Henning Plähn

Ertrunken


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Erinnerungen dabei zurückkehren, desto größer wird das Feld, auf dem ich mein damaliges Sein ergründen kann. Jede Erinnerung birgt Anhaltspunkte, denen ich auf der Suche nach mir selbst nachgehen kann.

      Leider sind die Erinnerungen meiner Eltern dabei weit weniger aufschlussreich als meine eigenen. Irgendwie wissen meine Eltern immer nicht, um was es mir eigentlich geht, wenn ich sie über die Vergangenheit befrage. Und wahrscheinlich konnte ich auch schon als Kind nicht mit ihnen über meine Gedanken reden, so dass in mir eine eigene Welt entstand, die ich erst jetzt langsam zu erschließen beginne. Wenn mir aber jetzt bewusst wird, was ich damals vor ihnen verborgen hielt, was sie also folglich auch gar nicht wissen können, so ist es mir nach wie vor nicht möglich, mich mit ihnen über meine Welt zu unterhalten. Sie würden es immer noch nicht verstehen. In ihrer Welt ist irgendwie kein Platz für die Erlebnisse meiner Kindheit. Nichtsdestotrotz sind unsere Gespräche aber durchaus hilfreich. So erfuhr ich vorhin, als ich meine Mutter auf die Ferienfreizeit mit dem Sportverein absprach, immerhin, dass ich damals wohl zwölf Jahre alt gewesen sein muss.

      Ich war damals im Umgang mit Menschen nicht sehr geübt, hatte keine Freunde und war sehr verschlossen, fast menschenscheu. Das war wohl auch der Grund, weshalb ich mit all den anderen Kindern des Dorfes meinen Urlaub verbringen sollte. Diesen Gedankengang unterstelle ich jetzt einfach meinen Eltern. Ob sie wirklich so dachten, weiß ich nicht, und ich werde es auch nie erfahren. Meiner gesellschaftlichen Unzulänglichkeit auf jener Reise bin ich mir aber um so sicherer, denn es lösen sich jetzt, da ich an jene Tage zurückdenke, so viel einzelne kleinere Erlebnisse, und ich muss aufpassen, mich nicht in Nebensächlichkeiten zu verlieren, schließlich geht es mir hier nicht um die Reise an sich, wie es auch nicht um meine Eltern geht. Es geht hier einzig um meinen ersten Kontakt mit Mädchen. Dennoch möchte ich zusammenfassend sagen, dass mir die Erinnerung an jene Tage insgesamt eine Beklemmung bereitet, die ich nicht wirklich unter Kontrolle bekomme.

      Es war auf den Ausflügen des Sportvereins gute Sitte, dass sich vor der Bettruhe auf dem Flur oder in den Zimmern eine gute Nacht gewünscht wurde. Ein Gute-Nacht-Küsschen gehörte dabei zum guten Ton. Ich kann mich nicht erinnern, jemals vorher einem Menschen einen Kuss gegeben zu haben. Als es zum erstenmal zu der abendlichen Zeremonie kam, hatte ich Angst vor dem Unbekannten. Ich wollte nicht mitmachen, verkroch mich unter meiner Bettdecke und wünschte, allein zu sein. Eine Betreuerin ließ jedoch nicht locker. Ich muss ihr heute noch dafür dankbar sein, dass sie sich so viel Mühe mit mir gab. Sie redete besänftigend auf mich ein und zog mir langsam die Decke weg. Zu dem Kuss selbst musste ich dann nicht mehr lange überredet werden, weil sie mein volles Vertrauen erweckt hatte. Ich war neugierig auf das, was sie mit mir vorhatte und genoss auch die Aufmerksamkeit, die sie mir entgegenbrachte. Sie küsste mich zärtlich auf die Wange. Mein erster Kuss war somit schließlich für mich ein positives Erlebnis. Danach blieb ich zwar im Bett liegen, freute mich aber schon darauf, am nächsten Abend wie all die andern herumzulaufen und Küsse zu sammeln.

      So war es dann auch. Ich war ein fleißiger Sammler. Es war für mich eine Sache, die ich zu Hause nie erlebt hatte, die ich aber unendlich toll fand. Natürlich waren es keine erotischen Küsse, sondern nur familiäre, größtenteils auf die Wange. Ich beobachtet aber, wie zwei Ältere sich darüber unterhielten, es mit der Zunge zu machen. Das war aber noch nichts für mich. Trotzdem reizte es mich, meine neue Leidenschaft intensiver auszuleben, als ich schon eine gewisse Routine im Küssen entwickelt hatte.

      Das größte Mädchenzimmer lag am Ende des Flures. Der ganze Flur, den man sich entlang küsste, war somit nur der Weg in dieses Zimmer. Ich weiß noch, wie froh ich war, als ich eines Abend das Zimmer betrat. An diesem Abend war hier am meisten los gewesen und ich fiel nicht weiter auf. Ich stellte mich in die Nähe eines Mädchens, dass für mich das schönste, reizvollste war und wartete meine Chance ab. Dabei beobachtete ich das herrschende Treiben. Als meine Auserwählte einen kurzen Moment unbeschäftigt war, ging ich zu ihr und wünschte ihr eine gute Nacht.

      Und mit diesem Mädchen hatte ich dann das Erlebnis, dass mich ausgerechnet jetzt alles bisherige erzählen lässt.

