Magdalena Gräfenberg

Helen und die Häute der Frauen - Erster Teil: SOKO Haut


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hatte dazu ein kleines Fest mit einigen Kollegen in seinem Dienstzimmer organisiert und sie bei dieser Gelegenheit coram publico „verpflichtet“, weiter Vorlesungen an der Polizeischule zu halten. Daneben arbeitete sie jetzt mit Borhagen an einer Dokumentation über die Wege des Frauenhandels aus Schwarzafrika nach Europa und die Bedeutung des muslimischen Nordens von Afrika für diese Handelsroute. Unter dem Arbeitstitel „Schwarzes Fleisch“ hatte sie schon Hinweise gefunden, dass korrupte Polizeistrukturen existierten, die den Handel mit überwiegend minderjährigen, schwarzen Mädchen in Deutschland und den östlichen Anrainerstaaten ermöglichten oder wenigstens nicht unterbanden. Das Thema war so brisant geworden, dass Borhagen beschlossen hatte, es strikt geheim zu halten. Nur er und Helen waren involviert.

      Artur Borhagen, Ritter von Chremski, Jahrgang 1950, war nur wenige Jahre von dem Beginn seiner Pensionierung entfernt. Er war verheiratet, hatte keine eigenen Kinder, aber einen Garten. Die Enkelkinder stammten von den Kindern aus der ersten Ehe seiner Frau. Er galt als erfolgreicher Charmeur, aber niemand wusste so recht, worauf sich dieser Ruf gründete. Der einzige Fingerzeig war Helen, seine Entdeckung und seine Assistentin. Er pflegte jedoch, einer alten Regel gehorchend, nicht im eigenen Revier zu wildern. Helen fand in Borhagen einen Mentor und aktiven Verfechter für die Chancengleichheit der Frau im Polizeibetrieb. Borhagen war der Ansicht, dass Intelligenz auf beide Geschlechter gleichmäßig verteilt war. „Sonst wäre die Menschheit schon längst ausgestorben“, so seine Meinung, auch wenn er eingrenzte, dass die fantastische Reproduktionsmaschine Frau eben sehr breit ihren Beitrag abliefere, wie man noch heute bei vielen Ethnien sehen könne. Er war der Ansicht, dass man die differenzierte Denkweise der Frauen besser und sinnvoll nutzen sollte. Das hieß aber nicht, dass er nicht auch über Blondinen-Witze lächeln konnte.

      Borhagen, von Mitarbeitern gerne auch kurz „BH“ genannt, allenthalben mit leichtem Lächeln oder Grinsen bei der ihm bekannten Abkürzung seines Namens, hatte das Bildmaterial an sich genommen. Damit hatte er sich für das Strohwitwer-Wochenende durchaus etwas Entspannung gegönnt, dachte Helen mit schiefem Grinsen beim Gedanken an die Titel der Videos und die neuen Informationen von Moneypenny, dass seine Ehe kriseln sollte. Er würde, falls er tatsächlich das ganze Material sichten wollte, am Montag nicht nur mit eckigen Augen erscheinen. Weiteres wollte sie sich nicht genauer ausmalen. Sie kannte ihren Chef ja aus vielen gemeinsamen SOKOs und Studien. Borhagen war ein pragmatischer, psychologisch geschulter, forensischer Kriminalist. Borhagen wollte als erster das Bildmaterial sichten, sich einen Eindruck verschaffen und vor allem vorbereitet sein. Sich einen gewissen Vorsprung zu schaffen, war eines seiner Arbeitsprinzipien. Das Material war also brisant und versprach, interessant zu werden, folgerte Helen.

      Borhagen hatte dazu auf einem zweiten Briefbogen geschrieben, und Helen fragte sich, wieso er nicht das Intranet benutzt hatte. Soweit ihr bekannt war, hatte er von zu Hause aus auch Zugriff. Das hatte doch wieder besondere Gründe, mutmaßte sie.

      „Hallo Helen, wir haben den Auftrag, diesen Mordfall von unserer, von deutscher Seite aus, zu betrachten und auch die mögliche Verwicklung eines gewissen Dr. Hagen von Eynim in diesen Fall zu prüfen.“

      Aha, dachte sie, nix mit Spaß bei Pornos. Mord. Oder vielleicht doch. BH war schließlich kein Kind von Traurigkeit. Wer ist dieser Doktor? Sie war im Begriff, das Pferd von Hinten aufzuzäumen.

