Magdalena Gräfenberg

Helen und die Häute der Frauen - Erster Teil: SOKO Haut


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hat das meiste schon gesichtet, am Wochenende. Er musste heute früh zu einer Sitzung bei der Staatsanwaltschaft und kommt gegen elf Uhr wieder ins Büro. Es kann sich auch verschieben. Du weißt ja, wie das so läuft.“

      „Ja, ich weiß, gegen zwölf fangen die meisten an zu verhungern. Also muss vorher Schluss sein. Das heißt, ich kann voller Hoffnung sein, dass ich bis zwölf weiß, was anliegt. Es sei denn, sie gehen noch gemeinsam zum Italiener.“

      „Der Chef weiß, dass du eigentlich auch heute noch frei hast, wegen des Schießtrainings und so weiter. Er sagte, falls wir dich sehen, sollen wir dich bitten, gleich an die Arbeit zu gehen. Bis er zurück ist, sollst du dir einen Überblick verschaffen. Er hat gesagt, du sollst das Puzzle erst einmal sortieren, Fakten zuordnen, Zusammenhänge suchen. Es gibt da wohl langatmige Berichte, wie Borhagen sich ausdrückte, ziemlich viel Erotik und auch Pornographie“, sie drehte sich ganz um und lächelte süffisant, „aber diesbezüglich bist du ja hart im Nehmen. Gut siehst du aus, in dieser Kluft, total sexy. Hoffentlich sehen dich jetzt nur wenige, sonst gibt es richtige Unruhe.“

      Helen lächelte süffisant zurück.

      „Ja, man muss ja was tun, die Konkurrenz schläft schließlich nicht. Aber wer kann, der kann. Ich weiß, ich bin in meinem Fachgebiet eben Spitze.“

      „Na ja, wenn dich Deo in dieser Aufmachung sehen würde, würde er wohl noch schärfere Phantasien entwickeln.“

      „Bitte, die Chance wird ihm heute geboten. Aber ganz so einfach lasse ich mich dann auch nicht über den Tisch legen.“

      „Wie lange ist das her mit deinem Freund, Helen?“

      „Lassen wir das, Moneypenny. Ich komme inzwischen gut ohne einen „steady friend“ aus.“

      „Also, Borhagen sagte, das ist ein alter Fall mit neuen Vorzeichen. Wir haben den Fall bekommen, weil du schon im Rahmen der Nachfolge SOKO von „Weißes Fleisch“ erfolgreich mitgemacht hast und Erfahrungen in dieser Frage gesammelt hast. Man hat sich an dich erinnert, dass du Frauenhändler aufgedeckt hast.“

      „Was soll ich jetzt mit dieser Information?“

      „Du kannst dir was drauf einbilden.“

      „Pfeifendeckel. Momentan ist es schlecht für mich.“

      „Egal, Helen. Jetzt weißt du auch schon, dass das Thema eine gewisse Brisanz hat. Von der Staatsanwaltschaft Hannover, die wohl die deutsche Federführung in diesem internationalen Fall hat, kam das Material zusammen mit dem Auftrag, der schon mit dem Chef am Freitag abgesprochen wurde.“

      „Da kam dieser verschimmelte Schrott von Akten aber sehr flott.“

      Moneypenny ließ sich nicht erschüttern.

      „Da du am Freitag einen Urlaubstag hattest, hat es dir der Chef ohne Vorankündigung heute früh auf den Tisch stellen lassen. Kein weiterer Mitarbeiter soll zunächst davon Kenntnis nehmen. Frag mich bitte nicht, warum. BH hat schon sein ganzes Wochenende zum Sondieren der Akten genutzt. Er hatte Zeit. Seine Frau war bei ihren Enkelkindern. Seit einiger Zeit auffallend oft.“

      „Wie soll ich das deuten?“

      „Es scheint erheblich zu kriseln“, flüsterte Moneypenny vertraulich. „Er fragte schon am Freitag mehrfach, wann du wieder im Hause bist.“

      „Aha“

      „Ja, aha. Er scheint dich schnell zu vermissen. Soviel dazu. Einiges aus den gesichteten Akten will er dir nachher noch besonders erklären. Er denkt, dass man eine Sonderkommission bilden muss. Du sollst dann die Koordination übernehmen. Er hat gesagt, du würdest das schon verstehen.“

      „Mag sein“, knurrte Helen. „Was ich nicht verstehe, ist, wie ich das alles vor meinem Urlaub in drei Wochen hinkriegen soll. Immerhin bin ich dann vier Wochen weg.“

      „Wenn ich es recht verstanden habe, eilt es auch wieder nicht so sehr, dass du hier im Büro übernachten müsstest. Die Opfer sind schon eine Weile tot.“

      „Also, Moneypenny, da bin ich doch schlagartig total beruhigt. Das einzig Schöne daran ist, dass ich Deo für heute absagen muss. Oder kannst du das für mich tun?“

      „Aber gerne doch. Ich höre schon förmlich die Enttäuschung deines Möchtegern-Liebhabers. Da wird er seine Hoffnung aufs Fummeln an dir etwas verschieben müssen.“

      „Nicht verschieben, endlich aufgeben! Danke Moneypenny.“

      „Andererseits, Helen, man sagt er sei ziemlich potent.“

      „So, sagt man das, Moneypenny.“ Helen hatte wenig Lust auf eine weitere Beschäftigung mit Deos Potenz. Ihr ging dazu einiges durch den Kopf.

