Hans Herrmann

Blutsbande


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eine grosse Lücke hinterlassen. Von einem Tag auf den anderen war nichts mehr so, wie es einmal war. Das vergisst man ein Leben lang nie, und man möchte wissen, wie es dazu kam und warum es so kommen musste. Und ob es denn wirklich so hätte kommen müssen, wenn man es hätte kommen sehen und rechtzeitig eingegriffen hätte.“

      Sie nahm Klaus’ Hand und streichelte sie. So sassen die beiden ein paar Minuten wortlos nebeneinander und hingen ihren Gedanken nach.

      Auf einmal unterbrach Kathrin das Schweigen. „Ich werde dir bei der Suche natürlich helfen, so gut ich kann“, kündigte sie an.

      „Das würdest du für mich tun? Aber das ist ja höchst erfreulich! Deine Ortskenntnisse könnten mir tatsächlich weiterhelfen.“

      „Ortskenntnisse? Ich dachte, Manfred ist irgendwo in Bern verschwunden. Ihr lebtet doch damals in Bern.“

      „Stimmt. Aber Manfred ist hier verschwunden. Das heisst, im Nachbardorf, drüben in Rütimatt.“

      „Aber... Das ist ja... seltsam. Sehr seltsam. Hier in der Gegend? Und warum weiss ich als Einheimische nichts davon?“ Kathrin war ganz durcheinander. Doch plötzlich schlug sie sich vor die Stirn. „Ach ja, jetzt wird mir alles klar. Ich erinnere mich gut, ich war damals in der letzten Schulklasse. Die Zeitungen berichteten in jenem Sommer tagelang vom mysteriösen Verschwinden eines jungen Mannes in unserer Gegend, auch nationale Blätter. Man vermutete, dass er an der Sodfluh drüben bei Rütimatt abstürzte und von einer der Spalten, die es dort gibt, verschlungen wurde. Bis jetzt wusste ich nicht, dass das dein Bruder war. Man hat seinen Namen nie genannt. Welch sonderbarer Zufall.“

      „Nun, so zufällig ist das alles nicht. Wir hatten in Kühnerswald eine Ferienwohnung; von dort hierher nach Schwendiswil ist es ein Katzensprung, und von hier nach Rütimatt ist es auch nicht weit. Mein Bruder war viel mit dem Fahrrad unterwegs, einem robusten Montainbike. Ich selber gab mich mit Kühnerswald zufrieden, dort gab es für mich genug zu entdecken. Als ich mein Lehrpatent in der Tasche hatte und hörte, dass hier in Schwendiswil eine Stelle frei wurde, gleich neben meinem geliebten Kühnerswald, habe ich mich flugs beworben, denn ich wollte mich dauerhaft in dieser wunderbaren Gegend niederlassen. Was ich nun ja auch getan habe. Und niemals bereuen werde.“

      „So ist das also. Was auf den ersten Blick wie Zufall erscheint, ist logisch ineinandergefügt“, sinnierte Kathrin. „Seltsam nur, dass wir uns damals nie begegnet sind. Und was wäre, wenn auch hinter dem Verschwinden deines Bruders eine verborgene Logik steckte, die nur darauf wartet, von uns entschlüsselt zu werden? Langsam glaube ich, dass die Chancen, das Rätsel zu lösen, nicht eins zu tausend, sondern eins zu hundert stehen. Das ist nicht einmal so schlecht. Du, Klaus“ – sie richtete sich im Sessel auf, drückte die Hand ihres Verlobten fest und liess in ihrem Blick einen fast kindlichen Eifer aufblitzen – „wir finden heraus, was mit deinem Bruder passiert ist.“

      Klaus erwiderte den Händedruck. „Ja, wir finden es heraus. Zusammen schaffen wir es, da bin ich sicher. Morgen ist Freitag, da habe ich keine Zeit. Ich gehe mit meiner Klasse nach Winterthur ins Technorama. Aber am Samstag legen wir los. Mal sehen, wohin uns die Suche führt.“

      Kapitel 2

      „Da, schau, hier hat mein Vater alles aufgeschrieben.“ Klaus legte ein Dossier mit ungefähr zwanzig ausgedruckten A4-Seiten auf den Tisch. Es war früher Samstagnachmittag; Klaus und Kathrin sassen in der Stube, um mit der Suche nach Manfred zu beginnen.

      „Die Suche fängt im Kopf an, nicht im Gelände; zuerst müssen wir sichten, was bereits vorliegt, und uns dann überlegen, wie wir weiter vorgehen wollen“, sagte Klaus. „Vor zehn Jahren, als es passierte, stand der ganze Sommer bei uns nur im Zeichen von Manfreds mysteriösem Verschwinden. Mein Vater unternahm alles, um an möglichst viele Informationen zu kommen. Viel ist es trotzdem nicht; die Polizei gewährte uns keinen Einblick in die Protokolle, hielt uns aber immerhin über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden. Vater hat immer alles festgehalten, was er zu hören bekam, all die Zeitungsartikel fotokopiert und zusätzlich das Wichtigste daraus zusammengefasst. Das finden wir alles in dieser Mappe hier.“

      Kathrin begann zu blättern, während Klaus weitersprach.

