er“, sagte Kathrin. „In Wahrheit hat die Familie doch wohl einfach nur Glück gehabt. Mit und ohne magische Tabus.“

      „Nun... Du bist zwar eine moderne, aufgeschlossene und wissenschaftlich geschulte Lehrerin, aber ganz und gar der Vernunft verfallen bist auch du nicht“, hielt ihr Klaus entgegen. „Da sind wir uns ähnlich. Ich kenne dich unterdessen zu gut. Du weisst ganz genau, dass es viele Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die wir mit unserer Schulweisheit nicht erklären können.“

      Kathrin lächelte. „Du hast ja recht. Ich weiss sogar ganz sicher, dass es Kräfte und Phänomene gibt, die sich rationalen Erklärungen entziehen. Ich habe es selber auch schon erlebt. Aber deinen Bruder findest du deswegen trotzdem nicht. Die Chancen stehen eins zu tausend.“

      „Da machst du mir aber Mut, Kathrin. Ich gehe nämlich eher von ein zu zehntausend aus. Aber ich will es trotzdem versuchen. Wenn ich bis zu den Sommerferien kein Ergebnis