      Mit dem neuen Fall konnte sie alle Pläne für heute absagen und musste irgendwann mit dem Schießwart einen neuen Termin vereinbaren. Obwohl, wenn sie ganz ehrlich war, so unrecht war es ihr nicht, den Termin zu verschieben. Sie war heute ohnehin nicht in der besten Stimmung, um die permanente Anmache abzubügeln. Der Typ war absolut scharf auf sie und hatte das immer wieder beim Training auf drastische Weise gezeigt. Helen fand ihn umgekehrt jedoch spektakulär abtörnend. Er war größer als der Durchschnitt, angeblich mit dem jährlichen, goldenen Sportabzeichen dekoriert. Er betonte das immer wieder und verstand diese sportliche Fähigkeit überdeutlich auf andere Aktivitäten zu lenken. Helen wollte sich seinen diesbezüglichen Hüftschwung nicht weiter vorstellen. Dabei war er mehr als nur etwas übergewichtig, mit beginnendem Haarverlust, was nicht zu seiner erhofften Attraktivität beitrug. Jedenfalls nicht bei Helen. Dann war er noch übertrieben sorgfältig uniformiert. Seine Uniform war immer frisch gebügelt und die Hemden so gestärkt, dass man sie wahrscheinlich hinstellen konnte, ohne dass sie zusammenfielen. Völlig overdressed. Seine kleine, etwas pummelige Frau, die schon mal bei Familienveranstaltungen zu sehen war, arbeitete in einer Drogeriekette und versorgte ihn mit Düften, Cremes und Rasierwasser. Gelegentlich verteilte er auch Proben an seine Kollegen, was ihm den Spitznamen „Deo“ eingebracht hatte. Zudem war er ein unerträglicher Aufschneider. Ständig betonte er, dass er ein leidenschaftlicher Jäger sei. Da es zum eigenen Revier nicht reichte, erteilte er den Mitgliedern der Jägervereine Schießunterricht, die sich dafür mit Jagdeinladungen revanchierten. Er versäumte es nicht, immer wieder von seinen Erfolgen bei jagdlichen Schießmeisterschaften und von glamourösen Jagdeinladungen zu reden. Er war sehr von sich eingenommen und hielt sich für unwiderstehlich. Beim Schießtraining suchte er den Körperkontakt. Er fand immer einen Grund, Helens Haltung zu verbessern, indem er ihre Schultern drehte und das Kippen der Hüfte beim beidhändigen Feuern manuell korrigierte. Keiner aus der Gruppe wurde so häufig korrigiert wie Helen. Die anderen beobachteten das und grinsten regelmäßig verwundert über Deos unverdrossene Anmache. Als er das mitbekam, gab er Helen immer Termine am Ende des Trainings. Beim Einzeltraining mit ihrer Dienstwaffe und auch mit der MP musste sie dann wieder sehen, wie sie sich ihn vom Leibe halten konnte. Wenn er hinter ihr stand und ihre Arme zum Zielen stabilisierte, drückte er sich unverfroren gegen sie, um ihr zu zeigen, was er noch weiter von ihr wollte. Sie ignorierte diese plumpen Vorstöße. Abwehrversuche wären in diesem Fall schon zu viel der Ehre gewesen. Sie hatte das Gefühl, dass er bei jedem Training mit ihr zunehmend an Distanz verlor. Dauernd hatte er auch neue Zoten parat. Er fand immer eine Gelegenheit, seine Sprüche loszuwerden. Anschließend wollte er Helen, ungeachtet ihrer ständigen Ablehnungen, immer noch auf ein Bier einladen, was Helen jedoch regelmäßig erfolgreich abbiegen konnte.

      Jetzt standen da für sie zwei der alten, hässlichen, aber stabilen und stapelbaren Kisten bereit, die verwendet wurden, wenn die Aktenlage zu mächtig wurde. Die Post hatte die gleichen grauen Kisten. Oben auf jeder Box lag die Inhaltsliste. Sie stellte die Boxen auf den Boden, setzte sich an ihren Schreibtisch und ließ ihren Ärger über die unerwartete Aktenfülle erstmal abklingen. Sie schaute auf ihr persönliches Arrangement von kleinen Erinnerungen an außerordentlich nette Erlebnisse. Da war eine Eintrittskarte der Tate Gallery neben einer des Grünen Gewölbes in Dresden. Oder eine Karte für eine Kahnfahrt im Spreewald neben einer Konzertkarte der Wagner-Festspiele in Bayreuth und einer Eintrittskarte für das Museu de l`Erotica, Barcelona. Sie ärgerte sich immer ein wenig, wenn sie diese Karte sah, weil