      „Meine armen Eltern. Sie sind über Manfreds Verschwinden nie hinweggekommen. Dass beide so früh gestorben sind, hat sicher damit zu tun.“

      „Woran sind sie denn gestorben?“, fragte Kathrin und schaute auf.

      „Beide an Krebs. Die Wissenschaft behauptet heute zwar, dass Depressionen und Stress keinen Krebs auslösen, aber ich weiss nicht. Wer miterlebte, wie meine Eltern in Trauer versanken und dem Leben den Rücken zukehrten, bis sie drei Jahre später die Diagnose Krebs erhielten, kommt leicht zum Schluss, dass die seelische Verfassung eben doch eine Rolle spielt. Bei meinem Vater war es der Darm, bei der Mutter die Bauchspeicheldrüse. In Tat und Wahrheit war es aber wohl der übergrosse Kummer, der sie ins Grab brachte. Sie hatten sich von ihrer Trauer richtiggehend verschlingen lassen. Bei Leuten, die ihren Lebensmut verlieren, haben die tödlichen Wucherzellen leichtes Spiel.“

      Klaus deutete auf den transparenten Cliphefter. „Wir sollten bei unserer Suche vorerst mal von diesem Dossier ausgehen. Ich habe es vor Jahren bereits einige Male gelesen, gestern Abend ackerte ich es noch einmal durch. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Manfred irgendwann am Abend oder in der Nacht des 29. Juli 1998 verschwand. Es war ein Mittwoch. Man hatte ihn zum letzten Mal lebend ein paar Kilometer ausserhalb von Rütimatt im unteren Bereich des Riedgrabens gesehen. Das war ungefähr um 20.30 Uhr, als es auf den Sonnenuntergang zuging. Die Polizei vermutete, dass er die Ruine auf der Sodfluh erkunden wollte, sich in der Dunkelheit zu nahe an den Abgrund wagte, einen Misstritt tat und zu Tode stürzte. Die Gegend dort ist sehr unwegsam, und am Fuss der Felswand gibt es tiefe Spalten, in denen ein Mensch ohne Weiteres verschwinden kann. In der Nähe des Korberhauses fand man ein knappes Jahr später in einem dichten Gebüsch Manfreds Fahrrad, über und über verdreckt, verbogen, verrostet und kaum mehr zu identifizieren. Dieser Fund nahe bei der Sodfluh schien die Theorie von der abendlichen Ruinenkletterei zu stützen, und der Fall wurde abgeschlossen. Seither gilt mein Bruder offiziell als verschollen, die meisten halten ihr für tot.“

      „Du aber nicht.“

      „Nein, ich nicht.“ Klaus korrigierte sich: „Das heisst, ich kann mir durchaus vorstellen, dass er tot ist, aber ich weiss es nicht mit Sicherheit. Ganz sicher bin ich mir aber, dass er nicht beim Herumklettern auf der Ruine umgekommen sein kann.“

      „Was macht dich da so sicher?“

      „Mein Bruder war ein besonderer Mensch und hatte zuweilen verrückte Ideen, das stimmt. Aber warum hätte er die Burgstelle ausgerechnet in der Nacht erkunden sollen, wo er doch tagsüber alle Zeit dieser Welt hatte? Es waren ja Semesterferien.“

      „Du sagst ja selber, dass er manchmal verrückte Ideen hatte. Vielleicht wollte er heimlich nach dem Schatz graben, der sich der Sage nach im Sodloch verbergen soll.“

      „Das wäre ihm durchaus zuzutrauen gewesen“, räumte Klaus ein. „Aber ich glaube trotzdem nicht, dass er es in der Nacht versucht hätte. Auch tagsüber stört dich dort oben keiner. Kennst du den Ort?“

      Kathrin verneinte.

      „Ich schon“, sagte Klaus. „Einen einsameren Platz findest du im ganzen Emmental kaum. Wenn du dort graben willst, kannst du das am heiterhellen Tag tun, ohne dass dich jemand ertappt. Höchstens ein paar Füchse schauen dir dabei zu. Aber in der Nacht, da müsstest du schon einen starken Scheinwerfer dabeihaben, um effizient arbeiten zu können. Nein, Manfred war in jener Nacht nicht auf der Sodfluh, das sagt mir mein Gefühl.“

      „Erzähl mir mehr von deinem Bruder“, bat Kathrin.

      Klaus blickte an Kathrin vorbei ins Nirgendwo. „Nun, mein Bruder“, begann er. „Mein Bruder war nur ein Jahr älter als ich, aber für mich war er der grosse Bruder, das Vorbild, das Idol. Wir sahen uns sehr ähnlich und waren fast gleich gross. Am Gymnasium nannte man uns nur die Zwillinge. Manfred hatte ein Flair für alles Ungewöhnliche, Abgedrehte und Geheimnisvolle, ohne aber besonders