      Es war an einem Abend eine Disco angesetzt. Wir hatten den Keller des Jugendhauses, in dem wir untergebracht waren, am Tag hergerichtet und ich war schon reichlich gespannt, was mich erwarten würde. Ich war natürlich mit meinen zwölf Jahren noch nie in einer Disco gewesen, wusste nur vage aus dem Fernsehen, wie die so aussieht. Als es dann so weit war, beobachtete ich die Älteren, die schon Partys dieser Art mitgemacht hatten. Sie unterhielten sich und einige tanzten auch. Ich saß mit ein paar Jungs meines Alter auf einer Bank an der Tanzfläche. Ich hatte ein verwaschenes T-Shirt, billige Jeans und billige, bunte Turnschuhe an.

      Mein Äußeres kann ich mir deshalb so gut vorstellen, weil es ein Bild von mir gibt, dass ungefähr zu der Zeit aufgenommen wurde. Wie viel Zeit zwischen dem Foto und meinem ersten Discoerlebnis liegt, konnte selbst meine Mutter vorhin nicht nachvollziehen. Dennoch denke ich, dass ich an dem Abend so wie auf dem Foto ausgesehen haben muss, vielleicht sogar die gleiche Kluft anhatte, weil ich meine Lieblingsklamotten auch heute noch über Jahre hinweg trage, bis es wirklich nicht mehr geht.

      Ganz sicher bin ich mir jedoch bei den Schuhen, weil ich mich erinnern kann, sie an dem Discoabend immer angesehen zu haben, wenn ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden oder aber dabei ertappt worden zu sein, wenn ich jemanden beobachtet hatte. Ich hatte nicht gewusst, wie ich mich sonst hätte verhalten sollen. Ich erinnere mich an dunkelblaue Turnschule mit roten Steifen, wie ich sie auf dem Bild trage.

      Das alles lässt mich zu dem Schluss kommen, dass ich an dem Abend wohl recht ansprechend, wenngleich zeitweise auch verschüchtert ausgesehen haben muss. Die Jungs neben mir müssen wohl ähnlich dagesessen haben, denn schließlich wurden wir alle kollektiv von einer Gruppe Mädchen zum Tanzen aufgefordert. Auch wenn ich als Gruppenzugehöriger zum Tanzen aufgefordert wurde, so war ich trotzdem überzeugt, dass meine Tanzpartnerin sich von mir angezogen fühlte, denn es war sie, die ich schon seit Tagen so liebenswert fand und die ich geküsst hatte. Für mich war sie die schönste Frau der Welt, wahrscheinlich war sie für mich die einzige Frau. Ich hatte nach dem Tanz nur noch Augen für sie und hatte mir schon überlegt, ihr ein Eis zu kaufen, um mich ihr zu nähern. Aber zum Glück war ich damals zu schüchtern, um den Plan in die Tat umzusetzen.

      An weitere Begebenheiten mit ihr kann ich mich nicht erinnern und glaube daher, dass ich ihr auf der restlichen Fahrt aus dem Weg ging. Ich hatte an dem Abend meine Leidenschaft wohl gerade noch so besiegt, und wollte wahrscheinlich die Wunden nicht wieder aufplatzen lassen, die der harte Kampf in mir hinterlassen hatte. Dass es damals sehr weh tat, weiß ich schon deshalb ziemlich genau, weil ich auch heute noch häufig unter meiner Leidenschaft leide, wenn ich mich zu einer Frau hingezogen fühle. Jedoch führe ich derartige Kämpfe mit mir nicht mehr so hart und bin schnell in der Lage, meine Sehnsüchte zu unterdrücken, weil ich mittlerweile von der Vernunft stark beeinflusst bin und Verhaltensmuster entwickelt habe, nach denen ich mich richten kann, ohne verletzt zu werden.

      Wenn ich jetzt so über das alles nachdenke, weiß ich eigentlich gar nicht, was ich da stets unterdrücke. Zwar denke ich, dass es die Liebe ist, weiß aber hierüber eigentlich nichts zu sagen. Ich glaube, sie ist mehr als sich zu jemandem hingezogen zu fühlen. Es ist viel wichtiger, es bei dem Menschen dann auch aushalten zu können. Wenn ich überlege, zu wie vielen Mädchen ich mich schon hingezogen fühlte, wie oft ich schon verliebt war, erscheint es mir jetzt eher so, dass es im Grunde alles nur Möglichkeiten waren, mit einem Mädchen zusammen zu kommen. Leider jedoch nie ein Zusammensein, an das ich mich erinnere, weil ich es genossen hätte. Keine wirkliche Liebe.

      Die Erkenntnis, dass man im Grunde erst nur Möglichkeiten nachgeht, bevor man wirklich liebt und mit jemandem wirklich gerne sein Leben teilt, erscheint mir als unbestreitbar. Manche Menschen erkennen im jetzigen Zeitalter der Selbstverwirklichung ja auch erst Jahre später, dass sie die Möglichkeit, die sie die ganze Zeit verfolgten, nicht genutzt haben und ihren Partner nicht lieben. Die Scheidungen und Trennungen geben mir Recht. Andererseits zeigen die vielen Singlehaushalte, dass die Suche nach der idealen Partnerschaft mit zu viel Risiko und Aufwand verbunden ist und man daher lieber einige Möglichkeiten ungenutzt verstreichen lässt. Man hat sich im Laufe der Jahre so viel mit dem Thema beschäftigt, dass man schon von vornherein die Chancen der Möglichkeiten abzuschätzen gelernt hat und auf die günstigste wartet, um