      „Viele Fäden laufen hier und bei ihm zusammen. Um weiter zu kommen, müssen die Beziehungen der Einzelnen zueinander geklärt werden. Es sollen dabei, falls das erforderlich erscheint, Profile der Beteiligten erstellt werden. Entwerfen Sie bitte dazu auch ein Diagramm der Beziehungen aller Beteiligten zueinander und dann in Beziehung zu Dr. von Eynim. Wir sichten dann eventuell schon am Mittwochabend in einer „open end“ Besprechung das restliche Bildmaterial. Restlich deshalb, weil ich Ihnen vorab und alleine die Kassette mit dem Titel „Die Häutung“ vorführen und Ihre Meinung dazu hören möchte. Anschließend treffen wir uns am Donnerstag zur Analyse des gesamten Bildmaterials, wenn sich alles etwas gesetzt hat. Das heißt, jeder von uns wird eine schriftliche Stellungnahme abgeben, für die Akten. Es gibt eine weitere, kleine Arbeitsrunde am Freitag ebenfalls „open end“. Ich möchte dann eine Zielrichtung haben und Vorschläge für das weitere Procedere. Danach wird, so nehme ich an, alles wieder in einen normalen Rhythmus übergehen. Wie immer, machen Sie bitte auch dieses Mal eine Zusammenfassung der zu lesenden Stoffmenge mit wichtigen Zitaten, wenn Sie es für nötig halten. Ich habe schon vorgesichtet und Marker an Stellen gesetzt, die mir wichtig vorkamen. Sie sollten dennoch alles genau lesen. Aber noch etwas, Helen, Sie haben freie Hand, sich vertrauenswürdiger Hilfe zu bedienen. Das Weitere mündlich. Wir brauchen Hinweise auf unsere Zielpersonen im Internet, also auch eventuell bei Facebook und anderen sozialen Netzwerken. Auch der Nachweis weiterer oder ähnlicher Snuff-Videos ist wichtig, denn von der Budapester Polizei habe ich soeben aktuelle Hinweise erhalten, dass weiteres Material im Internet kursiert. Hinweise auf einige weitere vermisste junge bzw. minderjährige Frauen aus der Porno-Szene bzw. Escort-Service-Szene in der Ukraine, Ungarn und Rumänien sowie über Frauenhandel, der teilweise aus der Ukraine und Rumänien über Ungarn und Polen nach Deutschland läuft. Daneben sind auch die Hinweise aus der „Schneiderei“ von Bedeutung.“

      Jetzt musste sie einen Moment pausieren. Hatte sie richtig gelesen? Stand da wirklich „Snuff-Video“? Das wäre eine reine Sensation. Solche Videos hatten sich bisher immer als Fälschungen erwiesen. Allerding schien sich dies mit dem Aufkommen der islamistischen Terroristen geändert haben. Sie las weiter.

      „Unsere erste Maßnahme zielt allerdings auf Dr. von Eynim. Ich weiß nicht, ob all die pornographischen Biographien und Briefe von Wichtigkeit sind, aber gelesen und referiert werden müssen sie wohl. Es könnte sein, dass dort Hinweise zu finden sind. Sie werden ja selber sehen. Fassen Sie also alles Wesentliche knapp zusammen, Zitate wenn nötig. Wichtig sind nur, glaube ich, die enthaltenen Hinweise auf Querverbindungen. Stellen Sie ein Diagramm auf. Achten Sie besonders auf die Analysen der DNA und der Fingerabdrücke. Ihre Aufgabe wird es auch sein, DNA-Spuren und Fingerabdrücke aller Personen zu sichern, mit denen Sie im Rahmen Ihrer Ermittlung Kontakt aufnehmen. Es wirkt alles sehr verwirrend. Ich denke, das kann ziemlich spannend werden, da noch einiges Material ohne Zuordnung im Archiv der Ungarn schlummert. Da könnten Überraschungen vorprogrammiert sein, wenn ich schon mal das Statement der Ungarn zu den bisherigen Analysen würdige.“

      Da hätte er doch gleich sagen können, arbeiten Sie einfach alles auf und machen Sie eine Statistik von jeder nur möglichen Fragestellung. Helen war etwas angefressen. Nachdem sie das jetzt gelesen hatte, hatte der Fall auch genau den Titel, der sich durch das Video anbot: „SOKO Haut“. Was er ihr mündlich sagen wollte, ahnte sie schon. Sie würde freie Hand haben, Raul mit der Bitte um Hilfe bei fast unlösbaren Aufgaben zu beknien. Wahrscheinlich hatte er noch weitere Hintergrundinformationen, die er nicht über das Intranet zugänglich machen wollte.

      Nach ihrer Kaffeerunde machte sich Helen jetzt mit ihrem Wasserkocher heißes Teewasser. Zum letzten Mal für ihren täglichen grünen Tee, der im Laufe des Tages kalt werden würde. Sie hatte schon länger beschlossen, diese Gewohnheit aufzugeben, nachdem sie gelesen hatte, dass ein Pilzbefall des so hoch gelobten grünen Tees nicht auszuschließen sei. Jedoch, wie es mit alten Gewohnheiten war, man trennte sich nur zögerlich.

      Da sie jetzt schon wusste, dass sie einem Doktor von Eynim auf den Zahn zu fühlen hatte, ging sie mit einer gewissen Spannung an den eigentlichen Fall heran. Sie verteilte die Fülle der Aktenbündel mit den vielen Fotos und Dokumenten chronologisch und war total beeindruckt davon, dass Borhagen wohl schon alles durchgearbeitet hatte. Unendlich viele bunte Markierungsfähnchen schauten oben und seitlich aus den Akten. Sie fühlte sich fast schon unmoralisch von ihrem Chef unter Leistungsdruck gesetzt.

      Die Aktenlage

      Helen ging an die Arbeit. Borhagen hatte, wie er es immer tat, auch diverse

      Post-it Zettel eingeklebt mit jeder Menge Randbemerkungen.

      „Meine Fresse“, grummelte Helen. Borhagen hatte ja wirklich schon alles akribisch durchgesehen. Musste ja gedauert haben und nebenbei auch noch wirklich interessant gewesen sein, sonst hätte er es zum Vorchecken erst einmal weiter gegeben. Immerhin hatte er drei Tage zur Verfügung. Hatte sein „einsames“ Wochenende drangegeben, statt im Garten zu arbeiten.

      Sie